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Metatron

1138 Jahre vorher

Himmel

Das Ziehen in Metatrons Verstand verriet ihm nur, dass Gott ihn sprechen wollte. Über was genau, blieb wie immer ein Rätsel. Er machte sich mittlerweile nicht mehr allzu viel aus dieser Tatsache, sondern vertraute darauf, das Wichtigste früh genug gesagt zu bekommen. Fragen beantwortete Gott ohnehin nur in den seltensten Fällen.

Sandalphon grummelte da schon offener vor sich hin. Sein Zwillingsbruder hasste Ungewissheit und die damit einhergehende Tatsache, sich nicht vernünftig vorbereiten zu können. »Was meinst du, was er will?«, fragte er entsprechend nicht zum ersten Mal, während er sich den langen, weißen Mantel überstreifte. Seiner war mit weinrotem Samt bestickt, Metatrons mit hellblauem. Wäre die Kleidung nicht, könnte sie der ganze Himmel nicht voneinander unterscheiden, weil sie zu sehr wie exakte Kopien voneinander aussahen. Zwei Seiten von einer Person – unter den Seraphim gab es die Vermutung, dass Gott sie ursprünglich als einen einzigen Engel konzipiert hatte.

Metatron war wie gewohnt viel zu früh aufgestanden, saß schon fertig auf seinem Bett und fragte sich nun, warum er nicht einfach länger geschlafen hatte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er und gab sich Mühe, nicht allzu nervös zu klingen.

Sandalphon gab ein unzufriedenes Geräusch von sich, während er sich die goldblonden Haare im Nacken zusammenband, sodass sie die Wunden auf seinem Rücken nicht berührten, die unter den Aussparungen seiner Kleider zum Vorschein kamen. Sechs, für jeden Flügel einen. Die meisten Engel besaßen zwei, wenige hochrangige vier und allein die Seraphim sechs als Zeichen ihrer Macht.

»Wir werden es herausfinden«, sagte Sandalphon schließlich, strich sich noch einmal den Mantel glatt und begutachtete sich im Spiegel. Wie immer sah er hochzufrieden mit sich aus und gleichzeitig so, als störte ihn etwas Grundlegendes an sich selbst. Letzteres kannte Metatron nur zu gut.

Er stand vom Bett auf und streckte sich, als müssten sich seine Gliedmaßen erst wieder an den richtigen Platz sortieren. »Wollen wir?«

Sandalphon nickte einfach nur, ging an Metatron vorbei und aus ihrer gemeinsamen Wohnung hinaus in den Garten Eden.

Eingezäunt an der Spitze des Himmels lag die größte seiner raren Grünflächen. Laut den anderen Seraphim widersetzte sich der Garten allerdings seit jeher allen Kartierungsversuchen – er war ein lebendiges Wesen, das selbst entschied, was wo wuchs, und wer sich wie schnell verirrte, sobald er vom Weg abkam. Irgendwo befanden sich die Quellen der beiden Hauptflüsse, die den Himmel mit Wasser versorgten, aber Metatron hatte sie noch nie mit eigenen Augen gesehen.

Wenn sie nicht im restlichen Himmel unterwegs waren, lebten und arbeiteten die fünf Seraphim hier. Der Garten diente ihnen als geschützter Raum, in dem sie tun und lassen konnten, was sie wollten, ohne sich Gedanken um ihr Auftreten oder Sorgen um mögliche Angriffe machen zu müssen. Mit ihnen residierte Gott hier, in einem schlichten, steinernen runden Turm, um den fünf Wohnungen herum errichtet worden waren. Es lag in der Natur der Sache, dass man sich hier konstant beobachtet vorkam, was das Konzept der Ungestörtheit zumindest für Metatron direkt wieder zunichte machte.

Keine erkennbare Lichtquelle schien am Himmel, aber dennoch wurde es niemals dunkel. Hier, und nur hier, wehte ab und an eine leichte Brise und raschelte leise auf ihrem Weg durch die unzähligen Baumkronen im Hintergrund. Manchmal bereute es Metatron, sich an dem Anblick sattgesehen zu haben.

Der weiße Kies knirschte unter ihren Füßen, während sie zu Gottes Turm herüber gingen. Sandalphon drückte die schwere Marmortür auf – Metatron fühlte sich insgeheim zu schwach dafür – und trat danach als Erster ein. Innen gab es keine Wände, nur weißes Licht aus allen Richtungen und eine steinerne Treppe, die schnurgerade nach oben führte. Am Ende wartete angeblich Gott auf einen, und mehrere Engel hatten in der Vergangenheit versucht, ihn zu erreichen. Nach einer Weile ohne Lebenszeichen waren sie alle für tot erklärt worden.

Metatron und Sandalphon gingen nur ein paar Stufen hinauf und knieten danach simultan nebeneinander nieder. Kaum, dass sie ihre Haltung eingenommen hatten, drängte sich ihnen eine allumfassende, spürbar allmächtige Präsenz auf, lenkte sie unauffällig, und schaute tief in ihre Gedanken.

Metatron schloss die Augen und konzentrierte sich. Wenn Gott mit ihnen sprach, kostete das Kraft. Unter anderem deswegen blieb der Garten für die Allgemeinheit geschlossen, denn ein gewöhnlicher Engel hielte schon die Präsenz im Turm kaum aus. Die Seraphim kamen vergleichsweise gut mit der Belastung zurecht, aber nach einem stundenlangen Gespräch mit Gott waren auch sie zu nichts mehr zu gebrauchen.

Einige Sekunden herrschte Stille in Metatrons Kopf. Dann begann er mit seiner eigenen Stimme fremde Worte zu denken.

»Ihr seid beide hier. Gut.«

»Was gibt es?«, fragte Metatron. Er sprach laut, damit Sandalphon ihn hören konnte und weil sich das weniger seltsam anfühlte, als die Antwort nur zu denken. Gott schien es ohnehin gleich zu sein.

»Ihr werdet in zwei Jahren volljährig«, erklärte er. »Ab dann werdet ihr offiziell Seraphim sein, mit allen Rechten und allen Pflichten.«

Wirklich wohl war Metatron bei dem Gedanken nicht. Zwar behandelte man ihn jetzt schon kaum anders als die anderen Seraphim, aber im Moment wurden ihm Fehler noch nachgesehen. Diese Haltung dürfte sich ändern, sobald er in den Augen der Leute nicht mehr als Kind galt.

»Ich möchte euch bitten, über etwas nachzudenken. Mit eurer Volljährigkeit werdet ihr nicht nur vollwertige Seraphim, sondern auch meine persönlichen Stellvertreter und Stimme im gesamten Himmel sein. Dadurch werdet ihr mächtiger als alle anderen Engel und uneingeschränkt über ihnen stehen. Ihr werdet für mich mit dem Himmel sprechen. Ihr werdet für mich befehlen. Ihr werdet für mich herrschen. Und ihr dient allein mir.«

Es war das erste Mal, dass sie das direkt von Gott zu hören bekamen. Metatron schaute zu Sandalphon herüber, der wiederum stur auf die Stufe unter sich schaute und sich sichtlich anspannte. Bei ihm selbst warf es in erster Linie Fragen auf, die er vor lauter Verdrängen beinahe vergessen hatte.

»Ich vertraue euch genug, um mich von euch vertreten zu lassen«, fuhr Gott fort – das war wohl die Stelle, an der er ihnen den Haken an der Sache nannte. Wenn Metatron eins in seinen beinahe eintausend Jahren gelernt hatte, dann dass es immer einen gab. »Aber ich muss sichergehen, dass ihr mein Wort sprecht und mein Wort allein. Ihr werdet den gesamten Himmel lenken können und das soll nach meinem Willen geschehen. Wenn ihr den Schwur in zwei Jahren leistet und euch an mich bindet, dann werde ich auch dafür sorgen, dass ihr nicht mehr lügen könnt.«

Sandalphon runzelte die Stirn. »Wir könnten nur noch nach Eurem Willen sprechen.«

»Ja.«

So wie sein Bruder aussah, würde Metatron dessen Meinung exakt dann zu hören bekommen, wenn sie diesen Raum verließen und die Steintür hinter ihnen ins Schloss fiel.

»Ihr müsst das nicht tun«, erklärte Gott. »Ich nehme den Eingriff nur mit eurem Einverständnis vor, denn ein unfreiwilliger Diener nützt mir nichts. Ich bitte euch, in den kommenden Jahren eine Entscheidung zu treffen, ob ihr den Schwur leistet.«

»Wir müssen das nicht?« Sandalphon klang, als könnte er nicht glauben, was er da gerade hörte. Zugegeben, Metatron konnte ihn verstehen. Der freie Wille eines jeden Engels wurde zwar mit Stolz betont, ging aber zwischen der wesentlich lauteren Forderung nach striktem Gehorsam unter. Den Seraphim ging es da nicht anders als dem Rest des Himmels.

»Ihr könnt den Schwur leisten oder nicht. Ihr könnt zustimmen oder ablehnen. Was ihr tut, liegt letzten Endes bei euch.«

»Nun…« Sandalphon schüttelte irritiert den Kopf. »Wenn das so ist, dann denke ich nach. Gibt es noch etwas?«

»Nein.«

›Ja‹, dachte Metatron und gab sich Mühe, es nicht wie eine Aussage klingen zu lassen. Gott war die letzte Person, mit der er dieses Problem diskutieren wollte. ›Warum weiß ich nicht, wie ich Euch ansprechen soll? Warum weiß ich nicht, als was ich Euch bezeichnen und wie ich über Euch reden soll?‹

Wie erwartet und erhofft bekam er keine Antwort. Stattdessen zog sich Gott ohne ein weiteres Wort aus ihren Köpfen zurück, sodass sie wieder Herren über ihre eigenen Gedanken waren.

Herren. Das Wort versetzte Metatron einen Stich und er wusste nicht warum. Er versuchte es zu ignorieren und machte das Wort dadurch nur noch präsenter in seinem Kopf, bis es sich von allein wiederholte und als endloses Echo durch seinen Verstand hallte. Er spürte sich kaum die Treppenstufen heruntergehen und Sandalphon nach draußen folgen. Sein Bruder drückte die Tür auf, ließ Metatron als Erstes hinaus und holte dann direkt zu ihm auf.

»Wie kann er glauben, dass wir das annehmen?«, fragte Sandalphon, laut genug, dass ihn hier theoretisch alle hören könnten. Praktisch waren Michael und Satan unterwegs und da sie Seraphiel nicht im Turm angetroffen hatten, dürfte der sich ausruhen oder schlafen. »Wie kann er glauben, dass wir uns freiwillig an ihn binden? Wir dürften nicht einmal eine eigene Meinung haben, wenn wir-«

»Das wissen wir nicht«, widersprach Metatron und schob dem Redefluss kurzfristig einen Riegel vor. »Sag mal…«

»Ja?«

»Tut mir leid, dass ich dich unterbreche«, sagte er. Am liebsten hätte er das Thema ganz vermieden, aber diese verfluchten Fragen… »Als was siehst du Gott?«

Sandalphon stutzte. »Wie bitte?«

Metatron zögerte. Er konnte die Sache kaum beschreiben und musste sich mühsam zu einem Versuch überreden. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er eine vernünftige Formulierung fand. »Alle sprechen Gott so an, wie sie selbst angesprochen werden wollen, richtig?«

Sandalphon nickte und machte nicht den Eindruck, als würde er verstehen.

»Geht dir das auch so?«

»Natürlich. Gott spricht mit meinen Gedanken, ihn anders als mich anzusprechen, fühlt sich falsch an. Wie kommst du überhaupt darauf?«

›Ich weiß nicht, als was ich mich bezeichnen soll‹, dachte Metatron und dieser Umstand kam ihm so unfassbar lächerlich vor. Hoffentlich war er einfach nur verschlafen. »Nicht so wichtig«, murmelte er und überließ seinem Bruder wieder das Feld.

»So einen Schwur kann ich nicht leisten«, sagte Sandalphon. »Und wenn Gott uns die Wahl lässt, muss er damit rechnen, dass ich es lasse.«

›Du sagst das so leicht‹, dachte Metatron. ›Du hast ihn doch gehört, wir sind geschaffen worden, um ihn zu vertreten. Was für einen Sinn haben wir denn, wenn nicht den? Du hast ja recht, aber…‹

Er fühlte sich der Sache hilflos ausgeliefert, jedem noch so freien Willen zum Trotz. Es wäre ihm lieber, jemand anders würde die Entscheidung für ihn treffen und die Angelegenheit damit erledigen.

Ohne ein weiteres Wort ging Sandalphon zu ihrer Wohnung und ließ Metatron mit sich und seinen Gedanken allein. So viele Fragen. Es kam ihm vor, als müsste er für jede eine Antwort haben, doch er wusste keine einzige.

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