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Metatron

1138 Jahre vorher

Himmel

Metatron hatte keine Ahnung, wie lange er nun schon vor Seraphiels Wohnung stand und es einfach nicht schaffte, zu klopfen. Jedes Mal, wenn er seine Hand auch nur in die Richtung der Tür bewegte, fühlte es sich an, als würde ihn jemand packen und mit Gewalt zurückhalten. Eine Stimme in seinem Hinterkopf fragte unaufhörlich, was ihm einfiele, Seraphiels Ruhe zu stören und dass es hier sowieso um Dinge ging, die er mit sich selbst ausmachen sollte.

Es war sein erster freier Nachmittag seit langem, und Metatron hatte die Gelegenheit nutzen wollen, um sich mit Gott, sich selbst und vor allem diesem bevorstehenden Schwur zu beschäftigen. Aber kaum dass er mit seinen Gedanken alleine gewesen war, hatten sie ihn mit Fragen bombardiert, bis sein Kopf gefühlt zu platzen drohte und er mit Tränen in den Augen eingeschlafen war. Zwei Stunden später stand er jetzt hier, sein Kreislauf ebenso unsicher auf den Beinen wie er selbst, und fühlte sich schrecklicher als vorher.

Metatron nahm all seine Kraft zusammen, wehrte sich gegen was auch immer ihn zurückhielt und schlug versehentlich mit viel zu großer Kraft auf die Tür ein. Hoffentlich glaubte er nur, daraufhin mehrere feine Risse im Holz zu sehen.

Ihm öffnete ein kleiner und reichlich verschlafener Engel, den niemand für die mächtigste Person im Garten halten konnte. Seine schokoladenbraunen Locken standen ihm in allen Richtungen vom Kopf ab, seine ebenso braunen Augen blinzelten verschlafen und insgesamt machte er keinen besonders aufnahmefähigen Eindruck. Dann aber strich er sich über die Haare, streckte sich und sah auf einmal wie der Würdenträger aus, der er war. Als er Metatron erblickte, begann er sanft zu lächeln.

»Tut mir leid«, sagte Metatron dennoch als Erstes. »Ich wollte dich nicht wecken. Ich kann später wiederkommen, wenn-«

»Ich wollte ohnehin aufzustehen«, winkte Seraphiel ab. »Möchtest du Tee?«

Metatron spürte sich nicken, bevor er es sich anders überlegte. »Kann ich mit dir reden?«

»Sicher. Komm herein.«

Metatron tat wie geheißen, folgte Seraphiel in die Wohnung und fragte sich wie jedes Mal, wie der Engel es hier dauerhaft aushielt. Mit Ausnahme der Fenster standen Bücherregale an jeder Wand, selbst in der Küche und im Badezimmer. Sicherlich machten sie die Räume auch gemütlicher, ließen sie aber vor allem beengt wirken.

Die restliche Einrichtung hatte einen dunklen Stil, den Metatron sonst nicht vom Himmel kannte. Vermutlich hatte Seraphiel an seiner Wohnung seit mindestens zweitausend Jahren nichts mehr geändert – da der Garten niemals leerstehen durfte, verließ Seraphiel ihn nur äußerst selten und kannte sich zwar mit der aktuellen Politik aus, nicht aber mit Kultur. Geschichten schienen das Einzige zu sein, bei dem er auf dem Laufenden bleiben wollte, denn er bat die restlichen Seraphim regelmäßig, ihm neue Bücher mitzubringen.

Wann Seraphiel Zeit zum lesen fand, blieb allerdings ein Rätsel, denn als Gottes Berater verbrachte er mehr Zeit mit ihm als sie alle zusammen, saß stundenlang in Diskussionen versunken auf der endlosen Treppe, bis er meistens mitten in der Nacht wieder im Garten auftauchte und Ergebnisse präsentierte.

Seraphiel brachte zwei Becher voller Tee aus der Küche mit und stellte sie auf einem kleinen Tisch vor dem Sofa ab. »Setz dich.«

Metatron ließ sich neben ihm nieder und starrte danach unschlüssig in seinen Tee. Allein die Entscheidung, mit jemandem reden zu wollen, hatte so viel Überwindung gekostet, dass er sich keine Gedanken über den Rest gemacht hatte.

Seraphiel griff seelenruhig nach einer Dose auf dem Tisch und fügte mehrere gehäufte Löffel Zucker zu seinem Tee hinzu, bis selbst der Geruch so süßlich war, dass Metatron freiwillig Abstand von dem Getränk nahm. »Worum geht es?«, fragte er.

›Erwartest du wirklich, dass dir jemand helfen kann?‹, erwiderten Metatrons Zweifel. ›Das ist allein dein Problem. Deine Gefühle.‹

Er seufzte leise in sich hinein. Dann traute er sich, Seraphiel ins Gesicht zu sehen und zuzulassen, dass seine aufgewühlte Gefühlswelt daraufhin gelesen wurde, als wäre sie nur ein weiteres Buch.

»Ich weiß nicht«, sagte er, irgendwo musste er ja anfangen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, ob ich schwören soll oder nicht. Ich weiß nicht, wer ich sein will und… wer ich bin.«

Und es wurde schlimmer, je öfter Metatron mit Gott sprach. Immer weniger wusste er, was für ein Geschlecht seine eigenen Gedanken eigentlich hatten, wie er Gott nennen sollte und was das alles bedeutete. Gleichzeitig redete ihm eine ganz besondere Form von schlechtem Gewissen ein, dass er das doch gefälligst zu wissen hatte.

Seraphiel nickte bedächtig, griff nach seinem Tee und zuckte zurück, als er den heißen Becher berührte. Unterdessen studierte er Metatron mit wachem Blick. Mit jedem Blinzeln öffneten sich mehr Augen auf seinem ganzen Körper, blieben nur einen Moment lang sichtbar und ließen Betrachter häufig mit Zweifeln an ihrem eigenen Verstand zurück. Das war Seraphiels Art zu lesen: Hauptsächlich in Gefühlen seines Gegenübers, selten in Gedanken. Zumindest behauptete er, Letzteres nicht zu tun.

Da keine schmerzhaft genaue Analyse von Metatrons Seelenleben folgte, schien Seraphiel auf den ersten Blick auch nicht schlau aus dem Chaos zu werden. »Was hält dich davon ab, dich für den Schwur zu entscheiden?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht.« Die ehrlichste Antwort, aber auch die am wenigsten hilfreiche. Bei dem aktuellen Stand hätte er gleich im Bett bleiben können, um da deutlich effizienter keine Ahnung zu haben. Metatron zwang sich, weiter zu reden. »Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin«, gab er zu. »Ich weiß nicht, ob ich die Verantwortung tragen und Gottes Ansprüchen gerecht werden kann.«

»Verstehe.« Als wohl einzige Person auf der Welt log einen Seraphiel mit diesen Worten nicht an. »Aber ich bin mir sicher, dass Gott weiß, was er tut. Er würde dir diesen Titel und diese Aufgaben nicht anbieten, wenn er nicht wüsste, dass du mit ihnen zurechtkommst. Er setzt sein Vertrauen in dich.«

›Er setzt sein Vertrauen in mich‹, dachte Metatron. Der Satz fühlte sich auf so vielen Ebenen falsch an, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte. ›Er… Das ist nicht richtig, nicht so. Gott ist nicht männlich für mich.‹

Seraphiels Augen blinzelten. Er bekam die anhaltende Verwirrung wohl mit. »Aber abgesehen davon hast du dich dein Leben lang auf den Schwur vorbereitet. Und ich kenne dich Metatron, ich weiß, was du kannst. Vertrau dir ruhig selbst.«

»Also denkst du, dass ich schwören soll?«

Seraphiel gab lange keine Antwort. Er saß regungslos auf dem Sofa, schaute zu Boden und schien ernsthaft überlegen zu müssen, bis ihm etwas einfiel. Schließlich seufzte er und gab Metatron damit noch mehr das Gefühl, ihm auf die Nerven zu gehen.

»Du dienst Gott bereits jetzt schon«, erklärte der ältere Seraph. »Wenn du volljährig wirst, dann wirst du das auch offiziell tun, und in dem Sinne ist der Schwur nichts weiter als eine Formsache. Das Einzige, was sich ändert, ist dein Titel und deine Wirkung auf den Himmel. Alle Engel hätten dann eine Verbindung zu Gott und die Sicherheit, dass die Seraphim nach seinem Willen handeln. Es hätte seine Vorteile.«

›Ich sollte schwören‹, dachte Metatron und fühlte sich schlecht, weil er sich deswegen schlecht fühlte. Er sollte es als eine Ehre betrachten, und Seraphiel fand das offensichtlich auch, das machte er gerade mehr als deutlich. Aber wenn er auch nur einen Moment lang aufhörte, sich das einreden zu wollen, dann blieb nur noch der zusehends verzweifelte Wunsch, jemand anders möge die Wahl für ihn treffen.

»Was denkt Sandalphon?«

Seines Wissens nach hatte sein Bruder sich schon entschieden, als Gott noch nicht ganz fertig gewesen war, ihnen den Sachverhalt zu erklären. »Wir sprechen nicht darüber.«

Seraphiel hob eine Augenbraue. »Nicht?«

»Wir haben alles Wichtige diskutiert.« Metatron schwieg kurz. Gerade würde das nur ein weiteres Fass aufmachen, mit dessen Inhalt er sich nicht auseinandersetzen wollte. »Am Ende ist es unsere persönliche Entscheidung.«

»Das ist richtig, aber es geht euch ja beide an.«

Es war nicht so, als hätten sie es nicht versucht. Aber schon nach kurzer Zeit regte sich Sandalphon auf und behauptete, Gottes Konditionen würden sie mehr zu Dienern als zu Herrschern machen. Metatron hatte geschwiegen und seinen Bruder reden lassen, konnte die Argumente auf der einen Seite zwar nachvollziehen, doch auf der anderen Seite schien es doch seine Pflicht zu sein, diesen Schwur zu leisten. Deswegen war er geschaffen geworden.

Seraphiel schaute ihn unterdessen prüfend aus zu vielen Augen an. »Dich beschäftigt mehr als nur der Schwur an sich, richtig?«

›Ja, natürlich, aber wie soll ich das erklären? Wie soll ich dir verständlich machen, dass ich nicht weiß, wer ich bin, weil ich nicht weiß, wer Gott für mich ist? Die Frage stellt sich doch für niemanden.‹ Noch weigerte sich Metatron, sich selbst als kaputt zu bezeichnen, aber langsam gingen ihm die Gegenargumente dafür aus. In diesem Moment fühlte sich alles an ihm grundlegend falsch an.

Er schüttelte den Kopf und schluckte den ganzen Wust zusammen mit seinem Tee herunter. Vielleicht ein anderes Mal, wenn er mehr wusste. »Es ist nur so eine wichtige Sache und ich will sie richtig machen.«

Ob Seraphiel ihm glaubte, blieb fraglich, aber immerhin schien er die Antwort zu akzeptieren. »Du kannst wiederkommen und mit mir reden, wenn du willst«, sagte er. »Dafür nehme ich mir die Zeit. Ich will, dass du dich guten Gewissens entscheiden kannst.«

Es kostete Metatron alle Beherrschung, um nicht zu laut lachen. Ihm war längst bewusst, dass das nie im Leben so einfach werden würde. Immerhin konnte er sich jetzt noch einreden, dass der Schwur über ein Jahr weit weg war und ihm noch reichlich Zeit blieb. Noch bestand die Chance, dass sich alle Probleme von alleine lösten.

›Ich will nur wissen, wer ich sein soll‹, dachte er. ›Wie kann das zu viel verlangt sein?‹

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