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Chris

25. Oktober

Erde

Die Straße stand unter Wasser. Tapfer kämpfte sich der Bus durch den Sturzregen, während die Scheibenwischer auf Hochtouren arbeiteten und trotzdem nur gerade genug Sicht zum Fahren ermöglichten.

Von seinem Sitzplatz aus konnte Chris kaum mehr als eine monotone Wasserwand erkennen, hinter der sowohl Asphalt als auch Häuserfassen zu gräulichen Flecken verschwammen. Zwar mochte er sowohl Herbst als auch Winter, aber der Übergang dazwischen war mit Abstand die schlimmste Jahreszeit. Zusammen mit dem Regenwetter schlug ihm die farblose Welt zuverlässig aufs Gemüt.

Der Bus hielt. Mit einem Seufzen standen eine Handvoll Leute auf, darunter dem Anschein nach ein paar Schülerinnen. Chris wünschte ihnen Glück, dass sie halbwegs trocken nach Hause kamen, aber weder er noch sie machten sich da wohl groß Hoffnung.

Erneut warf er einen Blick auf sein Handy, gab sich einen Ruck und wählte bestimmt zum fünften Mal. Nichts, nicht einmal der Anrufbeantworter. Seinem Vater sah das gar nicht ähnlich.

›Glaub mir, ich will das heute auch nicht‹, dachte Chris grummelnd. ›Aber du könntest wenigstens rangehen, damit ich weiß, dass du mich nicht vergessen hast und ich gleich nicht ewig vor der Tür stehe.‹

Idealerweise dauerte das Treffen nicht einmal lange, denn Chris wollte lediglich die letzten paar Umzugskartons aus seinem alten Kinderzimmer holen. Sein Vater hatte ihm versprochen, beim Tragen zu helfen und die Kartons danach zu seiner WG zu fahren. Alles in allem eine Sache von vielleicht zwei Stunden unangenehmen Schweigens gemischt mit unbeholfenem Smalltalk, und dann mussten sie sich frühestens zu Weihnachten wieder sehen.

›Wir haben seit der OP nicht mehr gesprochen.‹ Der Gedanke spukte unablässig durch Chris’ Kopf. Die Narben auf seiner Brust heilten zwar gut, und seit einer Woche musste er die verdammte Kompressionsweste nicht mehr tragen, aber schwere Kartons sollte er wenn möglich noch nicht heben. Deswegen hatte er mit dieser Sache eigentlich noch warten wollen, aber sein Vater war Manager mit einem Terminkalender, der förmlich nach einem Burn-Out verlangte, und gönnte sich in den kommenden zwei Monaten anscheinend keinen einzigen freien Nachmittag. ›Der Stimmbruch hat ihm ja schon nicht wirklich gefallen. Aber gut. Wenn er immer noch ein Problem mit mir hat, soll er selbst damit zurechtkommen.‹

Der Bus bremste abrupt ab, die Türen öffneten sich wieder und signalisierten Chris, dass er sich dem Draußen stellen musste. Am liebsten würde er sitzen bleiben und behaupten, er hätte verschlafen, die Zeit vergessen, oder spontan etwas Wichtigeres zu erledigen gehabt, aber davon bewegten sich die Kartons auch nicht durch die halbe Stadt.

Innerhalb von zwei Schritten durchnässte ihn der Regen fast bis auf die Unterhose. Missmutig zog sich Chris die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, als würde das etwas bringen, und versuchte, in so wenig Pfützen wie möglich zu treten, damit er nicht in einem der zahlreichen Schlaglöcher ertrank.

Auf dem Weg wandelten sich die Mehr- langsam zu Einfamilienhäusern, die Fassaden von Grau zu Weiß und wild wachsende Büsche zu sorgfältig gepflegten Schlammlandschaften, die einmal Vorgärten gewesen waren. Statt am Straßenrand parkten die gehobenen Mittelklassewagen nun in geräumigen Garagen – nicht dass den teuren Fahrzeugen noch etwas zustieß. In den Fenstern hingen bereits Halloweendekorationen, Kürbisse, Spinnennetze, Skelette und Geister überall. Chris wettete, dass es in mindestens einer dieser Vorstadtvillen wirklich spukte. Jede gutbürgerliche Nachbarschaft brauchte einen Poltergeist.

Immer, wenn er hier war, fühlte er sich von ungefähr einem Dutzend Leuten hinter Küchenfenstern beobachtet. Chris gehörte so offensichtlich nicht in diese Gegend – er war zu trans, nicht hetero genug, hörte die falsche Musik und hatte sein Studium nach zwei Semestern abgebrochen, nur um eine Ausbildung mit »irgendwas mit Medien« anzufangen. Aber etwa seit seinem zehnten Geburtstag redeten die Nachbarn ohnehin konstant über seine Familie. Klassischer Autounfall, wenn es so etwas gab, seine Mutter war sofort tot gewesen. Ihr Ehemann hatte sich in seiner Rolle als alleinerziehender Vater zwar gut genug angestellt, um Chris erwachsen und aus dem Haus zu bekommen, aber zu mehr hatte es nicht gereicht.

Er bog in eine Einfahrt und vergewisserte sich, die richtige Hausnummer erwischt zu haben. Die Häuser sahen sich zum Verwechseln ähnlich.

›Ich könnte auch einfach wieder gehen‹, dachte Chris und diskutierte mit sich, wie sehr er diese Umzugskartons wirklich bei sich haben wollte. Mit jedem Schritt wurde ihm schlechter und eine unterschwellige Angst machte sich in seiner Brust breit, die ihm unmissverständlich nahelegte, nach einer Ausrede zu suchen. Zu Schulzeiten war ihm ständig so zumute gewesen, doch diese Intensität kannte er nicht.

Vor der Haustür blieb Chris stehen und zögerte. Der Drang zu rennen ließ sich nun nicht mehr ignorieren, ebenso wie das Bedürfnis, sich neben den Briefkasten zu übergeben. Instinktiv tastete er nach dem silbernen Anhänger um seinen Hals – das einzige Erbstück seiner Mutter, das er immer noch besaß –, sammelte Mut, und blieb am Ende doch wieder still stehen. Das konnte doch nicht wahr sein.

›Komm schon. Wenn du dich an Weihnachten krank stellst, bist du dieses Jahr zum letzten Mal hier. Einmal musst du dich noch zusammenreißen und dann ist gut.‹

Chris klingelte mit unterwältigendem Ergebnis, denn nichts passierte. Mit zitternden Fingern kramte er seinen alten Haustürschlüssel aus der Hosentasche und trat ein. Innen herrschte eine so drückende Stille, dass sie selbst den Regen draußen übertönte.

Der Eingangsbereich bestand aus kalkweiß tapezierten Wänden, einem minimalistischen Schuhregal, einem leeren Garderobenständer und einer stereotyp grauen Fußmatte, auf der Chris wie angewurzelt stand und es nicht einmal wagte, sich die nassen Haare aus der Stirn zu streichen. Es kam ihm vor, als sollte er einem strengen Protokoll folgen, von dem er noch nie gehört hatte.

Er räusperte sich so geräuschvoll, dass er fast einen Hustenanfall bekam. »Jemand zuhause?«

Zuerst passierte nichts. Dann bewegte sich eine dunkle Gestalt schleichend langsam aus dem Wohnzimmer in den Flur. Sie sah aus wie ein Mensch, aber Chris spürte instinktiv, dass es keiner war. Rubinrote Augen starrten ihm entgegen, ein glänzender Blutfleck zierte die rechte Wange, zwei staubig blonde Haarsträhnen rahmten das wie aus Marmor gemeißelte Gesicht. Ein surrealer Glimmer machte es übernatürlich schön.

Der Fremde trug einen langen schwarzen Mantel, der den Rest seines Körpers scheinbar verschluckte, zwei Schatten ragten aus seinem Rücken. Als sein Blick auf Chris fiel, fror er mitten in der Bewegung ein.

›Du hättest rennen sollen‹, dachte Chris sofort. Alles Andere begriff er kaum, aber diese Tatsache konnte klarer nicht sein. ›Du hättest nicht zurückkommen dürfen. Nicht heute. Nicht jetzt.‹

Ohne den Blickkontakt zu brechen, wagte er sich einen Schritt rückwärts. Gerade, als er mit dem Rücken an die Haustür stieß, löste sich der Fremde aus seiner Starre, erreichte Chris innerhalb eines Augenblicks und presste ihn gegen die Tür, ihre Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt. Der Fremde verzog keine Miene. Ein winziges Rinnsal Blut lief ihm die Wange herunter.

Chris hielt die Luft an. Der Griff um seine Schultern war so fest, dass er fürchtete, mit einem falschen Atemzug seine eigenen Schlüsselbeine zu brechen. Schmerz pochte unter den Fingern des Fremden, fraß sich gleichzeitig in sein Hirn, weil er den Blick nicht abwenden konnte, weil er nicht verstand, während sich die Sekunden zu einer quälend langen Ewigkeit ausdehnten.

Chris wollte nach dem Warum fragen, aber die Welt kippte, noch ehe er ein Wort herausbekam. Zuerst blitzte es gleißend auf, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und dann gab sein Bewusstsein auf.

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