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15

Chris

11. November

Erde

Chris schaute an die Stelle, an der Dorian eben noch gestanden hatte, und schüttelte den Kopf. Halb erwartete er, ihn gleich zusammen mit Adrian gemeinsam auf ihn losgehen zu sehen und sich endgültig naiv vorzukommen, doch stattdessen begann Dorian zu diskutieren. Den Stimmen nach zu urteilen, brachte das herzlich wenig.

Nur einen Augenblick später traf eine plötzliche Welle von Energie Chris mitten im Gesicht, sodass er nach hinten stolperte und sich beinahe den Kopf am Beton aufschlug. Es knallte etwas weiter entfernt von ihm, er schaute wieder auf und sah zwei Umrissgestalten aufeinander losgehen, bevor sie in einen Vorgarten stürzten. Chris ahnte, dass er das in dieser Dunkelheit gar nicht erkennen können sollte.

Im nächsten Moment kam Adrian durch das Loch in der Wand geflogen und bewies, dass Blicke nicht töten konnten, denn ansonsten hätte Chris gerade das Zeitliche gesegnet. »Ich will sehen, wie du dieses Mal deinen Arsch rettest.«

Instinktiv hechtete er zur Seite und wurde trotzdem noch erwischt. Adrian packte ihn und schleifte ihn einmal durch den ganzen Raum, bis sie beide gegen die Wand stießen. Der Boden verschwand unter Chris’ Füßen und er fühlte sich kurz wie im freien Fall, dann spürte er rauen, heißen Stein unter sich. Er wurde losgelassen, blieb kurz liegen und atmete die sengende Luft ein. Immerhin hatte ihn das aufgeweckt.

Er kam auf die Beine, sah Adrian neben sich dasselbe tun und ihn mit noch deutlicherer Mordlust in den Augen erneut angreifen. Chris wollte zuerst ausweichen, realisierte aber im letzten Moment, dass er so nicht ewig weitermachen konnte, und schlug stattdessen zu. Seine Faust traf etwas Hartes und Adrian stöhnte auf, fing sich aber direkt und zielte auf Chris’ Magen.

Er biss die Zähne zusammen, wollte keinen Laut von sich geben und schaffte es nicht ganz. Kurz tanzten bunte Funken vor seinen Augen. Chris atmete tief ein und gegen das aufkommende Seitenstechen an. ›Wenn ich gewusst hätte, dass ich irgendwann hier ende, hätte ich doch mit Sport angefangen.‹

Adrian setzte dazu an, ihn in den Schwitzkasten nehmen zu wollen. Chris riss sich gerade noch rechtzeitig los, tauchte unter ihm hinweg, und schürfte sich Handflächen und Ellbogen auf. Als er sich abrollte, schaute er nach oben und bemerkte jetzt erst, unter einem freien, blutroten Himmel zu stehen – selbst außerhalb der Tunnel im Gebirge, fühlte er sich eingeschlossen. Die schiefergrauen Wolken hingen in der Luft, als liefen sie Gefahr, ihnen jeden Moment auf den Kopf zu fallen.

›Okay‹, dachte Chris. ›Mit Kraft alleine gewinne ich das hier bestimmt nicht. Aber mit ein bisschen Glück kann ich ja…‹

Er streckte einen Arm aus, so wie Dorian das gestern noch getan hatte, fokussierte sich auf eine Energie, die er nicht kannte und an die er nicht einmal glauben würde, hätte er sie nicht eigenen Leib erlebt. Tatsächlich sammelte sich etwas in seiner Handfläche und wurde als Leuchten sichtbar, bis Chris es von sich stieß – im nächsten Moment wurde Adrian von einer unsichtbaren Kraft erwischt und mit einem erneuten Schrei weit nach hinten geschleudert. Er breitete seine Flügel aus, bremste mitten in der Luft und kam zum Stehen, noch ehe er auf dem Boden aufschlug.

»Wehr du dich wenigstens nicht!«, brüllte er Chris entgegen. »Ergib dich einfach, das hätte Dorian auch machen sollen!«

»Was passiert jetzt eigentlich mit dem?« Es sollte Chris wirklich nicht kümmern, aber er kam nicht umhin, sich trotzdem zu wundern.

Adrian sank kurz Richtung Boden, landete aber nicht. Die Frage brachte ihn offensichtlich durcheinander. »Luzifer hat die Höchststrafe angeordnet«, murmelte er. »Er kriegt die Flügel gestutzt… Scheiße, frag mich sowas nicht!«

›Können sie nicht einmal darüber reden?‹ Spätestens jetzt machte Chris sich Sorgen. Er hätte alles Recht, Dorian die Pest an den Hals zu wünschen, aber nach allem, was er mittlerweile wusste und sich zusammengereimt hatte, erschien ihm das nicht mehr verhältnismäßig. »Warum?«

»Was kümmert dich das überhaupt?« Adrian sah aus, als drehte es ihm mit jedem Gedanken an die Sache den Magen noch ein Stückchen weiter um. »Steht die ganze verdammte Welt auf dem Kopf oder was?«

»Aus meiner Perspektive schon«, erwiderte Chris, weil er nicht anders konnte. Im nächsten Moment duckte er sich unter einem Schlag weg, stolperte über seinen Mantel und bekam überraschend Adrians Fußgelenk zu fassen, als er nach Gleichgewicht suchte. Sie gingen beide mit einem unterdrückten Stöhnen zu Boden, aber Chris stand zuerst wieder auf.

Die Gelegenheit musste er nutzen, ob sein Gewissen wollte oder nicht. Ehe er es sich versah, stand er über Adrian, einen Fuß auf dessem rechten Schlüsselbein, um ihn am Aufstehen zu hindern.

»Wag es nicht«, flüsterte der Engel zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, wollte nach hinten rutschen und kam höchstens ein paar Zentimeter weit. »Wir lassen dich nicht in Ruhe, wir werden dich jagen und Luzifer wird dich quälen, bis du um Gnade flehst. Glaub ja nicht, dass du jetzt gewonnen hast!«

›Ich glaube nicht, dass gerade irgendjemand irgendetwas gewinnt‹, dachte Chris. Er könnte Adrian laufen und mit Schrecken davonkommen lassen, oder einen Fehler machen und sich seinem Schicksal stellen. Aber das eine half ihm nicht weiter und das andere verbot ihm sein Überlebensinstinkt.

›Ich wünschte, mich würde jemand zwingen. Egal wer. Hauptsache, ich hätte die Freiheit nicht.‹

Chris kniff die Augen zusammen, als müsste er das alles dann nicht erleben müssen, ballte die Fäuste, atmete tief durch. Versuchte, allen Hass auf die Welt, auf Luzifer und seine Leute und auf die Gesamtsituation zu kanalisieren, damit es sich zumindest für den Moment nicht mehr schlimm anfühlte, und trat zu. Adrian gab einen unterdrückten Schmerzensschrei von sich, dann noch einen, und danach wimmerte er nur noch. Chris wollte sich zurückhalten, verfolgen würde er ihn jetzt nicht mehr, aber zumindest die Schmerzen wollte er Adrian ersparen. Wenigstens irgendeine Form von Gnade. Nicht, dass das groß zählte.

Er behielt die Augen geschlossen und hörte nicht auf zu treten, bis er das Gefühl hatte, dass da nur noch ein lebloser Körper unter ihm lag. Ruckartig löste er sich aus seiner Trance, und stolperte mehrere Schritte nach hinten, während das Realisieren einsetzte. Die Übelkeit schlug ihm in den Magen, Chris fiel zurück auf den Boden und konnte die ohnehin schon kläglichen Reste seines Essens nicht mehr länger bei sich behalten. Seine Gedanken flossen immer zäher, bis sie schließlich ganz die Arbeit einstellten. Alles um ihn herum kam ihm nicht länger real vor.

Chris blieb am Boden sitzen, hielt sich den Magen, würgte wieder, aber es kam nichts mehr. Das Adrenalin ließ nach und ließ ihn am ganzen Körper zittern, bis er sich Dorians Decke zurückwünschte, ein Bett zum verkriechen und jemanden, der ihn festhielt und ihm sagte, dass alles wieder gut wurde. Irgendjemand, der ihn verstand.

›Was bin ich geworden?‹

Er zwang sich, die Augen zu öffnen und wenigstens anzusehen, was er angerichtet hatte. Zuerst glaubte er, vor lauter Verwirrung Adrians Leiche nicht mehr wiederzufinden, dann fiel ihm eine einzelne, schwarze Feder vor die Füße. Dann noch eine. Dann begann es in der Hölle zu regnen.

Tausende Federn hingen wie schwerelos in der Luft, sanken anschließend zu Boden und bildeten einen schwarzen Teppich auf dem blutig roten Stein. Sie konzentrierten sich an der Stelle, an der Adrian liegen sollte, doch von ihm fehlte jede Spur.

Chris kam nicht umhin, den Anblick merkwürdig schön zu finden, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Er wollte die Hand ausstrecken und eine der Federn berühren, zuckte aber wenige Millimeter davor zurück. Es kam ihm nicht richtig vor.

Ein leichter Windstoß kam auf. Die Federn wirbelten durcheinander, schienen sich einen Moment lang den Kräften widersetzen zu wollen, und ließen sich dann doch in die Ferne tragen. Hunderte andere blieben auf dem Boden liegen, als wollten sie Chris daran erinnern, sich auch das hier nicht einzubilden.

›Hoffentlich kannst du so etwas wie Frieden finden‹, dachte er. Er umklammerte den Anhänger mit beiden Händen, hielt sich daran fest, klammerte sich ans Hier und Jetzt, damit die Panik ihn nicht holte. Trotzdem schlich sie um ihn herum, kroch ihm in den Nacken, und wartete auf den Moment, in dem Chris in sich zusammenfiel.

»Es tut mir leid.« Mit jedem Wort wurde er heiserer. »Du hast das nicht verdient, es tut mir so leid.«

Er gab sein Bestes, um zu weinen, aber die Hitze trocknete seine Tränen aus.

Was Menschlich Ist

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