Читать книгу Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft - Simone Stöhr - Страница 18
Donnerstag, 14.08.2008 Boston, 12:05 Uhr
ОглавлениеCatherine hatte sich von Dr. Briskow zum Abschied von der Klinik zu einem gemeinsamen Mittagessen mit allen Patienten überreden lassen. Normal hätte sie abgesagt, aber der letzte Tag in der Klinik beflügelte sie. Insbesondere, da es sich nur noch um eine Stunde handeln konnte, bis sie Mike wiedersah. Bald wurde sie entlassen und wohnte bei Mike und konnte ihn von ihren Qualitäten als Frau überzeugen. Sie nahm ihr Tablett und suchte sich in der Auslade das ansprechendste Mittagessen heraus. Zum ersten Mal seit langem, verließ sie sich dabei auf ihren Hunger und ihren Geschmack. Das war schon lange nicht mehr der Fall und sie genoss die Möglichkeit zwischen mehreren Gerichten zu wählen, auch wenn alle drei Varianten nicht wirklich einem Restaurantessen glichen. Aber was wollte man schon von einem Klinikessen erwarten? Sie konnte froh sein, dass sie überhaupt ein geregeltes Essen bekam. Ihr Körper hatte schon damit zu kämpfen. Was hatten da falsche Ansprüche zu sagen? Mit ihrem gefüllten Tablett suchte sie sich einen Sitzplatz und wenige Minuten später saß auch schon Dr. Briskow ihr gegenüber, um ihr die neusten Nachrichten von Mike zu überbringen.
„Es tut ihm leid, aber Mr. Carrington schafft es nicht rechtzeitig und schickt Ihnen daher seinen Freund Charlie Stanton, der Sie nach New York bringt.“
Dr. Briskow hatte Cathys enttäuschtes Gesicht schon geahnt, als er die Nachricht erhielt. Daher war er nicht überrascht, als er es jetzt auch sah. Hoffentlich war dies nur eine Ausnahme und kein Dauerzustand, dachte Dr. Briskow. Für ihre Therapie war es wichtig, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
„Wenn Sie möchten, können Sie gerne noch länger hier bleiben bis Mr. Carrington selbst Zeit hat, Sie abzuholen. Ich meine, falls Sie dem Freund nicht trauen“, bot er ihr an.
„Das ist nett von Ihnen und ich weiß Ihre Fürsorge sehr zu schätzen, aber das wird nicht nötig sein. Ich weiß ja, dass Mike das alles nur wegen mir betreibt. Dabei muss er das alles doch nicht! Ich bin schon froh, dass er mich überhaupt aufnimmt. Ich will nicht, dass er extra wegen mir alles verändert. Aber davon war er einfach nicht abzubekommen!“
Cathy versuchte sich zu erinnern, wo sie den Namen Charlie Stanton schon einmal gehört hatte. Der Name war ihr nicht unbekannt, dennoch konnte sie ihn einfach nicht einem Gesicht zuordnen. Es war kein Weltuntergang, insbesondere, da er es ihr schon angekündigt hatte und trotzdem war sie enttäuscht von Mike. Er meinte es sicherlich nicht böse und doch empfand sie es so. Sie hatte sich so auf die gemeinsame Fahrt nach New York gefreut. Sie hatte ihm so vieles zu erzählen und wollte so vieles von ihm erfahren, was er die letzten Jahre gemacht und getan hatte. Doch mit einem Mal war genau das nicht mehr möglich. Denn er kam einfach nicht! Die Gefühle übermannten sie und selbst wenn ein kleiner Teil in ihr sagte, dass es ungerecht war, so von Mike zu denken, so war der viel größere Teil in ihr sauer und wütend, und vor allem enttäuscht von ihm.
„Alles in Ordnung?,“ unterbrach Dr. Briskow ihre Gedanken.
Sie hatte ganz vergessen, dass er immer noch vor ihr saß und sie besorgt ansah.
„Ja, schon in Ordnung. Ich bin nur enttäuscht“, gestand sie ihm. „Ich hatte gehofft, dass er mich wenigstens abholen würde.“
„Wenn Sie wollen, kann ich gerne mit Mr. Carrington sprechen.“
„Nein, das will ich nicht! Vielleicht lasse ich mich gerade auch nur von falschen Gefühlen verleiten. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll. Kann es am Entzug liegen, dass ich emotional so verwirrt bin?“
„Es kann sein, aber ich vermute eher, dass es bei Ihnen tiefergehende Ursachen hat. Die anschließende Therapie wird Ihnen gut tun und sie werden mehr über sich selbst erfahren und auch lernen, wie sie in bestimmten Situationen handeln sollten. Dadurch fällt es Ihnen leichter NEIN zu den Drogen zu sagen. Aber ein eiserner Willen ist immer noch das Wichtigste dabei. Ich möchte, dass Sie das nie vergessen! Mein Ziel ist es, dass ich meine Patienten unter anderen Umständen, wie jetzt wieder treffe.“
„Ich verspreche Ihnen, dass das nicht mehr vorkommen wird“, schwor sie mit feierlicher Miene. „Ich will mein Leben wieder in den Griff bekommen und werde meine Chance nutzen.“
Es war nicht nur Optimismus, der aus ihr sprach. Es war eine Überzeugung, die ihn glauben und hoffen ließ. Eine Durchsage unterbrach Ihr Gespräch und bat Dr. Briskow zum Empfang. Vermutlich nur eine Lappalie, aber er hatte seinen Mitarbeitern immer wieder gesagt, dass sie ihn lieber einmal mehr holen sollten, bevor ein Fehler passierte, der im Umgang mit ihrer Art der Patienten erhebliche Folgen haben konnte und dann schwer auszumerzen war. Daher hatte er auch strenge Regeln aufgestellt, die nicht nur die Patienten einschränkten, sondern auch 100%ige Aufmerksamkeit des Personals erforderte. Selbst, wenn es ihn gerade in diesem Moment ärgerte, dass er gehen musste. Er verabschiedete sich von Catherine, die er wahrscheinlich nie wieder im Leben sehen würde und machte sich auf zum Empfang, um zu sehen, wo das Problem lag. Das Problem war schnell auf den Punkt gebracht: ein unangemeldeter Besucher stand am Eingang. Zu den strengen Regeln der Klinik gehörte auch, dass nicht jeder ein- und ausgehen konnte, wie er wollte. Niemand kam an der Schleuse des Empfangs vorbei, ohne dass er oder die diensthabende Oberschwester Bescheid wusste. Und dieser Mann war keineswegs bekannt. Verunsichert stand er, groß gewachsen wie er war, und mit unsicherem Lächeln, das seine Grübchen zeigte, vor der Empfangsschwester, die es gewohnt war grundsätzlich nichts zu glauben, was ihr erzählt wurde.
„Hören Sie, ich soll Catherine Coleman für meinen Freund Mike Carrington abholen und nach New York bringen“, versuchte er die Empfangsdame, die einem Schlosshund glich, zu überreden. „Ich will Ihnen hier sicherlich niemanden entführen oder sonstiges. Hat Mike Carrington denn nicht Bescheid gegeben, dass ich komme?“
„Doch hat er“, mischte sich nun Julian Briskow ein. „Ich habe nur nicht gedacht, dass Sie schon so schnell kommen und habe gerade eben erst Ms. Coleman darüber informiert, bevor ich dem Empfang Bescheid geben konnte. Sie müssen Charlie Stanton sein. Würden Sie sich bitte ausweisen und in die Besucherliste eintragen. Wir nehmen die Regeln sehr ernst. Ich werde Ms. Coleman derzeit über Ihre Ankunft informieren.“
An die Empfangsschwester gewandt sagte er noch „danke Maggie“ ehe er sich umdrehte und den Weg, den er gerade gekommen war, wieder zurückging.
Catherine war unterdessen dabei ihre Sachen zu packen. Viel gab es nicht, nur das Nötigste. Eine Zahnbürste, Zahncreme, eine Bürste und etwas Kleidung, die sie von Laura geliehen bekommen hatte. Ihre anderen Habseligkeiten waren noch bei Matthew und Jasmin, wo sie auch bleiben würden. Denn freiwillig ging sie dort nicht mehr hin! Sie würde sich neue Klamotten kaufen müssen, obwohl sie nicht wusste von welchem Geld und wie sie das jemals wieder zurückzahlen sollte. Sie verstaute alles in einer Plastiktüte und setzte sich ans Fenster ihres Zimmers, um auf Charlie Stanton zu warten. Sie überlegte immer noch, woher sie diesen Namen kannte, aber das Gesicht dazu, wollte einfach nicht in ihrem Gedächtnis erscheinen. Also gab sie auf und beobachtete die Bäume vor ihrem Fenster, die vom Wind sanft hin und her gewogen wurden. In ein paar Stunden würde sie es sowieso wissen. Warum sollte sie sich jetzt damit belasten? Es klopfte und sie rechnete fest mit Dr. Briskow. Es war ihr ein Rätsel, wie er alle seine Patienten mit dieser Ausdauer und Intensität bertreuen konnte. Er musste sein Privatleben völlig nach hinten anstellen, was sicherlich auch zur Vernachlässigung seiner Frau führte.
„Ms. Coleman, es ist soweit. Sie werden abgeholt. Haben Sie schon gepackt.“
„Packen ist etwas übertrieben. Es hat alles in eine Plastiktüte gepasst.“
Sie lachte und zeigte erstmals ihr schönes Lächeln. Eine starke Persönlichkeit steckte hinter ihrer Fassade, die langsam zum Vorschein kam und Stück für Stück selbstsicherer wurde. Sie ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
„Danke Dr. Briskow für alles, was Sie die letzten Tage für mich gemacht haben. Ich werde Ihnen das nie vergessen!“
„Das ist mein Beruf. Und Sie können mir keinen größeren Dank aussprechen, als dass Sie sich von den Drogen fernhalten.“
„Darauf können Sie sich verlassen. Danke!“, versicherte sie ihm und ging mit der Tüte in der Hand Richtung Empfang. Sie war gespannt, welches Gesicht zu dem Namen gehörte, der ihr so bekannt und doch wieder unbekannt erschien. Die Spannung war groß, auch wenn lange nicht so groß, als wenn Mike jetzt erschienen wäre. Ein großer, gut gebauter, dunkelblonder Typ stand an der Theke und zeigte Grübchen als er die Empfangsschwester anlächelte. Sein lässiger Look aus Jeans und Freizeithemd ließ ihn selbstsicher aussehen und doch nagte eine Nervosität, die Cathy sich nicht erklären konnte, an seinem Bild. Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr an diesen Mann erinnern. Entweder hatte er sich zu sehr verändert oder ihr Gehirn spielte ihr einen Streich und sie kannte ihn wirklich nicht. Am Empfang angekommen begrüßte er sie herzlich und Catherine kam noch mehr ins Grübeln, wer dieser Mann vor ihr war.
Charlie verunsicherte ihr fraglicher Blick mehr, als er gedacht hatte. Noch immer war es ihm wichtig, was sie dachte oder empfand. Aber momentan sah es eher so aus, als wenn sie ihn überhaupt nicht erkannte. Es war ihm klar, dass sie immer nur Augen für Mike gehabt hatte, aber dass sie ihn nicht einmal erkannt hatte, schmerzte ihn doch sehr. Heiter ging er darüber hinweg, da er sich nichts anmerken lassen wollte und begleitete sie nach draußen. Sie stieg in seinen Volvo ein und die Fahrt zum Flughafen war überaus still und erdrückend für Charlie. Cathy starrte aus dem Fenster und war zu keinerlei Gespräche bereit. Charlie startete zwei Versuche mit ihr ins Gespräch zu kommen und gab dann ziemlich schnell frustriert auf. So hatte er sich die gemeinsame Reise wirklich nicht vorgestellt. Er hatte gehofft, dass er einen vergnüglichen Tag mit ihr verbringen konnte, bis sie bei Mike eintrafen und sie dann wieder nur auf Mike fixiert war. Aber selbst ohne Mike war sie so abgelenkt und abwesend, dass sie sich nicht einmal mit ihm unterhalten wollte. Die Chance, die er sich noch am Vormittag ausgemalt hatte, bröckelte dahin. Beim Flughafen angekommen war er erst einmal mit dem Buchen der Flüge beschäftigt, was sich gar nicht so leicht darstellte. Catherine hatte keinen Ausweis bei sich, da alle ihre Sachen sich noch an ihrem früheren Wohnort befanden. Mike hatte fürsorglich bereits ihre persönlichen Unterlagen als gestohlen gemeldet, damit keiner ihre Identität nutzen konnte, aber an einen vorläufigen Pass hatte auch Mike nicht gedacht. Die Behörden am Flughafen zeigten sich Gott sei Dank verständnisvoll, insbesondere, da es sich nur um einen Inlandsflug handelte. Sie stellten Cathy vorläufige Papiere aus, die 3 Monate gültig waren und für Ihren Umzug in New York zur Ummeldung und Neubeantragung der Papiere hilfreich waren. Selbst hier hatte sich Catherine auffallend zurückgehalten. Sie wirkte so introvertiert und verletzlich. Charlie vermutete, dass der Entzug sie härter mitnahm, wie er es sich selbst vorstellen konnte. Letztlich konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, was sie gerade durchmachte. Das war eine Erfahrung, die er nie auch nur annähernd gemacht hatte und rationell gesehen auch nie machen wollte. Er musste ihr eben Zeit geben, dieses Erlebnis zu verarbeiten. So wie er jetzt auch noch Zeit hatte bis der Flug ging. Eingecheckt hatten sie bereits, doch bis der Flug um 14:26 Uhr ging, galt es doch noch fast 1,5 Stunden totzuschlagen und Catherine schien nicht an einer Konversation mit ihm interessiert zu sein.
„Wir haben noch Zeit. Möchtest du etwas essen oder trinken?“ fragte er sie dennoch.
Dass sie völlig abgemagert aussah und dringend mehr essen sollte, behielt er lieber für sich. Gerne würde er sie mit köstlichen Gaumenfreuden verwöhnen und mit ihr die Sinnlichkeit des Essens teilen. Doch das waren alles Phantasien, die von der Realität meilenweit entfernt waren. Catherine schüttelte schon zu seiner Enttäuschung den Kopf.
„Ich habe gerade in der Klinik noch gegessen. Trotzdem danke für das Angebot“, erwiderte sie höflich.
„Einen Nachtisch oder Kaffee vielleicht?“, fragte er weiter und sah auch schon ohne Antwort, dass sie darauf wieder nicht eingehen würde. Also setzte er gleich zu einer Erklärung an.
„Es liegt daran, dass Kaffee mit zu meinen Grundnahrungsmitteln gehört und sozusagen eines meiner Laster ist. Während jeder freien Minute trinke ich Kaffee und wenn man in der Gastronomie arbeitet, ist das sogar noch viel verführerischer, weil er ständig verfügbar ist. Du würdest mir also einen riesen Gefallen tun, wenn du mich zumindest begleiten würdest und vielleicht willst du ja auch einen Kaffee mittrinken?“
Er zeigte ihr sein charmantestes Lächeln und die Grübchen, die so typisch für Charlie waren, kamen zum Vorschein. Diese Grübchen haben die eine oder andere Frau schon schwach gemacht, doch bei Catherine schien dies immun zu sein. Es war einfach zum verrückt werden. Überraschenderweise lenkte sie doch ein und sie gingen gemeinsam ins nächste Café. Charlie bestellte zwei Kaffee und sie setzten sich an einen Tisch etwas abseits der Masse. Er hatte tausende von Fragen an sie, doch traute er sich nicht ein einzige davon zu fragen. Er hatte das Gefühl, dass sie sowieso nicht darüber sprechen wollte. Also ging er zu einem sichereren Thema über – Mike.
„Ich bin schon ganz gespannt, was Mike die letzten drei Tage auf die Beine gestellt hat. Ich will für dich nur hoffen, dass er endlich diesem ewigen schwarz-weiß Look abgeschworen hat. Das ist alles andere als gemütlich.“
„Wegen mir hätte er nichts verändern müssen. Ich bin schon froh, dass er mich überhaupt aufnimmt.“
„Trotzdem, es kann nur noch besser werden. Mike hat sich in dieser Wohnung selbst nie wohlgefühlt und er wollte schon längst etwas daran verändern. Doch wegen seiner vielen Reisen und die wenige Zeit, die er in New York verbracht hatte, kam er einfach nie dazu. Den Willen hat er ja, aber ich bin gespannt, wie viel er in der kurzen Zeit wirklich in die Tat umsetzen konnte.“
Charlie hoffte, dass das Gespräch nun Fahrt aufnahm. Er war nicht der Draufgänger, wie Mike, der tausende Sprüche parat hatte und so mir nichts, dir nichts improvisierte. Umso schwieriger war es für ihn, da das genaue Gegenteil eintrat. Catherine widersprach ihm nicht und hatte auch nichts mehr hinzuzufügen. Und so saßen sie da und schwiegen sich gegenseitig an. Es war zum verrückt werden. Hatte er sich die ganzen Jahre so in ihr getäuscht oder haben die Drogen sie so verändert? Vor ihm saß alles andere, aber nicht die Catherine, in die er sich vor etlichen Jahren verliebt hatte und von der er ständig noch träumte. Sie hatte keinen Witz, keinen Charme und auch kein Selbstbewusstsein mehr. Vor ihm saß eine gebrochene Frau und Charlie hatte keine Ahnung, ob sich das je wieder ändern würde. Er war jahrelang einem Gespenst hinterhergelaufen! Und selbst, wenn sie die alte Catherine je wieder werden sollte, wer sagte, dass sie dann jemals an ihm interessiert sein würde? Die ganze Hoffnungslosigkeit wurde ihm in dieser Minute klar und auch die Trümmer, die es in seinem Leben hinterließ.