Читать книгу Was Menschlich Ist - Sebastian Kalkuhl - Страница 15

Оглавление

8

Metatron

3. November

Himmel

Größtenteils lud der Himmel dazu ein, sich zu verlaufen. Metatron kam seit Jahrhunderten so gut wie jeden Tag her und fand unter den Dutzenden identischen Büros in den Dutzenden identischen Gebäuden mittlerweile selbst im Schlaf das Richtige – trotzdem begleitete ihn immer die Sorge, eines Tages versehentlich woanders zu landen und sich erklären zu müssen. Gottes Stellvertreter verirrte sich nicht.

Mit schnellen Schritten ging er die Flure entlang und versuchte, möglichst wenig Lärm zu machen. In der üblichen Stille bekam man jede fallende Stecknadel mit. Unter anderem deswegen unterhielt Metatron sich nicht gerne hier, aber gerade gab es keinen sinnvolleren Treffpunkt.

Zaghaft klopfte er an die hoffentlich richtige Tür und bekam ein leidlich motiviertes »Herein« als Antwort. Hastig trat er ein und bemühte sich, die Tür so leise wie möglich hinter sich zu schließen.

Der Raum war fensterlos, die Luft stickig, und nur eine von der Decke hängende Lichtkugel sorgte für eine ausreichend helle Beleuchtung. An den Wänden standen Aktenschränke und Bücherregale, auf denen sich unzählige Dokumente stapelten. In den meisten anderen Büros hingen Karten von irdischen Gebieten, Listen und Ansammlungen strategischer Symbole an der Wand, hier wurde allerdings zugunsten von noch mehr Schränken darauf verzichtet. So selten, wie jemand hier war, wären die Informationen ohnehin ständig veraltet.

Am völlig überfüllten Schreibtisch saß ein Soldat in seinem Rollstuhl, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und alles andere als begeistert von der offensichtlichen Arbeitslast, vor sich. Seine roten Haare trug er nach Vorschrift kurz, die grünen Augen sahen wie immer müde aus, wenn sie sich hier trafen. Er dürfte schon den ganzen Tag hier sitzen und erst spät in der Nacht nach Hause zurückkehren, wenn er nicht gleich bis morgen wartete.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte Metatron, noch bevor er sich Michael gegenüber setzte.

»Ist mir nicht aufgefallen, wenn ich ehrlich sein soll«, antwortete der schulterzuckend, woraufhin seine dunkelgrüne Uniform noch mehr knitterte. Theoretisch wäre Michael weiterhin berechtigt, wie alle Seraphim Weiß zu tragen, was ihnen als Herrscher im Himmel zustand, aber das hatte er mit seiner Ernennung zum Erzengel abgelegt. Er wollte nichts Besonderes sein, hatte sich nie als etwas Besonderes gesehen. Und – das hatte er mit Metatron gemeinsam – eigentlich fühlte er sich der Verantwortung auf seinen Schultern kaum gewachsen. Aber jetzt saßen sie beide hier und mussten das Beste daraus machen.

»Wie weit bist du gekommen?«

»Tropfen auf den heißen Stein«, antwortete Michael, schlug die Akte vor sich mit einem Knall zu und beförderte sie unsanft auf einen Stapel auf dem Boden, der mehr als halb so hoch war wie Michael groß. »Dass alles Militärische über den Heerführer gehen muss, ist gut und schön, aber das hier hat Jophiel schon alles vorsortiert. Die Leute warten teilweise seit Wochen auf eine Antwort und niemand kommt zu etwas, weil sich alle darauf bestehen, dass ich das am besten entscheiden soll.« Er seufzte. »Jophiel soll die Leute dran erinnern, dass sie selber denken können.«

Wenn Metatron das hörte, war er insgeheim noch glücklicher, sich nicht auch um das Militär kümmern zu müssen. Abgesehen davon, dass er das zeitlich gar nicht schaffen würde, konnte er mit der gesamten Thematik reichlich wenig anfangen.

»Jedenfalls«, fuhr Michael fort. »Danke, dass du hergekommen bist. Die Erzengel haben mich gebeten, mit dir zu reden, weil ich dich wahrscheinlich eher treffe als der Rest.«

Metatron nickte. Den weiten Weg die Stufen hinab schaffte er nicht oft, und wenn, dann ging er ihn nicht gerne. Es kostete ihn Zeit, die er für andere Dinge brauchte und in erster Linie gar nicht hatte, und die Gespräche dort strengten ihn meistens so an, dass er danach eine Woche schlafen wollte.

»Ich komme zu euch, sobald ich kann«, antwortete er dennoch. Gottes Stellvertreter jammerte schließlich nicht. »Was ist auf der Erde los?«

»Die kurze Antwort ist, dass wir auch keine Ahnung haben«, erklärte Michael mit einem grummelnden Unterton. »Einer von Luzifers Dienern hat dieses Mal wohl ein gesamtes Wohnhaus in die Luft gesprengt. Ein Schutzengel hat das Elend anscheinend nicht mit ansehen können, ist auf die Erde gegangen und hat die beiden angegriffen.«

Metatron runzelte die Stirn. »Die beiden?«

»Es waren zwei, aber einer hat sich mehrheitlich im Hintergrund gehalten. Den kennen wir noch nicht, vielleicht ist er neu. Remiel befragt die Schutzengel gerade, um herauszufinden, wer er gewesen ist.«

»Ich will wissen, wenn sie Ergebnisse hat.«

»Ja, sicher.« Michael seufzte. »Dass dir letztes Mal niemand was gesagt hat, war nicht meine Idee.«

Es war normalerweise nicht Metatrons Art, besonders nachtragend zu sein, aber gerade bei diesem Thema hätten es die Erzengel besser wissen sollen. »Luzifer wäre letztes Mal fast freigekommen«, sagte er. »Wenn so etwas noch einmal passiert, will ich das rechtzeitig erfahren.«

»Ich weiß«, antwortete Michael mit Nachdruck. Er hatte damals auf der Erde aufräumen und ein größeres Chaos verhindern müssen. »Ich sage es Gabriel gerne nochmal. Und Remiel.«

»Danke.« Metatron schluckte das schlechte Gewissen herunter, zusammen mit der Frage, warum sie sich nicht einfach alle gut verstehen konnten. »Was ist aus dem Schutzengel geworden?«

»Nun, er ist tot. Von Luzifers Leuten umgebracht.«

»Aber er selbst ist nicht frei.« Das wüsste Metatron. Das wüsste mittlerweile schon die ganze Welt.

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Michael. »Aber sicherheitshalber suchen wir die Erde großflächig ab und versuchen, Uriel zu kontaktieren, weil er sich noch nicht gemeldet hat. Hat Gott etwas gesagt?«

»Kein Wort.«

»Wäre auch zu schön gewesen, wenn der Kerl uns weiterhelfen würde.«

Die Worte versetzten Metatron einen Stich. Einerseits, weil sich Engel so nicht über Gott zu äußern hatten, andererseits, weil die Bezeichnung an sich einfach nicht passte. Unabhängig davon, ob sie schon einmal Kontakt mit Gott gehabt hatten, alle Engel wiesen ihm immer das Geschlecht zu, das sie selbst hatten. Für Michael mochte es richtig sein, Gott so zu bezeichnen, aber für Metatron wollte es beim besten Willen nicht stimmen. Er war kein Kerl, kein Mann und sich bis heute nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Wort für sein Geschlecht gab, abgesehen von Nein.

Er zwang seine Gedanken zurück zum eigentlichen Thema. »Wenn Luzifer immer noch nicht frei ist, dann ist entweder seine gesamte Methodik falsch oder der Mensch, der den Schutzengel getötet hat, hat einen Fehler gemacht.«

»Denken wir auch«, pflichtete Michael ihm bei. »Wir gehen von Letzterem aus, weil er sich wohl generell seltsam verhalten hat.«

›Also hat Luzifer Pech gehabt‹, dachte Metatron. ›Oder wir Glück. Je nachdem.‹ »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wütend er jetzt sein muss.«

»Soll er in der Hölle verrotten«, erwiderte Michael mit einem tiefen Grollen in der Stimme. Er ballte beide Hände zu Fäusten, sodass seine Knöchel jede Farbe verloren. »Und sobald er einen Schritt in den Himmel setzt, bekommt er es mit mir zu tun, das schwöre ich bei Gott.«

Metatron sollte ihm in der Hinsicht uneingeschränkt zustimmen, immerhin handelte es sich hier um den größten Sünder aller Zeiten. Er überredete sich zu einem Nicken. »Pass dann nur auf dich auf.«

»Ich lass mir nicht noch mal den Rücken brechen.«

Metatron wandte den Blick ab und kämpfte mit dem Verlangen, sich zu entschuldigen. Luzifers Hass hatte sich damals ausschließlich gegen ihn gerichtet, doch anstelle sich selbst zu wehren, hatte Metatron Michael auf ihn losgelassen. Er war für so vieles verantwortlich, aber die Schuld schnürte ihm seit Jahrhunderten die Kehle zu.

»Wir sind noch knapper an einer Katastrophe vorbei als letztes Mal«, sagte Michael. »Wenn das so weitergeht, dann haben wir kein drittes Mal Glück.«

»Remiel soll ihre Schutzengel so schnell wie möglich unter Kontrolle bekommen.«

Michael grinste schief. Wenn er gute Laune hatte, machte er kaum ein anderes Gesicht. Aber wenn er gute Laune hatte, traf man ihn auch nicht hier. »Glaub mir, die Arme tut schon alles, was in ihrer Macht steht. Du weißt, wie lange Gabriel sich mit ihr das letzte Mal unterhalten hat.«

Und wie kleinlaut sie in den Wochen danach gewesen war. Es hatte Metatron ein wenig verstört.

»Aber davon abgesehen, was schlägst du vor, wie wir damit umgehen sollen?«, fragte Michael. »Wie gesagt, die Erde wird gerade gründlich abgesucht. Vielleicht kriegen wir auch noch was aus Dämonen raus, aber die will ich lieber aus der Sache heraushalten.«

»Besser ist das«, antwortete Metatron. Niemand setzte sich gerne mit Dämonen auseinander.

»Ehrlich gesagt macht mir der Mensch ansonsten am meisten Kopfschmerzen. Es kann sein, dass er Luzifer doch befreit, wenn er noch mal einen Engel töten kann. Aber selbst wenn nicht, wer weiß, was noch alles anders bei ihm ist.«

Da lag das eigentliche Problem. Bislang hatten sie Luzifers Diener machen lassen, weil sie sich vorhersehbar verhielten und sich der Schaden in relativen Grenzen hielt. Sie der Reihe nach zu töten wäre ein größeres Risiko, als hin und wieder einen Menschen zu verlieren. Metatron hasste diese Denkweise, aber im Großen und Ganzen war sie richtig und zudem von Gott abgesegnet worden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zu vertreten.

»Vielleicht hat Luzifer ihn mittlerweile umgebracht.« Michael warf einen Blick auf den Aktenstapel neben sich und seufzte tief, als legte er im Geiste noch einmal einen halben Meter obendrauf. »Ich kann trotzdem Attentäter bereithalten und ihn töten lassen, wenn er noch mal auf der Erde auftaucht.«

»Ist das nötig?«

»Es würde die Zweifel aus dem Weg schaffen.«

Metatron schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

Michael machte ein Gesicht, als hätte er einiges dazu zu sagen. Metatron war sich bewusst, dass ihm die Entscheidung nicht gefiel und der Mehrheit der Erzengel wahrscheinlich auch nicht, aber solange er sie begründen konnte, blieb er dabei.

»Vielleicht ist er wirklich harmloser als die anderen«, sagte er. »Dann kann er auch am Leben bleiben. Und Luzifer wird jetzt erst recht alles daran setzen, noch einen Engel zu fassen zu bekommen, da können wir ihm sein Ziel nicht auch noch auf dem Silbertablett präsentieren«

»Soll er kommen«, murmelte Michael. Metatron glaubte nicht, dass er das hatte hören sollen. »Wie du meinst, wir warten und beobachten. Aber sobald er zu sehr aus der Reihe fällt, töten wir ihn.«

›Noch eins von diesen notwendigen Opfern‹, dachte Metatron und erinnerte sich, wie Michael ihm das als Kind beigebracht hatte.

»Bekommt ihr das alleine hin?«, fragte er, der Höflichkeit halber. Länger als nötig wollte er eigentlich nicht bleiben.

»Wir haben jetzt unsere Anweisungen, wir kommen zurecht«, antwortete Michael. »Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, so plötzlich wie das kam.«

»Ist schon in Ordnung.« Metatron zwang sich zu einem Lächeln, das der gesamte Himmel für ehrlich hielt. Aber der gesamte Himmel ging auch zu Recht davon aus, dass er nicht mehr lügen konnte. »Bleibst du noch lange hier?«

»Ich will wenigstens ein bisschen schaffen«, erwiderte Michael und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Kann die Leute ja nicht ewig warten lassen, wenn sie sich schon an mich gewandt haben.«

»Brauchst du später Hilfe?«

Metatron wusste, dass Michael die Frage hasste. Von ihm ließ er sie sich aber immerhin gefallen und er wusste, dass er sie stellen durfte.

»Jophiel holt mich heute Nacht ab«, antwortete der Heerführer. »Er bringt mich runter nach Hause und sieht zu, dass ich mir nichts tue. Niemand muss sich Sorgen machen.«

Sein zynischer Tonfall tat weh, auch wenn er längst nichts Neues mehr war. Wieder verdrängte Metatron eine Entschuldigung. Sie konnte noch so ehrlich sein, gerade nützte sie nichts.

»Gut«, sagte er stattdessen. »Sobald ich kann, komme ich noch einmal zu euch. Ich weiß, Gabriel will, dass ich mich beeile, aber…«

»Es geht nicht anders.« Michael legte eine Hand auf Metatrons Unterarm – er fuhr zusammen, ließ es aber geschehen und konnte sich mit Mühe überzeugen, dass ihm niemand etwas tun würde. Gottes Stellvertreter sollte unberührbar sein. Volksnah und doch nicht zu erreichen. »Entgegen allgemeiner Behauptungen können die Erzengel warten. Wenn du es nicht schaffst, dann schaffst du es eben nicht. Wir sind nicht deine einzige Aufgabe.«

Metatron nickte. Auf dem Rückweg würde er versuchen, sich das einzureden und wie immer erfolgreich daran scheitern. Es sprach für Michaels Optimismus, dass er es trotzdem immer wieder wiederholte.

»Und pass auf dich auf, ja?«

»Du auch.«

Da war es wieder, das schiefe Grinsen. »Immer doch.«

Irgendwann hielt sich vielleicht einer von ihnen daran.

Was Menschlich Ist

Подняться наверх