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Chris

10. November

Erde

Janne hatte Chris mehrfach nahegelegt, sich wenn möglich keinem Menschen zu zeigen und der Kerl, der ihn in die Hölle entführt hatte, war bei seinem Anblick sichtlich erschrocken. Nach der Logik sollte er unter Menschen sicherer sein, aber er traute sich nicht.

Die meiste Zeit über schwebte Chris ungefähr hundert Meter über dem Boden, in der Hoffnung, so nur für einen merkwürdigen Vogel gehalten und ignoriert zu werden. Sobald er müde wurde, landete er auf einem verlassenen Fleck Erde und versuchte sich auszuruhen. Schlaf fand er allerdings nie, denn eine an Paranoia grenzende Angst hielt ihn zuverlässig wach.

Nicht, dass er wusste, wo er sich überhaupt befand, denn keines der Straßenschilder sagte ihm etwas. Die Schrift hielt er für Kyrillisch und wider Erwarten konnte er sie problemlos lesen, aber die Ortsnamen halfen trotzdem nicht weiter. Für den Moment hielt er sich im Umfeld einer Großstadt auf, von der er noch nie gehört hatte – weit genug entfernt, um unter sich Felder zu sehen und nah genug, um die funkelnden Lichter zu erkennen.

Jetzt, wo sich die nach Nacht dem Ende neigte, wachte die Stadt langsam auf und der Lärm schwoll an, bis Chris ihn auch in dieser Höhe und Entfernung hörte. ›Mein Wecker klingelt gleich‹, dachte er und fragte sich, ob das Gerät immer noch treu seinen Dienst tat oder ob seine Mitbewohner es mittlerweile aus dem Fenster geworfen hatten. ›So früh ist überhaupt nicht meine Zeit, aber wenn ich mich noch mal umdrehe, stehe ich nicht vor Mittags auf. Ich gehe ins Bad und nehme mein Testogel. Ich koche Kaffee und werde dann vielleicht wach genug, um niemanden mehr zu gefährden.‹

Sein Alltag konnte realistisch gesehen vielleicht zwei Wochen her sein, aber es fühlte sich eine Ewigkeit weit weg an, wie eine zusehends verblassende Erinnerung. Sich die Details immer wieder durch den Kopf gehen zu lassen tat weh, denn sie führten Chris vor Augen, was er alles verloren hatte. Aber die Alternative hieß Vergessen und das kam ihm zu sehr wie Selbstaufgabe vor. Er hatte zu lange zu hart gearbeitet, um endlich mit sich im Reinen zu sein, nur um das jetzt hinter sich zu lassen.

Wieder berührte er seinen Anhänger, nur flüchtig, aber es reichte für ein bisschen Hoffnung. Irgendwie würde es weitergehen.

Langsam ging die Sonne auf, tauchte die Welt in ein zartes, goldenes Licht und färbte Himmel und Wolken zartrosa. Chris ließ sich für eine Weile lang von dem Anblick verzaubern, bis ihm eine Brise so heftig um die Ohren pfiff, dass er kurz das Gleichgewicht in der Luft verlor. Danach fühlten sich seine Flügel lahm an und mussten mühsam zur Arbeit überredet werden. Sein Magen knurrte und machte ihn auf das mindestens faustgroße Loch in seinem Bauch aufmerksam, das dringend gefüllt werden wollte.

Chris warf einen Blick in Richtung Stadt und dachte an hunderte Lieferdienste, Supermärkte und Restaurants. Mit dem Hunger wuchs auch seine Bereitschaft, irgendwo einzubrechen und Essen zu klauen, aber gerade überwiegte sein Gewissen noch. Insgeheim wünschte er sich, es würde damit aufhören.

Zeit, sich wieder auszuruhen. Chris landete auf einer verlassenen Weide am Rand eines Waldes und glaubte erst, die Stelle zu kennen, doch die Landschaften sahen sich hier einfach nur zum Verwechseln ähnlich. Er schaute sich mehrfach um, entdeckte weder Mensch noch Tier noch irgendetwas Bemerkenswertes außer einer baufälligen Scheune, zog seinen Mantel aus und legte ihn auf den Boden, um nicht direkt im nassen Gras sitzen zu müssen. Der Stoff weichte zwar auch nach ein paar Minuten durch, aber es war besser als gar nichts.

Chris hatte gerade genug Zeit zum Durchatmen gehabt, als ihm schlecht wurde. Die Übelkeit kroch in seinen Magen wie eine sich verdichtende Ahnung, dass etwas nicht stimmte, doch weder auf der Wiese, noch in der Scheune oder im Gebüsch konnte er etwas erkennen. Er sollte hier alleine sein, das alles in ihm beharrte darauf, sofort von hier zu flüchten.

›Als ich das das letzte Mal gespürt habe, ist meine Welt zusammengebrochen. Heißt das, sie haben mich endlich gefunden?‹

Es wurde immer stiller, bis Chris sich nicht mehr traute zu atmen, aus Angst sich dadurch zu verraten. Gleichzeitig schaute er sich immer hektischer um, irgendetwas musste er übersehen haben. Erst nach mehreren Minuten erkannte er seinen Fehler.

Im aufziehenden Nebel über ihm schwebte der falsche Engel und beobachtete ihn aus blutig roten Augen. Chris kam so schnell er konnte auf die Beine, griff sich seinen Mantel und stolperte im rutschigen Gras schon nach wenigen Schritten über seine eigenen Füße. Während er fiel, erkannte er den Engel als Schatten über sich, der ihn Sekunden später zu Boden presste. Chris atmete aus und ergab sich seinem Schicksal.

Nichts passierte. Eine bedrückende Stille legte sich über das Gras, der Druck auf seinem Rücken ließ abrupt nach. Hektisch kroch Chris auf dem Bauch nach vorn, setzte sich auf und wandte sich zum. Zuerst sah er ein mehr oder weniger bekanntes Paar Stiefel vor sich, dann einen langen schwarzen Mantel. Schließlich ein blasses Gesicht wie aus Marmor gemeißelt, Augen wie grob geschliffene Rubine, staubig blondes Haar, hastig in Form gebracht. Zwei längere Strähnen reichten ihm etwa bis ans Kinn.

Chris war in den letzten Tagen so sehr mit Überleben beschäftigt gewesen, dass er nicht einmal daran gedacht hatte, er könnte seinen Entführer wiedersehen. Jetzt hatte er so viel gleichzeitig zu sagen, dass ihm am Ende die Worte fehlten. »Du? Wirklich?«

Dorian blieb still – Janne hatte wohl recht gehabt, und er redete wirklich nicht gern. Wie versteinert stand er im Gras und schaute abwechselnd in den Himmel und direkt an Chris vorbei.

»Will Luzifer mich lebendig oder tot?«

»Was bist du?«

Spätestens das verwirrte Chris zu sehr, als dass er noch wütend werden könnte. Kopfschüttelnd stand er auf, strich sich das nasse Gras von Mantel und Hose. Sein Gegenüber reagierte nicht darauf. »Ich bin ein Mensch. Ich bin derselbe, den du mitgenommen hast.« Zumindest wollte er das glauben.

Dorian nickte langsam und murmelte etwas, das sich wie »Ich habe nichts gesehen« anhörte.

›Er ist mir in den Rücken gefallen‹, dachte Chris. ›Hätte er mich töten wollen, stände ich längst nicht mehr hier. Aber was will er dann von mir?‹

»Wenn du menschlich bist«, sagte Dorian langsam, »warum hast du dann Flügel?«

»Ich dachte, du könntest mir das sagen«, erwiderte Chris missmutig. Dann setzte sich das Bild langsam zusammen. »Warte. Du weißt auch nichts außer dem, was er dir erzählt hat, oder?«

»Ich weiß, was ich wissen muss.«

»Wie viel ist das wirklich?«

Das Schweigen danach verriet mehr als genug. Nicht, dass sich Chris irgendwelche Antworten erhofft hatte, aber das hier frustrierte ihn trotzdem über alle Maßen. »Was hat Luzifer dir gesagt, wer du bist?«

»Ich bin gefallen«, antwortete Dorian, doch er sprach langsam, brachte die Worte hörbar mühsam heraus. »Luzifer hat mich gerettet, nachdem meine Seele in den Höllenflüssen feststeckte. Ich schulde ihm mein Leben. Ich schulde ihm alles, was ich habe.«

›Er hat es jedem gesagt.‹ Immerhin hatte Chris jetzt die Bestätigung. »Okay, hör zu, ich weiß nicht, wie ich dir das besser beibringen soll, aber nichts davon stimmt.«

»Du erzählst ja wirklich die Scheiße, vor der man uns gewarnt hat.«

Chris drehte sich langsam um – hinter ihm stand ein weiterer Engel mit ausgebreiteten, schwarzen Flügeln. Er war dürr, etwas größer als Dorian und hatte bemerkenswerte Augenringe. Seine mausbraunen Haare standen offensichtlich verknotet in alle Richtungen ab und sahen insgesamt aus wie ein nicht ganz gewollter Unfall. Er trug das selbstgefälligste Grinsen im Gesicht, das Chris je gesehen hatte.

Er schluckte. »Dorian, wie viele Leute suchen gerade nach mir?«

Der fremde Engel zuckte mit den Schultern. »Alle. Und wenn Dorian Luzifer deinen Kopf nicht bringen will, dann übernehm ich das liebend gerne.«

»Er gehört mir, Adrian.«

»Du hattest ja wohl genug Gelegenheit, um ihn mitzunehmen und-«

»Ich sagte, er gehört mir!«

Im nächsten Moment schoss ein Schatten direkt an Chris vorbei auf den Engel zu und die beiden verschwanden aus seinem Sichtfeld. Danach rührte sich auf der Wiese kein Grashalm mehr und es wurde still, als hätte jemand die gesamte Welt lautlos gestellt.

»Ob ihr mich verarschen wollt«, murmelte Chris und fasste sich an die Stirn.

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