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7

Chris

2. November

Erde

Für einen langen Moment stand die Welt still. Rückblickend hätte Chris das wohl wertschätzen sollen, denn währenddessen realisierte er noch nicht, was gerade passiert war. Erst nach Minuten, in denen sich der Engel nicht geregt und Janne kein Wort gesagt hatte, drang die Erkenntnis wie in Zeitlupe zu ihm durch.

›Scheiße‹, dachte er. Dann fiel ihm nichts mehr ein.

Um den toten Engel herum breitete sich ein blasses Leuchten aus. Durch den Staub hindurch verdichtete es sich, sammelte sich in den beiden ausgebreiteten Flügeln und zerstreute sich schließlich zusammen mit Tausenden weißen Federn. Letztere schwebten erst reglos in der Luft, drifteten dann langsam in Chris’ Richtung, umkreisten ihn, als suchten sie etwas. Kurz fühlte er so etwas wie einen Energieschub, als das Licht in seinen Körper eindrang – und dann war da nichts mehr. Die Federn fielen wie Steine zu Boden. Anstatt von Flügeln ragten nur noch bleiche Knochen in die Luft.

Janne ließ die Leiche mit einem überraschten Schrei fallen, packte Chris an beiden Schultern und begann ihn heftig zu schütteln. »Fühlst du was? Ist irgendwas anders? Sag schon!«

»Mir ist schlecht«, erwiderte er und gab sein Bestes, um sich nicht auch noch neben der Leiche zu übergeben. Automatisch tasteten seine Finger nach dem Anhänger um seinen Hals und allein diese Berührung hielt ihn in der Realität verwurzelt. »Ich habe gerade nicht wirklich-«

»Ja!«, unterbrach ihn Janne aufgeregt, vermutlich aus den völlig falschen Gründen. »Du hast es hingekriegt! Wir haben es endlich hingekriegt! Wir-« Er runzelte die Stirn und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf Chris. »Also… haben wir doch, oder?«

»Äh.«

»Du hast ihn umgebracht!«

»Ich weiß«, murmelte Chris, als könnte er mit dieser Tatsache umgehen.

»Irgendwas musst du doch spüren, verdammt noch eins!« Janne schüttelte ihn weiter, bis ihm schwindelig wurde. »Du kannst mir nicht erzählen, dass-«

»Chris.«

Beide erstarrten mitten in der Bewegung. Alles um sie herum verstummte. Chris wurde kalt und er begann zu zittern, während Janne ihn langsam losließ und mehrere Schritte rückwärts ging. Erst schaute sich der falsche Engel verwirrt um, dann ging ihm offenkundig ein Licht auf. »Er ruft uns«, erklärte er und klang gleichzeitig aufgeregt und zutiefst verstört. »Komm. Wir müssen zu ihm.«

»Was?« Chris hielt sich die Stirn. Ein fremdes, doch bekanntes Bewusstsein durchwühlte plötzlich seinen Verstand und zog ihn mit aller Kraft in die Hölle. Er wollte sich wehren und war sich gleichzeitig bewusst, dass es dafür längst zu spät war. »Wie-«

»Egal. Komm jetzt!«

»Chris!« Sein Name hallte mit einer fremden Stimme durch seinen Kopf, begleitet von einem pochenden, migräneartigen Schmerz. Das Ziehen wurde stärker. Mittlerweile wollte Chris ihm aktiv nachgeben, in die Hölle zurückkehren und sich dem stellen, was ihn dort erwartete, aber er wusste nicht wie.

Janne streckte die Hand nach ihm aus. Instinktiv zuckte er zurück und erwartete, geschlagen zu werden, doch stattdessen fasste ihn der falsche Engel beinahe sanft am Handgelenk und zog ihn zu sich. Es blitzte wieder um sie beide herum auf, die Luft wurde stickig und heiß, der Boden hart, die Welt dunkel. Hölle.

Der Raum war größer als die Handvoll, die Chris in den letzten Tagen zufällig entdeckt hatte, aber bis auf einen dunklen, verstaubten Teppich ebenso leer. Kaum, dass sie angekommen waren, ließ Janne ihn los und fiel auf die Knie. Er biss sich auf die Unterlippe, und presste die Flügel so eng wie möglich an seinen Körper, ohne die Kleidung zu berühren. »Mach keine Scheiße jetzt«, murmelte er kaum verständlich.

»Ich versuch es«, antwortete Chris ebenso leise. Nicht dass er Janne sonderlich mochte, aber gerade steckten sie in derselben Situation und das schweißte bekanntlich zusammen.

Es dauerte nicht lange, bis das verhasste Licht den Raum erfüllte. Die Tür ihnen gegenüber flog so abrupt auf, dass es sie aus den Angeln hob, sich mehrere Risse im Stein bildeten und Staub und kleine Kiesel von der Decke regneten. Zuerst war nur eine gleißende Wand aus Weiß zu sehen, danach zeichnete sich Luzifers Gestalt hinter dem Schein ab. Er trug eine ungesunde Mischung aus Vorfreude, Anspannung und Angst im Gesicht.

»Ihr solltet zu mir kommen und nicht ich zu euch!«, herrschte Luzifer Janne als erstes an, woraufhin der auf etwa die Hälfte seiner Größe schrumpfte, den Kopf einzog und eine Entschuldigung murmelte. »Ist der Engel tot?«

»Ja«, antwortete Chris mechanisch, als hätte jemand anders das getan.

»Das kann nicht sein.«

›Glaub mir, das hab ich mir von allen Dingen hier noch an wenigsten eingebildet.‹ Sicherheitshalber schaute Chris trotzdem noch einmal auf seine Hände. Verschmiertes Engelsblut prickelte und brannte auf seiner Haut – eine andere Facette der gleichen Feindseligkeit, die die Hölle ihm entgegenbrachte.

Luzifer trat einen Schritt auf ihn zu und befahl ihm schweigend, an Ort und Stelle zu bleiben, sodass sich Chris spontan wie versteinert vorkam. Er schluckte, als der Engel eine Hand ausstreckte und ihn am Kinn fasste, seinen Kopf anhob und ihm in die Augen sah. Da war es wieder, das Gefühl, in seinen Gedanken nicht allein zu sein.

»Das kann nicht sein«, murmelte Luzifer noch einmal, jetzt deutlich ungläubiger. Chris glaubte, ihn unter dem Glimmer zusehends blasser werden zu sehen. »Das ist nicht möglich, wie ist das…«

›Ich hab keine Ahnung, was passiert ist. Ich dachte, du könntest mir das sagen.‹ Luzifer fror mitten in der Bewegung ein und schaute Chris an, als wäre er dem Engel gerade mit vollster Wucht auf den Fuß getreten. ›Scheiße, das kriegt er auch mit.‹

»Ja, das tut er«, antwortete der Engel fast flüsternd und zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, ehe er Chris losließ und ihn von sich stieß. Wieder ging eine Druckwelle durch den Raum, Chris stolperte rückwärts, streckte die Hand aus und fand nirgendwo Halt. Janne schaute ihm hinterher, ehe er sich wieder zusammenkauerte.

»Wie kann das nicht funktioniert haben?« Während Luzifer sprach, wurde seine Stimme immer lauter, bis der Boden zu beben begann und schließlich das ganze Gebirge erzitterte. Chris wagte mehrere Schritte rückwärts, bis er gegen eine Wand stieß. Flüchten konnte er so nicht, aber immerhin sicher stehen.

Janne machte gerade Anstalten, wieder auf die Beine zu kommen, als ihn die nächsten Schockwellen direkt wieder in die Knie zwangen. Jedes Wort, das Luzifer herausschrie, schlug mit voller Wucht auf sie beide ein. Chris duckte sich wie vor einem Hagelschauer und wurde trotzdem erwischt, spürte die Frustration und den blanken Hass. Das Licht breitete sich aus, bis bis es den ganzen Raum erfüllte und durch Luzifers Stimme Wellen schlug. »Wie kann das sein?«

»Ich-« Chris brach ab, doch das Verlangen, auf Knien um Vergebung zu bitten, setzte sich am Ende durch. »Es tut mir leid, ich wollte das nicht, ich-«

»Geh mir aus den Augen!« Wieder ein Schlag, dieses Mal mit vollster Wucht ins Gesicht. Kurz knackte es und Chris glaubte erst, es seine Nase wäre gebrochen, aber es war nur die Wand hinter ihm, die mit erschreckender Geschwindigkeit in sich zusammenfiel. »Du bist ein Fehler, du hast nicht in meiner Nähe zu sein. Ihr habt beide versagt!«

Bei den letzten Worten nickte Janne hastig, kam schwankend auf die Beine und stolperte durch das Loch in der Wand nach draußen. Chris sollte ihm folgen, es bräuchte nur ein paar Schritte und er wäre weg von hier Aber trotzdem, trotz der Tatsache, dass ihn gerade niemand an dieser Stelle haben wollte, blieb er vor lauter Angst paralysiert stehen.

»Du bist falsch«, fuhr Luzifer fort, nun um einiges beherrschter. Doch die Frage war nicht, ob er wieder die Nerven verlor, sondern wann und wie lange Chris dann noch Zeit hatte, um zu rennen. »Es muss an dir liegen, ich mache keine Fehler.«

Er biss sich auf die Lippe, um sich nicht einmal seinen Teil zu denken. Sicher war sicher.

»Warum bist du falsch?« Luzifer starrte Chris bis ins tiefste Selbst, ließ ihn den konzentrierten Hass spüren, bis es ihm von innen heraus die Kehle zuschnürte. Die Welt flackerte, die menschliche Form des Engels verschwand und verzerrte sich zur Lichtgestalt. »Ich wäre frei gewesen!«

›Stimmt, da war ja was. Scheiße.‹

Eine unmenschliche Kraft hob Chris wie eine Puppe in die Luft und schleuderte ihn durch das Licht nach draußen, begleitet von einem unmenschlich kreischenden Schrei. Das Geräusch fraß sich durch Chris’ Gehörgänge, kroch ausgehend von seinem Kopf als Gänsehaut und eisiger Schauer durch seinen Körper, sammelte sich in seinem Magen und rief die Übelkeit erneut auf den Plan. Als Echo prallte es von den Wänden ab, vervielfältigte sich und sang seinen eigenen, schrecklichen Kanon. Chris stimmte ein, als er auf dem rauen Boden aufprallte, sich den Rücken durch den Stoff seines Mantels hindurch aufschürfte und seine Flügel den Stein berührten. Instinktiv kauerte er sich zusammen und presste die Hände auf die Ohren, doch die Geräusche hallten ihm unaufhörlich durch den Kopf.

Mehrere Erschütterungen schoben sich durch den Stein, jedes Mal ein größeres Beben. Zuckendes Leuchten aus dem Raum, in dem Luzifer den Geräuschen nach zu urteilen gerade alles kurz und klein schlug. Es regnete Staub, der Fels brach knirschend weiter auf, bis er den Blick auf einen neuen Tunnel freigab. Ein unheilvolles Knacken, dann Krachen, dann Stille.

›Renn‹, sagte der letzte Teil von Chris’ Verstand, der während der ganzen Angelegenheit noch die Nerven behalten hatte. Es musste ebenfalls dieser Teil sein, der ihn auf die Beine brachte und seine letzten Kräfte mobilisierte, um so viel Abstand wie nur möglich zu gewinnen.

Unterdessen ging ein erneutes dumpfes Grollen durch Wände, Boden und Decke, so tief, dass Chris es mehr spürte als hörte. Es wuchs zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen heran, begleitet von einem Kratzen und Schieben und dann brach der Tunnel hinter ihm ein. In seiner Panik schlug Chris mit den Flügeln, stieg kaum einen halben Meter in die Luft und flog den Rest, in der Hoffnung, dadurch schneller zu sein. Mit letzter Mühe rettete er sich in den nächsten Raum, stolperte über seine eigenen Füße, rollte sich ungeschickt auf dem Boden ab und blieb liegen. Die Erschütterungen setzten sich fort.

›Ich kann hier nicht bleiben.‹ Nur deswegen stand er doch noch einmal auf. Vielleicht, wenn er sich einfach nur fest genug auf die Erde wünschte… ›Luzifer bringt mich um, wenn er mich noch mal sieht. Ich muss hier weg. Ich muss nach Hause.‹

Die Luft um ihn herum kühlte ab. Chris atmete auf, obwohl er nicht einmal wusste, was er eigentlich tat. Er klammerte sich einfach an die Hoffnung, die Hölle nie wieder betreten und Luzifer nie mehr ins Gesicht sehen zu müssen und betete, dass das reichte.

»Mach das nie wieder, okay?«

›Scheiße. Janne. Hätte er sich nicht einfach woanders hin verziehen können?‹

»Warte, was hast du vor? Hey… Hey, bleib hier!«

Gerade, als die Welt um Chris herum kippte und er aus dem Gleichgewicht geriet, packte Janne ihn an den Schultern und hielt ihn damit sowohl auf den Beinen, als auch in der Hölle fest. Chris riss sich los und schlug ziellos nach vorn. Er rechnete nicht damit zu treffen und schrie deswegen ebenfalls auf, als seine Faust auf etwas Hartes stieß, und ein dumpfer Schmerz durch seine Knöchel ging.

»Tut mir leid«, murmelte Chris, während er Janne noch zweimal ins Gesicht schlug und sich weiter auf die Erde wünschte. Egal wo, nur nicht mehr hier. Nicht mehr in Luzifers Reichweite und raus aus diesen verdammten Tunneln.

Wieder kippte die Welt, begleitet von Jannes unzusammenhängender Kette an Flüchen, die er Chris als Verabschiedung mit auf den Weg schickte. Seine Knie versagten, noch während er die Hölle verließ, und noch vor dem ersten Atemzug zurück auf der Erde lag er bereits am Boden. Die kalte Luft der Umgebung fühlte sich wie ein Wachrütteln an, der Asphalt wie ein Willkommen.

Chris schaute sich hektisch um und fand sich mitten auf der verlassensten Landstraße wieder, die er je gesehen hatte. Keine Menschenseele weit und breit, keine Häuser, nicht einmal Straßenlaternen. Seine Gefühle stritten sich darum, ob er deswegen erleichtert oder aufgrund der offensichtlichen Einsamkeit auf noch eine weitere Weise verzweifelt sein sollte, einigten sich aber am Ende auf eine tiefgreifende Erschöpfung.

Mit letzter Kraft schleppte er sich an den Straßenrand, sank ins hohe Gras und starrte in die Gegend, ohne einen Fokus zu finden. So viel sollte ihn beschäftigen. Doch seine Gedanken blieben leer, als wüsste sein Hirn nicht, wo es anfangen sollte.

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