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Dorian

25. Oktober

Hölle

Nach einigen quälend langen Stunden hatte sich Dorian immerhin davon überzeugt, dass sein Weltbild gerade nicht komplett in sich zusammenbrach. Dennoch lag er immer noch reglos am Gebirgsrand, trocknete langsam aus und wusste nichts mit sich anzufangen.

»Dorian.«

Die Stimme hallte mit seinen eigenen Gedanken durch seinen Kopf. Dorian zuckte zusammen, kam im selben Moment auf die Beine und versuchte, die schmerzenden Schürfwunden so gut wie möglich zu ignorieren. Luzifer rief nach ihm.

Dorian schloss die Augen und wünschte sich seinem Meister entgegen. Als er wieder aufschaute, befand er sich ganz woanders. Wo genau, konnte er auf die Schnelle nicht sagen, denn die unzähligen Höhlen und Tunnel im Gebirge sahen sich zum Verwechseln ähnlich, aber er wähnte sich tief unter der Erde. Die Luft fühlte sich deutlich kühler an als draußen.

Sein Meister stand mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. Selbst durch sein Licht hindurch sah er ausgezehrt und erschöpft aus. Was auch immer er mit dem Menschen gemacht hatte, es musste ihn angestrengt haben – und jetzt hinderte Dorian ihn auch noch daran, sich auszuruhen.

Er senkte den Blick und wollte nichts lieber, als auf Knien um Vergebung zu bitten, aber er beherrschte sich. Lieber ruhig stehenbleiben, nicht fragen, nicht weiter provozieren, und alles über sich ergehen lassen. Er verdiente es.

»Warum hast du nicht gehört?«, fragte Luzifer nach einem lang gezogenen Schweigen und verlor danach die Beherrschung. Jedes Wort eine Schockwelle, ein Schlag in den Magen und gleichzeitig ins Gesicht. Schon das erste hielt Dorian nicht aus. »Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Was war daran nicht zu verstehen?«

Dorian biss die Zähne zusammen. Die Tränen an sich konnte das zwar nicht verhindern, dafür aber das laute Schluchzen, das in seiner Kehle saß. So einen Anblick verdiente Luzifer nicht.

»Dass du mir dienst, ist das Mindeste«, flüsterte sein Meister. Er packte Dorian am Kragen und zog ihn zu sich. Zwang ihn, ihm gegen jeden Instinkt in die Augen zu sehen, den aus reinster Abscheu geformten Blick auszuhalten und Luzifer in seinen Geist zu lassen.

Der Griff erlaubte Dorian nur ein paar Zentimeter Freiraum, aber es reichte für ein Nicken. Gleichzeitig wisperten seine vor Angst getriebenen Gedanken zwei Fragen vor sich hin. ›Warum betont er das so? Nur, weil du ihn enttäuscht hast?‹

»Es tut mir leid«, flüsterte er heiser. Er könnte die Worte nicht ehrlicher meinen, doch sie klangen platt und sinnentleert. Seine Zweifel standen zu offen im Raum, als dass die Entschuldigung noch irgendeinen Wert besäße.

Luzifer wusste das und ließ es Dorian spüren. Seine Verachtung schmerzte mehr als jede Folter, denn sie reichte tiefer. »Wer bist du? Was tust du?«

»Ich bin Euer Diener.« Darum herum baute sich seine Identität auf. Das war seine Aufgabe, sein Lebenssinn. Was davor kam, tat nichts zur Sache. »Ich werde Euch aus der Hölle befreien.«

»Du tust, was ich sage.«

»Ich tue, was Ihr sagt.«

»Du hast nichts gesehen.«

Dorian nickte und klammerte sich an den Worten fest, als hinge sein Leben davon ab.

»Du stellst keine Fragen.«

›Aber warum betont er das so?‹ Der Gedanke war nicht totzukriegen. »Ja, natürlich.«

Luzifer ließ ihn los. Instinktiv wich Dorian mehrere Schritte zurück. »Du gibst mir alles.«

»Alles, was ich habe«, flüsterte er. »Ich mache keine Fehler mehr.«

Schon allein deswegen, um nie wieder Dinge zu sehen, die nicht für seine Augen bestimmt waren. Nein, die es gar nicht gab. Warum fiel es ihm so schwer, das zu akzeptieren? Er musste kaputt sein.

Luzifer schaute Dorian noch immer durch die Augen direkt in die Seele. Der Engel musste sehen können, wie sehr Dorian die Bilder zu vergessen versuchte – und wie die Zweifel mit jedem Versuch wuchsen.

»Es ist alles gut«, sagte Luzifer, sowohl mit seiner eigenen Stimme als auch in Dorians Kopf. »Ich vertraue dir noch.«

Dorian nickte. Tränen strömten ihm übers Gesicht, aber gerade gab es nur seiner Erleichterung Ausdruck. Er war noch zu etwas gut.

»Das nächste Mal wirst du nicht gesehen«, fuhr sein Meister fort. »Das nächste Mal befreist du mich.«

»Natürlich.« Er würde alles daran setzen. Vor allem würde ihn nie wieder ein Mensch zu Gesicht bekommen und die Begegnung überleben. Nicht noch einmal Flügel, nicht noch einmal rote Engelsaugen, wo keine sein sollten. Wo nie welche gewesen waren. Dorian hatte nichts gesehen.

»Ich vertraue dir noch«, wiederholte Luzifer und ließ Dorian endlich fallen. Schluchzend brach er in sich zusammen und hielt sich den Kopf, weil sich seine gesamte Psyche wie seziert anfühlte. Außer einem heiseren »Danke« brachte er keine verständlichen Worte mehr heraus.

Luzifer wandte sich um und ließ ihn buchstäblich links liegen. Hinter dem Licht und unter dem perfekten Glimmer zitterten seine Knie. Was auch immer er getan hatte, es musste unvorstellbar viel Kraft gekostet haben. Undenkbar, dass ein Mensch das länger als ein paar Sekunden überlebt haben sollte. Unmöglich, dass die Erinnerung, die unablässig durch Dorians Kopf spukte, tatsächlich stimmte.

›Was ist, wenn doch?‹, flüsterte eine leise Stimme in Dorians Gedanken, von der er nicht wollte, dass sie es besser wusste. ›Was ist, wenn du deinen Augen trauen kannst?‹

»Ich habe nichts gesehen«, murmelte er und biss sich fast auf die Zunge. »Ich habe nie etwas gesehen. Das ist alles nicht passiert.«

Dorian hatte an der Hoffnung festgehalten, dass sich alles von allein wieder gerade rückte und sein Meister alle Fragen und Zweifel wenn nötig aus ihm herausfolterte. Doch stattdessen wuchs ihm das Gefühl, dass etwas mit der Welt nicht stimmte, stetig weiter über den Kopf.

Was Menschlich Ist

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