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DIE ROCK-BIBLIOTHEKARE

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Ein paar Tage später besuche ich, was als Punkrock-Antwort auf das British Music Experience gedacht ist: die Rock’n’Roll Public Library. Für fünf Wochen öffnete der ehemalige Clash-Gitarrist Mick Jones sein Archiv mit Erinnerungsstücken für die Öffentlichkeit in einer Suite in den Ladbroke-Grove-Büros, direkt unter dem zweispurigen Westway. Der Eintritt ist kostenlos (für zehn Pfund kann man sich einen USB-Stick kaufen und darauf Scans von den Magazinen, Büchern und anderen Druckerzeugnissen speichern, die ausgestellt sind). Die Presseankündigung für die Rock’n’Roll Public Library posaunt Jones’ Großzügigkeit heraus und sieht sie als eine »direkte künstlerische Provokation von Unternehmen wie der O2-British-Music-Experience« und rät Besuchern, sie sollten, anders als es der betuliche Titel vermuten lässt, nicht »Ruhe und Frieden erwarten«.

Als ich an einem Samstag um die Mittagszeit dort vorbeischaue, ist es dort allerdings sehr ruhig, während es auf dem Portobello-Vintage-Klamotten-Markt gegenüber sehr lebendig zugeht. Und diese gemütlich wirkende Sammlung von Souvenirs und Erinnerungsstücken, die Überbleibsel eines Lebens, das im Zeichen des Rock’n’Roll stand, mutet nicht wie eine Provokation gegenüber irgendwas Bestimmtem an. Artefakte, die etwas mit The Clash oder Punk zu tun haben (verstaubte Verstärker, ein Watkins Copicat-Effektgerät, eine handgemalte Tourkarte von 1982 mit dem Namen Rat Patrol Over South Asia & Australia), stehen dicht gedrängt neben Krimskrams, wie man ihn auch auf dem Flohmarkt auf der anderen Straßenseite findet: Altmodische Kameras, Radios und Super-8-Equipment, ein Spike-Milligan-Jahrbuch, ein Diana-Dors-Klappcover. Entsprechend der Begeisterung von The Clash für Militarismus sind die Wände mit Aquarellen im Stile des 19. Jahrhunderts bedeckt, die Schlachtszenen und Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen, etwa das Hissen der amerikanischen Flagge durch US-Marines auf Iwo Jima.

Abgesehen von ein paar seltsamen Youngstern sind die Besucher hauptsächlich Veteranen der Punk-Kriege. Da ist ein Paar mittleren Alters, die Frau ist mollig und hat eine lila Strähne im Haar, der Mann trägt ein Pistols-T-Shirt und einen ungepflegten Iro. Und es gibt eine scheinbar endlose Zahl von Typen mit genau den cowboyartigen Hüten, die auch The Clash und Big Audio Dynamite vorzugsweise getragen hatten. Einer von diesen Ewiggestrigen mit so einem bescheuerten Hut – ein Clash-Fan aus Manchester – setzt sich neben mich, und obwohl noch nicht einmal Mittag, ist er schon ziemlich betrunken und drängt mir Geschichten auf, wie er bei einem Clash-Konzert auf die Bühne gestiegen sei und eingeladen wurde, die Akkorde A, E und G zu spielen. Schließlich entschuldige ich mich und mache mich aus dem Staub, flüchte in einen Seitenraum, der eine Höhle aus Pop-Zeitschriften ist: Ausgaben von Crawdaddy! und Trouser Press, CREEM und ZigZag sind in durchsichtige Hüllen gestopft und sorgsam an die Wände geheftet.

Durch das ganze Büro tönt in moderater Lautstärke ein Musikstream im Stil von Radio Clash mit den Lieblingsliedern von Mick Jones. Es läuft »Memo from Turner«, ein Mick-Jagger-Song vom Performance-Soundtrack. Mir kommt sofort die Clash-Wir-leben-im-Jetzt-Hymne »1977« mit ihrem Refrain »No Elvis, Beatles or the Rolling Stones in 1977« in den Sinn. Dann fällt mir das signierte Beatles-Poster von der Royal Command Perfomance im London Palladium 1963 auf, das gerahmte Foto des jungen Jagger und des jungen Richards. Aber The Clash haben sich schon vor langer Zeit selbst in den Rockkanon gespielt – bereits mit London Calling, das Punk zurück zur Vielfalt des Rock’n’Roll und Americana brachte, und das vom Rolling Stone als bestes Album der 80er gewürdigt wurde.

Während ich die Rock’n’Roll Public Library abgrase, denke ich daran zurück, wie ich Mick Jones 2003 im TV gesehen habe, als The Clash in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurden. Letztere, von Jann Wenner vom Rolling Stone mitbegründet, steht nicht nur für eine Preisverleihung, sondern auch für das erste Rockmuseum der Welt: The Rock and Roll Hall of Fame and Museum, das 1995 in Cleveland eröffnet worden ist. Bei der Ehrung 2003 sah Mick Jones – kahl werdend, in schwarzem Anzug und mit Krawatte – nicht aus wie ein Rock’n’Roll-Soldat, der eine Medaille erhält, sondern vielmehr wie ein gebückter Angestellter, der zum Podium schlurft, um nach 45 Jahren treuem Dienst für die Firma seinen Pensionsscheck abzuholen. Die demütige Zustimmung von The Clash zu ihrer Eingemeindung in das Rock-Pantheon kontrastiert wunderbar mit der Unnachgiebigkeit der Sex Pistols, die ihre Einladung zu der Ehrung 2006 brüsk zurückgewiesen hatten. (Das hinderte die Hall of Fame natürlich nicht daran, sie trotzdem aufzunehmen.) Der unverschämte und hingekritzelte Antwortbrief zauberte ein Lächeln auf die faltigen Gesichter alternder Punks auf der ganzen Welt:

»Neben den Sex Pistols ist Rock’n’Roll und die Hall Of Fame nichts als ein Pissfleck. Euer Museum. Urin im Wein. Wir kommen nicht. Wir machen uns für euch nicht zum Affen. Wenn ihr für uns gestimmt habt, habt ihr euch hoffentlich eure Gründe notiert. Als Jurymitglieder seid ihr anonym, aber ihr seid trotzdem Teil der Musikindustrie. Wir kommen nicht. Ihr hört uns nicht zu. Jenseits dieses Scheißestroms gibt es eine wirkliche Sex Pistol.«

Es war eine Art seltsame Trotzhandlung. Schließlich hatte die Gruppe ihren Beitrag zur Retro-Kultur bereits geleistet, als sie sich 1996 für die sechsmonatige Filthy-Lucre-Tour reformiert hatte, und nur ein Jahr nachdem sie der Hall of Fame den Mittelfinger gezeigt hatten, machten sie die eigene Legende mit einer Reihe von Konzerten 2007 und 2008 wieder zu Geld. Allerdings konnten diese Reunions – Never Mind the Bollocks als eine reisende Wanderausstellung – als erfrischend zynisch, ja sogar als eine Erweiterung der ursprünglichen Entmystifizierung der Musikindustrie durch die Pistols gesehen werden: Die Parole war nicht mehr »Aus Chaos Geld machen«, sondern aus der Nostalgie für das Chaos Geld machen. Wenn sie bei der Ehrung durch die Hall of Fame aufgetaucht wären, hätte das bedeutet, dass die Gruppe sich wirklich jede verbliebene Kante abgestoßen hätte. In einem Interview mit dem National Public Radio verkündete Pistols-Gitarrist Steve Jones: »Sobald man in ein Museum gesteckt wird, ist es aus mit Rock’n’Roll.«

Wenn Bands 25 Jahre nach ihrer Gründung die Berechtigung erlangt haben, in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen zu werden, ist das zu guter Letzt das Übergangsritual ins Rock-Jenseits. In manchen Fällen ist der Künstler tatsächlich tot; in fast allen anderen Fällen ist die Kreativität des Musikers bereits vor einiger Zeit erloschen. Adorno hat als erster auf die Ähnlichkeit der Wörter »Museum« und »Mausoleum« aufmerksam gemacht. Abgesehen von der phonetischen Assoziation gibt es noch eine tiefere Nähe: Museen bezeichnen den Friedhof für »Gegenstände, zu denen der Betrachter sich nicht mehr lebendig verhält und die selber absterben.« Die Hard-Rock-Cafe-Kette (die in den 70ern begann, Erinnerungsstücke aus der Rockgeschichte wie signierte Gitarren als Dekoration zu nutzen) nannte ihr eigenes Museum in Orlando »Vault« [A. d. Ü.: Gruft]. Und »Wolfgang’s Vault« lautet auch der etwas gruselige Name des größten Musik-Fanartikel-Vertriebs der Welt, der aus einem riesigen unterirdischen Lager hervorging, in dem der berühmte Konzertveranstalter Bill Graham aus San Francisco (der eigentlich Wolfgang Grajonca hieß) sein Archiv mit Ton- und Videomitschnitten von Konzerten, Postern und verschiedensten Rock-Relikten aufbewahrte. Gruselig ist das deshalb, weil Graham/Grajonca 1991 starb und Wolfgang’s Vault an einen Grabhügel erinnert, wo der König mit all seinen Schätzen begraben liegt.

Bevor die Besucher in das Rock and Roll Hall of Fame and Museum Annex in New York eingelassen werden, müssen sie in einem kleinen Raum warten, der tatsächlich einem Mausoleum gleicht. Von der Decke bis zum Boden sind die Wände mit rechteckigen Plaketten bedeckt. Auf jeder davon wird eines Künstlers gedacht – und trägt jeweils dessen Namenszug –, der in die Hall of Fame aufgenommen wurde. Neben dem Eingang geht es los mit den ersten Rekruten Mitte der 80er – Carl Perkins und Clyde McPhatters – und die Ausstellung arbeitet sich dann langsam zu den zeitgenössischeren Künstlern, wie den Pretenders (die 2005 geehrt wurden) vor, die sich bei der Eingangstür zum eigentlichen Museum finden. Die Plaketten erinnern stark an die kleinen »Nischen« für Urnen, wie man sie aus manchen Grabgewölben kennt. Es läuft Musik, und bei jedem Song leuchtet die silberne Handschrift des entsprechenden Künstlers in orange oder violett, was gleichermaßen kitschig und unheimlich ist.

Das Museum in Cleveland setzt gegenüber seiner Filiale sogar noch eins drauf. Als Fusion aus Museum und Mausoleum stellt es die irdischen Überreste von Alan Freed aus, dem DJ, der den Begriff »Rock’n’Roll« bekannt gemacht und 1952 mit dem Moondog Coronation Ball in Cleveland das erste Rock’n’Roll-Festival organisiert hat. Jim Henke, der Chefkurator des Museums, erklärte, dass »wir mit Freeds Kindern bei der Auswahl der Ausstellung zusammengearbeitet haben, und sie eines Tages sagten: ›Passt auf, unser Vater ist in Upstate New York begraben, aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn wir euch die Asche bringen würden, würdet ihr sie nehmen?‹ Also sagten wir zu und jetzt haben wir in der Abteilung von Alan Freed einen Glasabschnitt in der Wand mit seiner Asche.«

Aufgabe der Rock and Roll Hall of Fame ist es, Inhalte zu vermitteln und zu unterhalten, und nicht, durch die Verehrung der Ahnherren Aberglauben zu provozieren. Henke beschreibt den ursprünglichen Prozess, die Ausstellung des Museums zu kuratieren als eine Fortsetzung seiner Arbeit, die er als Herausgeber von The Rolling Stone Illustrated History of Rock & Roll geleistet hat: »Ich habe einen Entwurf gemacht, als würde ich ein Buch über die Geschichte des Rock zusammenstellen.« Er ist stolz auf die große Bibliothek und das Archiv, das kürzlich eröffnet wurde und das bedeutendste Forschungszentrum für Popmusik werden soll. Trotzdem provozieren viele der Exponate in Cleveland und im New Yorker Ableger (der im Januar 2010 nach nur zwei Jahren wieder geschlossen wurde) etwas, was an die heiligen Reliquien aus dem Mittelalter erinnert, an die Splitter des Kreuzes, die Knochen eines Heiligen oder an Fläschchen mit dem Blut Christi: Sie evozieren eher morbide Ehrfurcht als wissenschaftlichen Respekt. Beispielsweise wird in Cleveland eine von Bob Marleys Dreadlocks ausgestellt. »Die haben wir von seiner Familie«, sagt Henke. »Ich denke, als er Krebs bekam, fielen ihm die Haare aus, und sie haben eben eine seiner Dreadlocks aufgehoben.« In der Sonderausstellung in New York, die John Lennons Zeit in der Stadt dokumentiert, ist das Highlight eine große Papiertüte mit der Kleidung, die Lennon am Tag des Attentats trug, und die Yoko Ono im Krankenhaus ausgehändigt worden ist. Da man genaugenommen kein getrocknetes Blut darauf erkennen kann, bleibt man als Besucher immer vom realen Körper des ermordeten Sängers entfernt, von derjenigen Gestalt im Rock, die einem Erlöser am nächsten kommt.

Andere Ausstellungsstücke ziehen eher durch eine Übertragung in ihren Bann als dadurch, dass sie tatsächlich, wie das Buch Lennons, direkt dem Körper eines Idols entstammten: von Stars getragene Klamotten und von ihnen benutzte Instrumente, die eine »Aura« ausstrahlen. Der New-York-Ableger präsentiert zwei Glanzstücke. Das erste ist das 1957er Chevrolet-Bel-Air-Cabrio, Bruce Springsteens erstes Auto, das er auch zur Zeit der Aufnahme von Born to Run 1975 fuhr. Das zweite ist eine Nachbildung des Innenraums des CBGB’s, die originale Gegenstände aus dem legendären Punk-Club enthält: die altmodische Registrierkasse, das klassische Münztelefon, das noch aus den 20ern stammt, als der Ort noch eine schäbige Absteige war. Es gibt ein paar nette Kleinigkeiten – überall sind leere Bierflaschen, Graffiti und Band-Aufkleber –, aber es gibt nirgends Aschenbecher (ein entscheidender Bestandteil der Einrichtung jener Jahre, wenn man bedenkt, dass hier die Blütezeit des CBGB’s dargestellt werden soll, die Epoche der Ramones). Es klebt auch kein getrockneter Kaugummi unter den Tischen. Ich fragte mich, wo die berühmt-berüchtigte verwahrloste Toilette des CBGB’s ist, fand sie jedoch, als ich vor dem Verlassen des Museums kurz nach unten zur Toilette huschte. Dort ist das Pissoir des CBGB’s, auf der Außenseite übersät mit Aufklebern. »Die Toilette des CBGB war berüchtigt«, heißt es auf der Plakette daneben nüchtern, aber treffend. Marcel Duchamp trifft auf die Retro-Kultur! Ich habe damit gerechnet, sie noch in Benutzung vorzufinden, aber vermutlich ist dieser Pisspott eine Antiquität und außerdem hätte das bedeutet, dass nur ein Geschlecht einen Blick darauf hätte werfen können. (Zufälligerweise erfuhr ich, während ich dieses Kapitel zusammenstellte, dass der Künstler Justin Lowe im Sommer 2010 die mit Graffiti beschmierte Toilette des CBGB im Wadsworth Atheneum in Connecticut nachgebaut hat – nicht nur als Hommage an den Punk-Laden, sondern auch an das Museum, das sich in seiner Geschichte durch die Unterstützung surrealistischer Kunst ausgezeichnet hat –, während im August des gleichen Jahres die Kommode aus dem Anwesen, das John Lennon von 1969 bis 1972 bewohnte, für 15.000 Dollar auf einer Auktion für Beatles-Erinnerungsstücke versteigert wurde.)

»Wir sind ein Museum mit einem Standpunkt«, behauptete der Direktor des Rock and Roll Hall of Fame, Dennis Barrie, optimistisch bei der Eröffnung im September 1995. Der große Rivale der Einrichtung in Cleveland, das Experience Music Project (EMP) in Seattle – 2000 eröffnet, vom Millionär Paul Allen, der sein Vermögen als Mitbegründer von Microsoft gemacht hatte, finanziert – versuchte, seinen Vorgänger mit einem Schwerpunkt auf interaktive Ausstellungen und den avantgardistischen Kitsch und den Irrsinn seines Gebäudes zu übertrumpfen (von Frank Gehry entworfen und oft mit einer zerschmetterten Gitarre verglichen). »Experience«, das gleiche Schlagwort, auf das auch das British Music Experience zurückgreift, scheint der Versuch zu sein, die hartnäckig an ihm klebende didaktische Aura des Wortes »Museum« zu überwinden, für ein Versprechen von Sinnlichkeit und Intimität. Es ist zugleich ein Verweis auf Jimi »Are You Experienced« Hendrix, Seattles berühmtesten musikalischen Spross.

Das EMP schlug anfangs gewaltig ein. Aber im Laufe des Jahrzehnts kämpfte es damit, die unrealistische Erwartung von einer Million Besucher pro Jahr zu erfüllen. Allen, der ebenso ein Science-Fiction-Freak wie Rockfan ist, fügte die Science Fiction Hall of Fame and Museum zu dem Gebäudekomplex hinzu, um den Besuchsanreiz zu verstärken. Wenn man jedoch das Fortbestehen dieser beiden großen Rockmuseen in Seattle und Cleveland und die zahlreichen kleineren, auf bestimmte Genres oder Städte fixierten Museen anderswo in den Staaten (das Grammy Museum in Los Angeles, das Smithsonian Rock’n’Roll Museum in Memphis, Detroits Motown Historical Museum etc.) betrachtet und dann noch die jüngst erfolgte Eröffnung des British Music Experience und die noch ausstehenden Eröffnungen zweier Einrichtungen im Stile der Hall of Fame bzw. der Experience in Barcelona und im norwegischen Trondheim mitbedenkt, wird deutlich, dass Rock als Kunstform mittlerweile alt und etabliert genug ist, um eine eigene Museumsindustrie am Laufen zu halten. Diese Institutionen konkurrieren gleichermaßen um Artefakte wie um Besucher. Keith Richards mag sich früher einmal, als er Jim Henke vorgestellt wurde, über ihn lustig gemacht haben, »Ein Rock’n’Roll-Kurator?! Das ist das Albernste, was ich je gehört habe!«, aber das Kuratieren von Popkultur ist mit der Zeit zu einem eigenen Arbeitsfeld, zu einem Karriereweg geworden. Zusätzlich zu denjenigen, die als Angestellte der Museen, Akademien oder Auktionshäuser arbeiten, gibt es auch freiberufliche Kuratoren und Händler bzw. Sammler: Leute wie Johan Kugelberg und Jeff Gold, die eng mit Jim Henke vom Rock’n’Roll Hall of Fame and Museum und seinem Kollegen Jasen Emmons vom EMP zusammenarbeiten, helfen mit, das Material für bestimmte Ausstellungen zusammenzutragen.

Der Musealisierung von Rock liegt eine gemeinsame Ideologie zugrunde, die auf den verwandten Konzepten von Nachkommenschaft und Historizität aufbaut. Das Konzept der Nachkommenschaft ist in Bezug auf das Überdauern von Pop selbsterklärend: Es geht dabei um die Frage, in wessen Interesse diese Materialien sorgsam aufbewahrt und ordentlich präsentiert werden. »Manchmal sieht man etwas und denkt: Das gehört in ein Museum«, sagt Jeff Gold, der als einer der fünf bedeutendsten Händler und Sammler der Welt gilt. »Manchmal hat jemand eine Sammlung, die eine Menge persönlicher Papiere oder Zeitungsausschnitte aus den 60ern enthält, und man denkt sich: Ich könnte das verkaufen, aber das wäre auch wirklich nützlich für jemanden, der irgendwann ein Buch schreibt. Wenn man das der Rock and Roll Hall of Fame stiftet, weiß man solche Sammlungen an einem Ort, an dem sie von künftigen Generationen untersucht werden können.«

Was die Historizität betrifft, so geht es dabei um so etwas wie die »Aura einer Ära«. Historizität dreht sich in großem Maße um einen Vertrauensbeweis: Es handelt sich um eine nicht greifbare Qualität, die von Vertrauen und Voraussicht seitens des Museumsbesuchers oder des Sammlers abhängt. In seinem Buch Vintage Rock T-Shirts betont Johan Kugelberg den großen preislichen Unterschied zwischen einem original Tour-T-Shirt und einer Reproduktion, die tatsächlich von dem echten nicht zu unterscheiden ist, weil nicht nur der Stil einer Zeit, sondern auch die Alterserscheinung und Abnutzung des Stoffes imitiert werden können. Historizität ist paradox, da sie etwas erst betrifft, wenn es von der Geschichte abgehängt, zu einem Relikt wurde. Tour-T-Shirts haben zu der Zeit, in der sie verkauft werden, keinen besonderen Wert; sie erlangen ihren späteren Glanz, weil sie auf eine Zeit verweisen, in der sie noch unscheinbar waren und einfach nur getragen wurden. Kugelberg liefert ein ironisches Echo der Dichter der Romantik und von deren Besessenheit von mittelalterlichen Kirchen und Klöstern, wenn er die Vintage-T-Shirts als »Ruinen« bezeichnet, aber er warnt auch davor, dass diese Ruinen durch »die gefürchteten Schwitzflecken« ruiniert werden können – zumindest was ihren Sammlerwert betrifft.

Jeff Gold bevorzugt ein funkigeres Wort für Historizität: Mojo (A. d. Ü.: dt. Zauber, Faszination). Der Glaube daran, dass die Lebenskraft der Musikidole Gegenständen aus deren Besitz noch immer anhaftet, erklärt, warum er ab und zu Dinge erwirbt, die potentiell zwar sehr lukrativ sind, sie dann aber anders als geplant nicht zur Versteigerung anbietet. Er hängt beispielsweise an »einigen Hendrix-Platten – nicht Platten von Jimi, sondern Platten anderer Musiker, die Hendrix tatsächlich besessen hat. Es gibt ungefähr 25 davon und sie wurden von einer Frau versteigert, die mit Hendrix in London zusammengewohnt hat. Darunter sind Blues-Platten, die Sgt Pepper, Sachen von Roland Kirk, Dylan.« Plattensammler sind normalerweise darauf bedacht, Platten in annähernd mint condition zu finden, aber in diesem Fall ergab sich der zusätzliche Wert daraus, dass die Platten »völlig abgenudelt waren. Das bedeutete, dass Hendrix sie ausgiebig angehört hat.« Gold sagte, dass er sich bereits darauf eingestellt hatte, »sie zu reinigen, weil sie so abgenutzt waren, aber dann dachte ich mir: Das ist Hendrix’ Dreck darauf, seine Fingerabdrücke. Es wäre falsch, sie zu reinigen.« Die Kratzer und der Dreck machten die Platten »für mich sogar noch wertvoller, weil das hieß, dass das Alben waren, die er wie verrückt abgespielt hat. Das eröffnete einen Blick in Hendrix’ Gehirn und in seinen Musikgeschmack. Seine Platten zu besitzen, bedeutete, etwas von seinem Mojo zu besitzen.«

Golds Vorliebe für diese Erinnerungsstücke erinnert an den Beginn des Handels mit Rock-Devotionalien in den späten 60ern. Die ersten Dinge, die es wert waren, gesammelt zu werden, waren Poster, insbesondere die berühmten psychedelischen für Shows im Fillmore oder Avalon in San Francisco, aber ebenso die Poster aus Detroit in den späten 60ern. Gold erwähnt eine Anzeige in einer Ausgabe eines 68er-Fanzines aus der Bay Area, in der jemand ein bestimmtes Fillmore-Poster sucht. »Es gab also bereits Typen, die die San-Francisco-Poster gesammelt haben und versuchten, eine vollständige Sammlung zusammenzubringen, nur ein Jahr nachdem sie gedruckt worden waren.«

Diese paradoxe Historizität zu erzeugen, ist ein wesentliches Anliegen der Sammler von psychdelischen Postern: Sie wollen den Erstdruck, diejenigen Plakate, die auch tatsächlich aufgehängt worden sind. Als Bill Graham klar wurde, dass die Poster zu Sammelobjekten geworden waren, die von den Fans abgerissen und zu Hause an die Wand gehängt wurden, fing er an, zweite und dritte Auflagen zu drucken, die er lediglich als Souvenir verkaufte. Aber die erste Auflage, die Poster, die dazu dienten, tatsächlich ein Konzert zu bewerben, und die »in der ganzen Stadt auf Telefonzellen und in Schaufenstern aushingen«, erklärt Gold, das war die Auflage, die von kulturellem Wert war. Und diese Erstdrucke sind »viel wertvoller als diejenigen, die nach dem Konzert als Souvenirs verkauft wurden«. Er erzählt mir von der führenden Autorität auf diesem Gebiet, dem Händler und Sammler Eric King, »der im wortwörtlichen Sinne das Buch zum Thema geschrieben hat, ein handkopiertes und auf 650 Seiten eng bedrucktes Nachschlagewerk«. Im Laufe der Jahre hat King aus der Kunst der Authentifizierung eine Wissenschaft gemacht. »Er und ein paar andere Spezialisten auf diesem Gebiet haben erschöpfende Nachforschungen betrieben, um herauszufinden, welche die Erstdrucke der Poster waren. Es gibt womöglich ein Jefferson-Airplane-Poster, bei dem auf der ersten Auflage ein Stempel mit der Aufschrift ›Associated Students of UC Berkeley‹ darauf ist, was bedeutete, dass die Poster auf dem Campus vom Studentenrat gestempelt wurden, um zu beweisen, dass die Veranstaltung genehmigt war. In anderen Fällen erkennt man die erste Auflage nur aufgrund der Dicke des Papiers. Eric nimmt also seinen Messschieber zur Hand und misst die Papierdicke, um dir das Poster für 20 Dollar als echt zu zertifizieren.«

Die 60er und die frühen 70er dominieren das Angebot auf Golds Website (www.recordmecca.com). Es finden sich dort Sachen wie ein aufblasbares Promo-Luftschiff von Led Zeppelin oder ein Stapel von acht nicht unterschriebenen Verträgen für das Monterey-Pop-Festival. Punk schleicht sich auch ein (für 800 Dollar gibt es das Original-Drehbuch zu Who Killed Bambi – dem abgebrochenen Sex-Pistols-Film – das Roger Ebert geschrieben hat und von Russ Meyer verfilmt werden sollte), aber der Großteil der Exponate stammt aus der klassischen Rock-Ära. Laut Peter Doggett, einem ehemaligen Herausgeber von Record Collector, der jetzt seine Energie einerseits in das Schreiben von Storys über Musik steckt und andererseits mit Christie’s zusammenarbeitet, um die Authentizität von Rock-Erinnerungsstücken zu überprüfen, »hat sich der Markt seit den ersten großen Auktionen, die in den frühen 80ern stattfanden, tatsächlich nicht verändert. Damals drehte sich alles um Elvis Presley, die Beatles und die Stones. Das waren die Kassenschlager in den Auktionshäusern, und eigentlich sind die einzigen Namen, die in den letzten 20 Jahren zur Königsklasse dazugekommen sind, die Sex Pistols und – an einem guten Tag – Madonna.« Christie’s hat ein paar Sachen von Blur und Oasis verkauft, aber das hat, im Vergleich zu dem, was mit den Beatles zu tun hat, nirgends für so viel Aufregung gesorgt. Es ist für jemanden, der nach dieser Ära kam, fast unmöglich, diesen Status zu erreichen.«

Johan Kugelberg versuchte mit seiner 2007er-Ausstellung Born in the Bronx den Laden am Laufen und die Sammler und Kuratoren, was Hip Hop betraf, bei der Stange zu halten. Nur ein Jahr später unternahm das britische Auktionshaus Dreweatts mit ihrer Verkaufsshow ArtCore einen dreisteren Vorstoß: ein frühzeitiger und wahrscheinlich voreiliger Versuch, den Markt für Artefakte aus der Rave-Kultur zu erschließen. ArtCore, das geistige Kind der Kuratorin von Dreweatts, Mary McCarthy, die, während sie in den 90ern Kunstgeschichte studierte, selbst Raverin war, eröffnete seine Ausstellungsräume im Februar 2009 im Keller des Kaufhauses Selfridges in der Londoner City. Obwohl ich selbst Teil der Rave-Kultur war, fand ich diese Entwicklung weniger beunruhigend als vielmehr angenehm irritierend. Die Epoche, die hier nostalgisch gefeiert wurde, lag erst 15 bis 20 Jahre zurück. Als ich am Abend der Eröffnung durch die Ausstellung schlenderte, fragte ich mich, wer diese leinwandgroßen Versionen der Flyer kaufen sollte, deren grelle cyberdelische Vorstellungswelt, die damals schon kitschig war, so furchtbar gealtert war. Womöglich möchte man den tatsächlichen Flyer haben, um sich gelegentlich auf einen angenehmen Trip in die Vergangenheit zu begeben, aber wer würde tatsächlich sein Wohnzimmer von ihm beherrschen lassen?

Ich nahm an, dass die Gemälde Originale im Stil der Flyer waren, aber es stellte sich heraus, dass die Sache noch komplexer gelagert war. Da Flyer, T-Shirts etc. nicht über die Einzigartigkeit verfügen, die entweder einen Marktwert oder eine »Aura« im Sinne Walter Benjamins generieren, musste sich McCarthy einen genialen Trick einfallen lassen, um Sammlerstücke zu produzieren. Es gab nicht einmal eine originale Druckvorlage für die Flyer, die meisten entstanden aus Entwürfen, die dann am Computer mit etwas, was man als lächerlich unbeholfene und primitive Grafikdesign-Programme bezeichnen könnte, zusammengesetzt worden waren. Die Lösung bestand also darin, die Designer um Gemälde zu bitten, die auf den originalen Flyern basierten, und die damit ganz neuartige Arbeiten erschufen. Das führte zu sonderbaren Eigenheiten in der Datierung – ein Flyer, der 1988 herauskam, musste auf 2008 datiert werden, dem Jahr der Reproduktion –, aber laut McCarthy »war das der einzige Weg, wie ich diese Werke auf den Kunstmarkt bekam«.

Ich persönlich ziehe es vor, die massenhaft produzierte Kopie zu besitzen, die wirklich im Umlauf war, als ein aus einem Retro-Geist heraus erschaffenes Pseudo-Original. Der Flyer hat einen echten Bezug zur Geschichte. Und es gibt tatsächlich einen Absatzmarkt für Old-School-Rave-Flyer. Aber für ein Auktionshaus wie Dreweatt »wäre es ziemlich schwierig, Flyer zu verkaufen«, sagt McCarthy, »sie sind so klein«. Sammler wollen für ihr Geld etwas Visuelles geboten bekommen, etwas, das sie zur Schau stellen können. Eines der wenigen Originale auf der ArtCore-Veranstaltung – ein gerahmter Flyer von der Größe eines Flugblatts und mit einer rudimentären Schwarz-Weiß-Grafik für den legendären Acid-House-Club Shoom – sieht wirklich unscheinbar aus, das muss ich einräumen.

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