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Dorian

10. November

Erde

Abgesehen von einem Dach über dem Kopf bot die Bauruine so gut wie keinen Schutz. Der Beton und die Ziegelsteine sahen aus, als wären die Arbeiten schon vor langer Zeit aufgegeben worden, eine Wand war zur Hälfte eingestürzt, und im Garten wuchs das Unkraut unkontrolliert vor sich hin. Wie ein Schandfleck stand das Gebäude am Rande der Siedlung in gebührendem Abstand zu den restlichen Häusern und Dorian wunderte sich, weswegen es noch niemand abgerissen hatte.

Nachdem sie gelandet waren, hatte er sich mit der Ausrede entschuldigt, etwas Essbares zu suchen. Nicht nur, um Chris und sich wieder auf die Beine zu bekommen, sondern auch, weil Herumschleichen, Auskundschaften und Einbrechen Routine bedeutete. Nur ein gewöhnlicher Auftrag. Völlig an der Realität vorbei.

Die gewohnten Abläufe beruhigten ihn. Dorian ging einmal um das Haus herum, immer im Schatten verborgen, und spähte durch die Fenster auf der Suche nach Lebenszeichen. Innen fand er keine Menschen, in der Garage kein Auto, dafür allerdings einen Stapel Zeitungen vor der Haustür. Gut.

Mit einem Flügelschlag überwand Dorian den Gartenzaun, landete auf der anderen Seite und rutschte fast auf den feuchten Terrassenfliesen aus. Er streckte sich, ging vorsichtig zur Tür herüber und trat mit voller Wucht auf die Scheibe ein, sodass sich Scherben in jede Richtung verteilten. Normalerweise legte Dorian Wert darauf, weder Lärm zu machen noch Spuren zu hinterlassen, aber gerade brachte er die Konzentration nicht dafür auf. Und wenn jemand nach ihm suchte, sah das hier nicht nach seiner Methodik aus.

Der Gedanke stoppte ihn mitten in der Bewegung. ›Ob wohl jemand außer uns nach Chris sucht? Hat er Freunde und Verwandte, die ihn jetzt vermissen? Habe…‹ Allein bei der Überlegung wurde Dorian übel. ›Habe ich Freunde und Verwandte gehabt?‹

Die Scherben knirschten unter seinen Stiefeln, als er ins Haus trat, bohrten sich aber nicht tief genug in die Sohlen, um ihn zu verletzen. Mit schnellen Schritten ging er durchs Wohnzimmer, fand die Küche und klemmte sich als erstes zwei Wasserflaschen unter den Arm, die einsam auf der Arbeitsplatte standen. Er durchsuchte eine Handvoll Schränke und stieß erst nur auf Töpfe, Pfannen und Geschirr, bevor er den Kühlschrank öffnete. Außer ein paar Früchten nahm er nichts mit, denn den Inhalt der Plastikpackungen und Glasflaschen kannte er nicht.

›Isst Chris solche Sachen?‹, dachte Dorian. ›Und wenn ich ihn frage, glaube ich ihm dann?‹

Beim Hinausgehen entdeckte er im Wohnzimmer eine zusammengefaltete Decke auf dem Sofa liegen und Dorian nahm sie spontan auch noch mit. Der Morgen mochte zwar schon ein paar Stunden alt sein, doch es wollte und wollte nicht wärmer werden und sie hatten wahrscheinlich beide genug gefroren.

Dorian verließ das Haus durch die Vordertür, hielt einen Moment lang inne und flog schließlich zurück zur Bauruine. Seine Flügel trugen ihn automatisch in die richtige Richtung.

Der Mensch saß immer noch genau so in dem Raum, wie Dorian ihn zurückgelassen hatte. Durch die harten Schatten und das kalte Licht von draußen sah Chris kreidebleich aus, seine Augenringe wie mit schwarzer Tinte gemalt. Die dunkelbraunen, beinahe kinnlangen Haare fielen ihm strähnig und verschwitzt in die Stirn. Um seinen Hals hing ein silbriger Anhänger, den er mit abwesender Miene zwischen den Fingern drehte. Die Flügel spreizten sich in einem merkwürdigen Winkel von seinem Rücken ab, damit sie den Beton nicht berührten und das Zittern machte nur allzu deutlich, wie anstrengend das sein musste.

Dorian flog zielsicher durch das Loch in der Wand, landete und zog seine eigenen Flügel ein, ehe er zu Chris herüberging. Der blinzelte daraufhin mehrmals und schüttelte den Kopf. »Wie hast du-«

»Die Flügel sind zu empfindlich, um sie jederzeit offen zu tragen. Wenn wir nicht fliegen müssen, ziehen wir sie ein.«

»Wie soll das… Dreh dich mal um.«

Bei jeder anderen Person hätte Dorian befürchtet, sie wollte ihm in den Rücken fallen, aber hier erschien ihm das Risiko klein genug. Wirklich wohl fühlte er sich trotzdem nicht dabei.

Eine Weile lang blieb Chris still und begutachtete vermutlich die zwei offenen Wunden auf Dorians Rücken, die sich dort anstelle seiner Flügel befanden. Natürlich waren auch sie empfindlich, aber damit konnte man in der Regel deutlich besser umgehen als mit zwei riesigen gefiederten Gliedmaßen.

»Wie?«, fragte Chris schließlich noch einmal.

Dorian zögerte und musste ernsthaft nachdenken, ehe er auf eine Antwort kam. Er hatte nie eine Anleitung gebraucht, als gefallener Engel gehörte er in die Luft. Fliegen fühlte so natürlich an wie Atmen – das hatte Luzifer gesagt. Impliziert.

Er senkte den Blick. Wenn er wirklich gefallen war, müsste er sich dann nicht daran erinnern können, auch im Himmel geflogen zu sein? Kein konkretes Bild tauchte in seiner Vorstellung auf. Es warf Dorian so sehr aus der Bahn, dass er Chris völlig vergaß, bis der ihm auf die Schulter tippte.

Dorian fuhr zusammen und ließ die Decke und das Wasser fallen. Die Fragen blieben. Die Erinnerungslücken auch. »Flügel sind Ausdruck und Quelle unserer Macht«, erklärte er hastig. »Ohne Flügel sind wir nicht mehr als Menschen. Ohne sie könnten wir nicht leben.« Schon beim Gedanken daran wurde ihm schlecht. Dämonen machten Witze darüber, Engeln die Flügel auszureißen, wenn sie sich Luzifers Diener zuverlässig vom Leib halten wollten.

»Ich bin menschlich, auch wenn ich- Egal.« Chris seufzte. »Ich will also drauf aufpassen. Was muss ich machen, um sie, äh, einzuziehen?«

»Schwer zu erklären.« Weil Dorian sich denken konnte, wie hilfreich diese Antwort war, riss er sich zusammen. »Stell dir vor, du ziehst sie in deinen Körper. Das sollte funktionieren.«

Chris nickte offenkundig wenig überzeugt, schloss aber die Augen und schien es zu versuchen. Einen Moment später waren die Flügel spurlos verschwunden, woraufhin er sichtlich erleichtert aufatmete.

Dorian reichte ihm die Decke, eine Flasche Wasser und kramte einen Apfel aus seinen Manteltaschen, ehe er sich ihm gegenüber an den intaktesten Teil der Wand setzte. »Hier.«

Chris begutachtete alles mit skeptischem Blick, nahm es aber schließlich mit einem gemurmelten »Danke« an. Er wickelte sich in die Decke ein, trank die Flasche in einem Zug halb leer und legte den Apfel neben sich auf den Boden. »Was ist passiert, dass du mir jetzt auf einmal helfen willst?«

»Wer bist du?«, erwiderte Dorian. Eine sinnvollere Antwort wusste er nicht.

»Mein Name ist Chris. Ich bin ein Mensch, den du in die Hölle entführt hast und der danach aus welchen Gründen auch immer mit Flügeln aufgewacht ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du sonst noch von mir hören willst.«

›Er ist ein Mensch.‹ Je öfter Chris das wiederholte, desto weniger hörte es wie Unsinn an.

»Ich habe nichts gesehen«, murmelte Dorian unwillkürlich und wollte sich an den Worten festhalten, aber sie zerronnen ihm zusehends zwischen den Fingern. »Ich habe nichts gesehen.«

Chris legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Du warst doch die ganze Zeit bei mir, oder nicht?«

»Ich…«

»Warte. Fangen wir ganz von vorne an.« Dorian hatte erwartet, dass Chris wütend klang, verletzt, und in jedem Fall deutlich emotionaler. Stattdessen machte er den Eindruck, als wollte er ein Rätsel lösen und bräuchte noch mehr Hinweise. »Luzifer schickt euch auf die Erde, um Menschen umzubringen. Aber nach welchen Kriterien sucht er seine Opfer aus?«

»Meistens gibt er uns nur ein Gebiet auf der Erde vor«, antwortete Dorian. »Wen wir dort töten, bleibt uns überlassen.«

Mit einem tiefen Seufzen legte Chris den Kopf in den Nacken und starrte einen Moment lang Löcher in die Luft. »Das heißt, das alles war nur reiner Zufall?«

»Ja.« Das Wort hing bleiern in der Luft und verlangte nach Fortsetzung. »Es tut mir leid.«

Ein mattes Lächeln schlich sich auf Chris’ Gesicht, gab aber keine Auskunft darüber, ob er Dorian glaubte oder nicht. »Du wusstest es nicht besser, oder?«

»Nein.« Bis vor zwei Wochen hatte Dorian nie auch nur eine unnötige Frage gestellt, und jetzt rieselten sie kontinuierlich auf ihn herab wie Staub von der baufälligen Decke. Dieses Gespräch sollte ihm vor Augen führen, dass Luzifer Recht behielt, und die Welt noch genauso funktionierte wie vor zwei Wochen. Doch mit jedem gewechseltem Wort fühlte er eine fremde Art von Schuld in sich wachsen, ein Bedauern gegenüber jemandem, der ihm völlig fremd sein sollte. Dorian sollte Chris hassen, aber stattdessen kam er sich in seiner Unsicherheit beinahe verstanden vor.

Er musste fragen. »Bist du wütend?«

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung.« Chris sah aus, als stellte ihn das selbst nicht zufrieden. »Ich sollte es sein. Und vielleicht würde ich auch tatsächlich auf dich losgehen, wenn ich nicht so müde wäre, aber… Ich weiß auch nicht. Ich glaube, zum Verarbeiten hatte ich einfach keine Zeit.«

Dorian nickte, als könnte er das nachvollziehen. Tatsächlich fiele es ihm leichter, mit unverhohlener Wut umzugehen, als mit dem hier. War es das, was Chris so menschlich machte?

»Warum hast du mich eigentlich nicht auch noch umgebracht?«

»Wenn uns ein Mensch sieht, sollen wir ihn mit in die Hölle nehmen.«

»Und was passiert dann?«

»Ich weiß nicht.« Dorian musste Chris nicht ansehen, um zu wissen, dass er ihm das nicht glaubte. »Luzifer hat mir befohlen zu gehen, aber ich bin geblieben. Er hat dich zurückgeholt, ich weiß nicht wie, und er hat dich… verändert. Erst warst du ein Mensch. Und dann hattest du Flügel und seine Augen.«

»Ich hab auch noch…« Hektisch rieb sich Chris übers Gesicht und hinterließ gerötete Wangen. »Ich sehe aus wie ihr.«

»Aber wir sind Engel.«

»Luzifer hat euch gesagt, dass ihr welche seid.«

Daran erinnerte sich Dorian, als wäre es gestern gewesen. Wie er aufwachte und sein Meister ihm erzählte, was passiert war, wie seine Verwirrung Dankbarkeit wich, wie er Luzifer jedes Wort geglaubt und zu seiner Identität gemacht hatte.

»Mir auch«, fuhr Chris fort, als wäre ihm die Wirkung seiner Worte nicht bewusst. »Er hat wohl erwartet, dass ich ihm das abnehme, aber ich weiß, dass es gelogen ist. Ich glaube, ich weiß das als einziger von euch. Irgendwas ist mit mir schiefgelaufen.«

»Ja.« Die Teile fügten sich von selbst zusammen. »Ich habe Luzifer abgelenkt, weil ich geblieben bin.«

»Ah.« Chris lehnte seinen Kopf an die Wand und fasste sich an die Stirn. »Was für eine Scheiße.«

Dorian nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Er rollte die zweite Wasserflasche zu Chris herüber, der sie schweigend entgegennahm und zu der anderen neben sich stellte.

›Was ist, wenn er Recht hat?« Gegen den Gedanken anzukämpfen fühlte sich mittlerweile sinnlos an. ›Was ist, wenn wir alle Menschen sind und es vergessen haben? Was bleibt dann noch von mir?‹

»Und du weißt wirklich gar nichts?«, fragte Chris nach einer Weile. »Warum ihr Menschen töten sollt und wie ihn das befreien soll und alles.«

»Wir versuchen, Engel so sehr zu provozieren, dass einer von ihnen auf die Erde geht. Wenn dieser Engel dann von uns getötet wird, befreit das Luzifer.«

»So weit bin ich auch gekommen«, murmelte Chris. Vielleicht hatte er dabei versagt und Luzifer deswegen gegen sich aufgebracht. Einen größeren Verrat konnte sich Dorian definitiv nicht vorstellen.

Sie schwiegen wieder. Chris griff nach dem Apfel neben sich, wischte ihn mehrfach mit dem Ärmel ab, biss schließlich hinein und kaute mit nachdenklicher Miene. Er aß auf, warf den Rest aus einem Loch in der Wand und lehnte sich zurück. Wieder berührte er den Anhänger um seinen Hals, und wieder wurde Dorians Blick davon angezogen, aber er riss sich los, um nicht zu starren.

»Willst du mehr?«, fragte er stattdessen.

Chris schaute auf. »Wovon?«

Dorian holte das restliche Essen aus seinen Taschen. »Du kannst alles haben, wenn du willst.«

»Wo hast du das überhaupt her?«

Auf die Schnelle fiel Dorian keine Lüge ein. »Ich bin in das nächste leer stehende Haus eingebrochen.«

»Also ist niemand zu Schaden gekommen oder so?«

Er nickte.

»Okay«, murmelte Chris und nahm das Essen entgegen. »Du sagtest, Adrian würde wiederkommen.«

»Die Niederlage lässt er nicht auf sich sitzen«, antwortete Dorian. »Er trägt einem auch schon weniger nach.«

»Und jetzt ist er hinter uns beiden her.«

»Hinter dir. Ich stehe ihm nur im Weg.«

»Warum bist du dann noch hier? Entweder, nimmst du mich selbst wieder mit in die Hölle, oder du überlässt mich Adrian.«

»Soll ich gehen?«

Insgeheim wünschte sich Dorian, dass ihm Chris die Entscheidung einfach abnahm. Stattdessen bekam er ein Schulterzucken und ein »Ich kann dir schlecht vorschreiben, was du machen sollst«.

›Aber wer sagt es mir dann?‹ Noch eine Erkenntnis, die an sich schon eine Sinnkrise nach sich gezogen hätte. Gerade aber ging sie zwischen all den anderen erschütterten Grundfesten beinahe unter. ›Habe ich jemals etwas selbstständig entschieden?‹

Dorian stand auf und danach unschlüssig im Raum herum. Schließlich fasste er sich ein Herz, ging zu Chris herüber und setzte sich neben ihn. Der sah sichtlich irritiert aus, ließ ihn aber gewähren. »Heißt das, du bleibst?«

»Ich… denke schon.«

Chris wickelte sich aus der Decke und reichte Dorian ein Stück. »Hier. Bevor es zu kalt wird.«

›Warum machst du das?‹ Ihm wäre es immer noch lieber, würden sie sich gegenseitig einfach umbringen wollen.

In einer einfacheren Welt könnte er längst zurück in der Hölle sein und seine Schuld bereinigen. So aber deckte er sich zu, schloss die Augen und schlief zu dem Geräusch eines gleichmäßigen Atems neben sich ein.

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