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Dorian
11. November
Erde
Etwas riss Dorian aus dem Tiefschlaf. Er schreckte hoch, zwang sich sofort zur Ruhe und schaute sich um. Chris schlief weiterhin in seiner Decke eingerollt, von draußen schien Laternenlicht in die Bauruine hinein. Ein allgegenwärtiges Staubrieseln wanderte durch den Raum, ansonsten blieb es still.
Dann breitet sich eine unverwechselbare Übelkeit in seinen Eingeweiden aus, bis Dorian nichts anderes mehr spürte. Es kostete all seine Selbstbeherrschung, um sich nicht in der nächsten Ecke zu übergeben.
Durch das Loch in der Wand war nichts zu erkennen. Dorian wollte die Augen schließen und auf ein größeres Zeichen warten, als die Straßenlaternen zu flackern begannen. Stimmen von draußen.
»Ihr wartet draußen, ich geh rein und erledige das.«
»Du machst hier gar nichts. Ihr schafft es gerade nicht einmal, einen wehrlosen Schutzengel zu erledigen, glaubst du, ich-«
»Das war Janne, nicht ich!«
Neben Dorian schreckte Chris mit einem überraschten Geräusch hoch und machte kurz Anstalten, um sich zu schlagen. »Was-«
Dorian legte einen Finger an die Lippen und deutete nach draußen.
»Ihr seid alle gleich«, sagte eine Person, deren Stimme Dorian vage bekannt vorkam. »Ihr werdet alle bei den gleichen Sachen sauer, ihr sagt das Gleiche und zieht euch gleich an. Wie um alles in der Welt soll ich euch da unterscheiden können?«
»Halt den Rand«, grummelte Adrian. Schritte auf dem Asphalt. »Ihr könnt auch von alleine rauskommen, wenn ihr wollt!«
»Ganz bestimmt nicht«, murmelte Chris.
»Bleib hier«, erwiderte Dorian und stand auf. Weglaufen war keine Option mehr, er hatte ja schon nur noch die Wand hinter sich.
Geschickt kletterte er über die kläglichen Reste der eingestürzten Mauer, ließ sich ein ganzes Stockwerk nach unten fallen, landete auf den Füßen und sah sich einem Adrian und zwei ihm leider sehr bekannten Dämonen gegenüber.
Beide zeigten kaum mehr als ihre Augen. Den Rest ihrer Haut bedeckten, wie bei ihnen üblich, mehrere Lagen Stoff. Der eine trug hauptsächlich hellgrüne und goldene Kleider, erkennbar halbherzig in Form drapiert, und eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Seine gelblich grünen Augen reflektierten das spärliche Licht, und trotz der dunklen Nacht verengten sich die Pupillen zu Schlitzen.
›Belphegor‹, dachte Dorian und war sich sicher, gerade weil der Dämon den Eindruck machte, als würde er jeden Moment einschlafen. Man sagte, dass er die meisten Geheimnisse der Hölle kannte, weil die Leute in seiner Gegenwart zur Achtlosigkeit neigten.
Die andere trug dunkelgrüne, deutlich edlere Stoffe und gab sich sichtlich mehr Mühe mit ihrem Aussehen als ihr Begleiter. Ihre Haare waren ebenso mausbraun wie die von Adrian, bedeckten Stirn, Nacken und teilweise ihre hellgelben Augen. Mammon. Unmöglich zu sagen, weswegen genau sie hier – sie schlug sich grundsätzlich auf die Seite desjenigen, von dem sie sich am meisten Profit erhoffte, auch wenn das zufällig Luzifer sein sollte. Dämonen bekam man am besten zum Gehorchen, indem man ihnen drohte oder ihnen glaubwürdig genug alles Mögliche versprach, bis sie ihr Misstrauen vergaßen. Mammon bot sich einem von sich aus an, und mit einer Ablehnung war man am besten bedient.
Adrian grinste, als Dorian vor ihm landete. »Immerhin bist du hier vernünftig«, sagte er. »Ich nehme an, dein neuer Freund sitzt noch da oben?«
›Das ist nicht mein Freund‹, dachte Dorian und biss die Zähne zusammen. ›Das ist ein Fehler. Etwas, das nicht sein sollte. Jemand, der mich versteht.‹ »Was macht ihr hier?«, fragte er an die Dämonen gewandt und erwartete sicherheitshalber nichts.
Mammon zuckte mit den Schultern. »Mir ist langweilig«, erklärte sie. »Und da man sich seit Tagen erzählt, dass Luzifers Dienerschaft in Aufruhr ist, wollte ich persönlich nachschauen, was los ist. Dann ist mir der hier«, sie deutete auf Adrian, »über den Weg gerannt und war verzweifelt genug, sich bei mir auszuheulen und dann sind wir mitgekommen. Richtig?«
Belphegor nickte.
Adrian wandte sich mit offen stehendem Mund um. »Das ist-«
»Ganz genau, was passiert ist«, unterbrach ihn die Dämonin. »Und davon einmal abgesehen würde mich brennend interessieren, warum es hier schon wieder niemand geschafft hat, einen kleinen unschuldigen Schutzengel zu ermorden. Der Himmel setzt sie euch vor die Nase, als wollte er Luzifer zurückhaben und ihr versagt trotzdem auf ganzer Linie.«
Adrian ballte die Fäuste. Dorian überlegte, Mammon einfach weiterreden zu lassen, damit die drei irgendwann aufeinander losgingen und sich die Sache von selbst erledigte. Auf Adrians Gesicht war nur allzu gut abzulesen, wie kurz er davor stand, die Beherrschung zu verlieren – doch dann deutete er seufzend auf Dorian, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. »Kümmert euch um den hier und macht mit ihm, was ihr müsst. Ich hol Chris von da oben weg.«
Mammon beugte sich daraufhin vor, fasste Adrian am Kinn. Der riss sich los, stolperte einen Schritt zurück und fiel Dorian beinahe in die Arme. »Erstens gibst du uns hier keine Anweisungen. Du benimmst dich wie ein guter, zum Gehorsam erzogener echter Engel. Und zweitens heißt es Flügelschlag.«
›Nein.‹ Von jetzt auf gleich wurde Dorian kalt. ›Nein. Nicht meine Flügel.‹
Adrian vor ihm erblasste ebenfalls schlagartig, wandte sich um und stieg in die Luft. Er ging sich Chris holen, aber Dorian konnte ihm nicht einmal hinterhersehen. Flügelschlag. Sie waren gekommen, um ihm das einzige zu nehmen, das er noch besaß.
›Nein.‹ Wieder die Flucht nach vorn. »Nein!«
Schreiend stürzte sich Dorian auf Mammon, wollte sie packen und griff ins Leere. Zwei Schritte weiter hinten tauchte sie aus dem Nichts auf und ihre Augen allein sagten deutlich aus, wie sehr sie unter ihrem Schleier grinste. »Tut mir leid, aber dein Herr und Meister wollte es so.«
»Ihr lügt!«, brüllte Dorian den Dämonen entgegen, setzte erneut an und beschwor das Feuer, schlug mit in Flammen gehüllter Faust nach Belphegor, weil der im Weg stand. ›Luzifer kann das nicht befohlen haben. Kein Engel könnte den Flügelschlag beschließen.‹
Der Dämon reagierte erst im allerletzten Moment und dann zuerst mit einem tiefen Seufzen, ehe er den Schlag abfing und keine Miene verzog. Er erstickte die Flammen langsam in seiner Hand und stieß Dorian mit gewaltiger Kraft von sich.
Er verlor das Gleichgewicht, flog durch die Luft, und breitete die Flügel im letzten Moment aus, um in der Luft stehenzubleiben. Die Druckwelle schob sich unterdessen weiter die Straße entlang, in der Ferne klirrte Glas und splitterte. Mehr Laternenlichter erloschen und gaben den Blick auf den Sternenhimmel frei, von dem eine dünne Mondsichel auf sie herab schien.
Dorian warf einen Blick auf die Bauruine, konnte aber niemanden erkennen. Es blieb zu hoffen, dass Chris entweder entkommen oder wenigstens schnell gestorben war. Der letzte Gedanke trieb ihm Tränen in die Augen, aber die Verwirrung darüber hielt nicht lange, ehe die Angst sie wieder komplett verschluckte.
Flügelschlag. Nein.
Mammon gab mehrere Meter weit von ihm weg einen Fluch von sich, bei dem der Boden erzitterte, dann kam sie Dorian hinterher. »Du hast es schneller hinter dir, wenn du dich nicht wehrst.«
»Nein!«
»Hör mal, ich habe auch Besseres zu tun, aber was sollen wir machen?« Sie stieg ebenfalls in die Luft, packte Dorian an beiden Handgelenken und zog ihn wieder Richtung Boden. Er versuchte sich loszureißen und bekam zumindest einen Arm frei, streckte ihn in Mammons Richtung aus, fokussierte die Energie und ließ sie frei, doch die Dämonin ließ selbst im freien Fall nicht los. Sie kamen krachend in einem Vorgarten auf, das Gras federte den Sturz immerhin ein wenig ab. Hinter ihnen brach die Hausfassade auf, die Fenster fielen auseinander, Dachziegel regneten auf sie herab. Dorian kam frei, duckte sich erst und begann gegen den Instinkt seines schmerzenden Körpers zu rennen, um nicht erschlagen zu werden.
Mammon begutachtete die Zerstörung unterdessen mit skeptischem Blick und zuckte mit den Schultern. »Bevor mir das ganz auf den Kopf fällt…«
Sie schlug auf die Wand ein und die Welt verstummte mit einem dumpfen Geräusch. Dorian ging noch einen Schritt rückwärts, doch weiter trug ihn selbst sein Fluchtinstinkt gerade nicht. Reglos schaute er zu, wie sich Risse spinnennetzartig durchs Mauerwerk ausbreiteten und das Haus nur Sekunden später in sich zusammenstürzte. Mammon nickte seelenruhig und murmelte ein zufriedenes »So«, ehe sie verschwand und direkt vor Dorians Nase wieder auftauchte. »Und nun zurück zu dir.«
Dorian schlug mit den Flügeln und der Dämonin fast damit ins Gesicht, doch er gewann nicht schnell genug an Höhe. Seine Füße streiften den Gartenzaun unter sich, er verlor das Gleichgewicht und schlug wieder auf dem Boden auf. Tränen stiegen ihm in die Augen, sein Rücken fühlte sich erst taub an, dann wie eine einzige, dumpf schmerzende Prellung. Immerhin hatte er es geschafft, die Flügel rechtzeitig einzuziehen. ›Ich gebe sie nicht her. Was bin ich ohne meine Flügel?‹
Er schaute auf. Die Bauruine war kaum noch in der Dunkelheit zu erkennen. Zwei Meter vor ihm stand Mammon von faserhaften Schatten umhüllt, beide Hände in die Hüften gestemmt. »Wenn du von alleine nicht willst, dann tu es wenigstens für Luzifer.«
»Nein«, murmelte Dorian, zwang sich auf die Beine und ging rückwärts. Dabei ahnte er schon, wie das ausging. »Das würde er nicht wollen!«
»Er ist nur zu feige, es selbst zu machen.«
›Das kann er nicht… Er ist doch ein Engel, er muss doch wissen…‹ Dorians Sichtfeld verschwamm vor lauter Tränen, bis er nur noch eine Anzahl unterschiedlich düsterer Flecken sah. Trotzdem rannte er weiter, dieses Mal Mammon entgegen, und griff sie mit wenig mehr als dem Mut der Verzweiflung an. Tatsächlich landete er mehrere Treffer, obwohl er nicht einmal genau sehen konnte, wohin er eigentlich schlug. Mammon gab einen unterdrückten, dennoch sehr entsetzten Schrei von sich, taumelte nach hinten, packte Dorian und zog ihn mit sich.
Plötzlich wurde es schwarz um ihn herum und auch das letzte Licht erlosch. Schatten krochen unter seinen Mantel und über seine Haut, hinterließen brennende Striemen und eine merkwürdige Leere. Dorian fror mitten in der Bewegung ein, als sich eine Kälte in ihm ausbreitete, die Angst und Wut kurzerhand erstarren und dann splittern ließ. Zusammen mit den Scherben stürzte er zu Boden – im nächsten Moment zog ihn jemand an den Schultern wieder auf die Beine. Durch die Tränen hindurch sah er Mammon vor sich stehen, wie sie sich Staub von den Kleidern klopfte und ihre Augen wieder grinsten. »Die Hilfe hätte ruhig früher kommen dürfen.«
Natürlich hatte er Belphegor aus den Augen verloren und ihn vergessen. Dorian schaute sich um und sah den Dämonen hinter sich mit den Schultern zucken, während er ihn weiter festhielt. Die letzten Schattenschlieren zogen sich in seine Richtung zurück, bevor sie ganz zerfaserten, als wäre nie etwas gewesen.
»Aber es hat ja funktioniert, also will ich mich nicht beschweren.«
Dorian wollte sich losreißen und kam keinen Zentimeter weit. Die Realisation, verloren zu haben, schmerzte mehr als alle Erkenntnisse der letzten Tagen zusammen. Dieses Mal ging es um seine Flügel, um alles, was er besaß. Und Luzifer sollte das befohlen haben?
»Komm«, sagte Mammon. »Dann haben wir es hinter uns.«
»Tötet mich lieber!«, hörte Dorian sich schreien und stand voll und ganz dahinter. »Bringt mich einfach um, bitte!«
»Wenn wir das vorgehabt hätten, hättest du uns in den letzten fünf Minuten genug Gelegenheit gegeben.«
»Bitte…« Die Tränen raubten ihm alle Sicht und er wollte auf die Knie gehen, flehen, betteln. »Tötet mich, bitte! Bringt mich um, ich kann das nicht, ich…«
»Du bist ein Mensch, du hältst das aus.«
»Nein!« Jetzt wusste er nicht einmal, weswegen er das schrie. »Nein, nein!«
Dorian spürte den Boden unter sich nicht mehr. Die Temperatur stieg, das war nicht mehr die Erde. Ihm wurde immer schlechter, als er Gestalten vor sich erkannte, alle fast bis zur Unkenntlichkeit verhüllt.
›Wie kann Luzifer mir das antun?‹
»So«, sagte Mammon und klang immer noch kaum angestrengt. »Macht schnell, wenn’s geht, ich habe heute noch was vor.«