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Dorian

25. Oktober

Hölle

Der Mensch sackte zu Boden, wahrscheinlich war er tot. Am Ende waren Menschen nicht dafür gemacht, die Präsenz eines Engels zu verstehen oder gar auszuhalten. Selbst Dorian fiel es manchmal schwer, die vollkommene Gestalt seines Meisters zu ertragen.

Das Licht dimmte auf ein erträgliches Maß herab und Luzifers Form wurde hinter dem Licht sichtbar. Sein Blick ruhte auf Dorian, hielt ihn zu Boden gedrückt und legte ihn offen wie ein Buch. Seine Stimme hallte Dorian mit seinen eigenen Gedanken durch den Kopf. »Du kannst gehen.«

Er nickte und beeilte sich, auf die Beine zu kommen, auch wenn Luzifers Aura ihm weiterhin das Knien befahl. Kaum, dass er stand, verfing er sich in seinem Mantel, stolperte rückwärts und prallte rücklings gegen die geschlossene Tür. Mit Mühe verkniff er sich eine gemurmelte Entschuldigung, schließlich sollte er längst nicht mehr hier sein, aber…

Die gesamte Szene zog seinen Blick wie magnetisch an. Bis jetzt hatte Dorian seinem Meister noch nie einen Menschen bringen müssen und hätte es auch heute nicht, wenn er nicht so verflucht unvorsichtig gewesen wäre. Anstelle zur Tür zu gehen hätte er einfach nur in die Hölle verschwinden müssen. Stattdessen hatte die Neugier gewonnen und flüsterte ihm nun erneut ins Ohr, wie sehr er insgeheim herausfinden wollte, was als nächstes geschah.

Von einem flimmernden Licht umhüllt hielt Luzifer den leblosen Körper des Menschen im Arm, murmelte unverständliche Worte vor sich hin. Dorian wollte sich damit zufriedengeben und endlich verschwinden, als sein Meister erneut die Augen öffnete. Ein goldenes, heißkaltes Glühen ging von ihnen aus, wie alles an ihm. Dämonen nannten ihn den Lichtbringer.

Die Neugier setzte sich durch. Dorian verharrte in seiner Position und schaute zu, wie Luzifer dem Menschen buchstäblich in den hintersten Winkel seiner Seele schaute, bis sich Schweißtropfen auf der Stirn des Engels bildeten. Nie hatte er auch nur ansatzweise so angestrengt ausgesehen.

›Was tut Ihr?‹, fragten Dorians Gedanken. Er wollte sich schlagen dafür. Hätte er das wissen müssen, wäre es ihm gesagt worden. Was war los mit ihm, warum stand er immer noch hier?

Ein Flügelschlag, das Licht zuckte flackernd durch den Raum. Dorian fuhr zusammen und stolperte rückwärts, als ihn eine Schockwelle erfasste und erneut an die Wand drückte. Seine Flügelspitzen schürften über den steinernen Boden, die empfindliche Haut riss auf und so sehr Dorian sich auch beherrschen wollte, er musste einen erstickten Schrei von sich geben.

Zwischen Tränen in den Augen schaute er wieder in den Raum hinein, obwohl er das schon längst nicht mehr wollte, und dieses Mal blieb ihm beinahe das Herz stehen.

Der Mensch in den Armen seines Meisters trug Flügel. Ungelenk und zitternd spreizte er sie in einem schmerzhaft anmutenden Winkel vom Körper ab, als könnte er kaum mit ihnen umgehen. Schwarze Federn umgaben ihn, die Dorian nur zu gut kannte, denn es könnten seine sein.

Mit einem erstickten Atemzug schlug der Mensch die Augen auf, blutrot statt braun. Die Haut sah blasser und glatter aus als gerade noch, wie sorgfältig aus Stein gemeißelt.

»Nein.« Dorian bemerkte nicht, wie er das Wort laut sagte und zuckte zusammen, als seine Stimme aus dem Nichts zu ihm sprach. Luzifers Präsenz wog immer schwerer auf ihm. Warum war er noch hier?

Mit dem Rücken zu Wand richtete sich Dorian auf, ging einen zaghaften Schritt Richtung Tür, sie öffnete sich von allein. ›Sieh nicht hin‹, versuchte er sich zu sagen, während sein Blick wieder und wieder an der Person, die doch ein Mensch sein sollte, hängenblieb. Flügel wie er. Augen wie Luzifer.

›Verschwinde endlich von hier!‹

Dorian spürte eine aufkeimende Wut um sich herum, die nicht seine war. Er erwischte sich bei der Hoffnung, dass Luzifer ihn im Affekt umbrachte, dann müsste er nicht mehr nachdenken. Aber ein schneller Tod wäre gnädig, und so eine Strafe wartete mit Sicherheit nicht auf ihn.

Mit aller Kraft riss er sich von dem Anblick los, drehte sich um und rannte. Er vergaß den Abhang draußen, rutschte an der Felskante ab und fiel mehrere Meter tief, bevor er sich in der Luft fing und einigermaßen sanft am Fuß des Gebirges landete. Kaum, dass er auf festem Boden stand, gaben seine Knie nach und er sackte in sich zusammen, schürfte sich Hände, Ellbogen und Knie auf. Der Schmerz holte ihn zurück in die Gegenwart, raus aus diesem Raum, in dem Luzifers Licht noch immer bis nach draußen schien.

›Wie kann ein Mensch Flügel haben?‹

Der Gedanke setzte sich fest, ehe Dorian es verhindern konnte. In seiner Verzweiflung holte er aus und schlug sich selbst mit der flachen Hand ins Gesicht, doch das förderte nur noch mehr Fragen zutage. Je mehr er sie zu verdrängen und vergessen versuchte, desto höher türmten sie sich auf und begruben ihn unter sich, bis er zusammengekrümmt auf dem kochend heißen Boden lag. ›Wie kann ein Mensch aussehen wie ich? Was hat Luzifer mit ihm gemacht, dass… Was macht er jetzt noch mit ihm?‹

Dorian schlug sich noch einmal, als ein furchtbarer Verdacht in seinen Verstand kroch, doch es half nicht. Ihm wurde nur schwindelig und kurz darauf übel. ›Und wer bin ich dann?‹

Allein der Gedanke fühlte sich wie Verrat an seinem Meister an. Dorian zwang sich, ruhig zu atmen.

›Luzifer lügt mich nicht an‹, dachte er, wischte sich die Tränen weg und suchte Trost in dieser Tatsache. ›Er sagt mir, was ich wissen muss. Er vertraut mir. Er liebt mich. Wenn das anders wäre, hätte er mich nicht nach meinem Fall gerettet.‹

Das waren die unerschütterlichen Wahrheiten dieser Welt. Seine Augen konnten lügen, und er sich das alles in seiner Panik eingebildet haben. Luzifer wusste, was er tat. Das alles hatte seine Gründe und einen Sinn, den Dorian nur nicht verstand.

Dorian schloss die Augen und sah schwarze Federn vor sich, seine Federn. Er war hier der Gefallene und der Mensch ein Mensch. Er würde hierbleiben und warten, bis Luzifer nach ihm verlangte. Was aus dem Menschen wurde, musste ihn nicht kümmern.

Was Menschlich Ist

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