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Prolog: Don’t Look Back Nostalgie und Retro

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Das Wort wie auch das Konzept der Nostalgie wurden im 17. Jahrhundert von dem Physiker Johannes Hofer entwickelt, um den seelischen Zustand schweizerischer Söldner während langer Dienste in der Ferne zu beschreiben. Wörtlich bedeutete Nostalgie Heimweh, ein die Kräfte aufzehrendes Verlangen, ins Heimatland zurückzukehren. Zu den Symptomen gehörten Melancholie, Anorexie und sogar Selbstmord. Diese »Krankheit« – im Nachhinein offensichtlich psychosomatisch – blieb bis ins späte 19. Jahrhundert ein Problem der Militärärzte, denn es war für die Kriegsführung wesentlich, die Moral aufrechtzuerhalten.

Ursprünglich bezog sich Nostalgie also auf ein räumliches Verlangen und nicht auf ein zeitliches; es war schlicht der Schmerz darüber, am falschen Ort zu sein. Nach und nach verlor Nostalgie diese topografische Bedeutung und bezog sich auf einen temporalen Zustand: Es handelte sich nicht mehr um ein qualvolles Verlangen nach dem Vaterland, sondern um ein sehnsüchtiges Schmachten nach einer verlorenen, glücklichen Zeit. Seit sie nicht mehr pathologisiert wurde, begriff man Nostalgie nicht nur als individuellen Gemütszustand, sondern auch als kollektive Sehnsucht nach einer glücklicheren, einfacheren und unschuldigeren Epoche. Ursprünglich war Nostalgie eine nachvollziehbare Emotion, insofern, als es dafür auch Abhilfe gab (indem man das erstbeste Kriegs- oder Handelsschiff nahm, um zum heimischen Herd, zu Kind und Kegel zurückzukehren, in eine Welt also, mit der man vertraut war). Nostalgie im modernen Sinne ist eine unmögliche Emotion oder zumindest eine unheilbare: Das einzige Mittel dagegen wäre eine Zeitreise.

Dieser Bedeutungswandel hat sich zweifelsfrei mit der zunehmenden und selbstverständlichen Mobilität vollzogen, aufgrund der Massenimmigration in die Neue Welt und der Wanderbewegung der Siedler und Pioniere innerhalb Amerikas, der kolonialistischen und militärischen Bestrebungen der Europäer in ihren zahlreichen Imperien und aufgrund der Vielzahl von Menschen, die Teil der weltweiten Migrationsbewegungen geworden sind, um überhaupt einer Arbeit nachgehen zu können oder beruflich ihre Aufstiegschancen zu verbessern. Die nostalgische Fixierung auf die Vergangenheit nahm aber auch zu, weil die Welt sich schneller veränderte. Ökonomische Umwälzungen, technologische Erfindungen, soziale und kulturelle Verschiebungen führten dazu, dass es zum ersten Mal eine starke Diskrepanz gab zwischen der Welt, in der man aufwuchs, und der, in der man alt wurde. Angefangen bei den Landschaften, die sich durch Bebauung dramatisch veränderten (»Das waren alles Felder, als ich noch ein junger Bursche war«), bis hin zu technischen Entwicklungen, die den Takt des Alltags beeinflussten, verschwand die Welt, wie man sie kannte, schrittweise. Die Gegenwart wurde zu einem fremden Land.

Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Nostalgie nicht mehr pathologisch betrachtet, sondern als eine universelle Befindlichkeit. Sie konnte genauso für Individuen gelten – ein morbides Horchen in die Vergangenheit – wie auch für die Gesellschaft als Ganzes. Häufig war an die Nostalgie ein reaktionäres Verlangen nach einer alten sozialen Ordnung gekoppelt, die dank ihrer klar definierten Klassenunterschiede als stabiler angesehen wurde – »hier kannte noch jeder seinen Platz«. Aber Nostalgie hat nicht immer nur den konservativen Kräften gedient. Im Laufe der Geschichte haben radikale Bewegungen ihre Ziele oft nicht als revolutionär, sondern als restaurativ begriffen: Sie wollten die Dinge wieder in den Zustand zurückversetzen, in dem sie einmal waren, ein goldenes Zeitalter des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit, das durch ein historisches Trauma oder Machenschaften der herrschenden Klasse zerstört worden war. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs sahen die Parlamentarier sich selbst als Konservative und König Karl I. als einen Erneuerer, der die Macht der Krone ausweitete. Selbst die Levellers, eine der radikalsten Fraktionen, die während der kurzen Regierungszeit Oliver Cromwells nach der Hinrichtung des Königs aktiv waren, glaubten daran, nur die Magna Carta und das »Naturrecht« aufrechtzuerhalten.

Revolutionäre Bewegungen basieren oft ideengeschichtlich auf den Bildern von »verlorenen und wiedergewonnenen Paradiesen«. Die Situationisten, die Theoretiker der Pariser Unruhen 1968, schrieben von der »verlorenen Totalität«: Ein paradiesischer Zustand sozialer Gleichheit und individueller Nicht-Entfremdung, von dem sie annahmen, dass er vor der Epoche des industrialisierten Kapitalismus existiert hätte. Und dass dieses Paradies von dem gespaltenen Bewusstsein, verursacht durch Klassengrenzen, Spezialisierung am Arbeitsplatz und Stundenlohn, abgelöst worden war. Die Situationisten gingen davon aus, dass Automatisierung die Menschheit vom Arbeitszwang befreien würde, und ihr ermögliche, die »Totalität« wiederzuentdecken. Ebenso glauben einige Feministinnen an ein verlorenes ursprüngliches Matriarchat, das vor langer Zeit frei von Herrschaft und Ausbeutung existiert habe, und in dem die Menschheit in Eintracht mit sich und Mutter Natur gelebt hätte.

Die reaktionäre und die radikale Nostalgie eint die Unzufriedenheit mit der Gegenwart, worunter gemeinhin die Welt seit der industriellen Revolution, der Urbanisierung und dem Kapitalismus verstanden wird. Mit dem Beginn dieser neuen Epoche wurde die Zeit selbst in zunehmendem Maße nach der Taktung der Fabriken, der Büros und auch der Schulen, wo die Kinder für diese Arbeitsplätze ausgebildet werden, organisiert und nicht mehr nach dem natürlichen Lauf von Sonnenauf- und -untergang oder den Jahreszeiten. Ein Aspekt der Nostalgie ist auch die Sehnsucht nach einer Zeit vor der Zeit: die ständige Anwesenheit der Kindheit. Diese Vorstellung kann auch auf ganze vergangene Epochen ausgeweitet werden (wie z. B. die Faszination der viktorianischen Epoche für das Mittelalter), die für die Geschichte das Pendant zur Kindheit sind. Svetlana Boym, die Autorin von The Future of Nostalgia, untersucht, wie es überhaupt möglich ist, »sich nostalgisch nach einem vornostalgischen Zustand« zu sehnen. Und es geht mir auch so, dass, wenn ich wehmütig an die goldenen Zeiten meines Lebens denke, diese die völlige Versenkung in ein Jetzt gemeinsam haben: die Kindheit, Verliebtsein, oder Phasen, in denen ich vollständig in aktuelle Musik versunken war (als Teenager in Post-Punk und in meinen späten Zwanzigern in die frühe Rave-Szene).

Die Pop-Nostalgie wird da interessant, wo es um diese sonderbare Nostalgie für die wundervollen Tage des »Leben im Jetzt« geht, die man tatsächlich nicht erlebt hat. Sowohl Punk als auch der Rock’n’Roll der 50er evozieren Emotionen dieser Art, aber die Swinging Sixties stellen alles in den Schatten, wenn es um das Auslösen einer nachgestellten Nostalgie geht. Ironischerweise führte die Nichtexistenz von Revivals und Nostalgie in den 60ern selbst dazu, dass es seitdem zahllose 60er-Revivals gab. Ein Teil der Attraktion dieser Epoche liegt in ihrer völligen Fixiertheit auf die Gegenwart. Schließlich war dies die Epoche, die den Slogan »be here now« geprägt hat.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Nostalgie immer stärker mit der Popkultur verbunden. Sie drückte sich in der Popkultur aus (Revivals, Radiosendungen mit Oldies, Reissues etc.), aber sie wurde auch von der Popkultur aus der eigenen Jugend ausgelöst: Artefakte der Massenunterhaltung wie etwa längst vergessene Prominente und verstaubte TV-Sendungen, bizarre Werbung und Tanzstile, alte Hits und veralteter Slang. Fred Davis weist in seiner Studie Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia von 1979 nach, dass längst vergangene Massenkultur in zunehmendem Maße politische Ereignisse wie Kriege oder Wahlen als die Schlüsselereignisse des Generationengedächtnisses ablöst. Wer in den 30ern aufgewachsen ist, bei dem werden durch Radio-Komödien und Übertragungen von Live-Musik wehmütige Erinnerungen geweckt, während es für die, die in den 60ern und 70ern aufwuchsen, TV-Pop-Sendungen wie American Bandstand und Soultrain, Ready Steady Go und Top of the Pops sind. Und für eine spätere Generation (von der viele noch Musik machen und Wellen schlagen) sind die Auslöser der Nostalgie die zahlreichen Aspekte der grellen 80er-Modernität: Die unbeholfenen Gehversuche von Video als Kunstform, damals auf MTV ausgestrahlt, die damals futuristischen, heute lachhaft primitiven Computer- und Arcade-Spiele dieser Zeit und deren roboterhafte, fröhlichen Melodien und Day-Glo-Synthietöne.

Nostalgie ist durch und durch mit dem Komplex Konsumenten-Unterhaltungsindustrie verbunden: Wir empfinden Schmerzen beim Anblick der Produkte aus der Vergangenheit, den Neuheiten und Ablenkungen, die unsere Jugend bevölkerten. Indem sie individuelle Beschäftigungen (wie Hobbys) oder partizipatorische lokale Aktivitäten (wie Freizeitsport) in den Hintergrund drängen, übernehmen die Massenmedien und die Popkultur einen immer größer werdenden Teil unseres geistigen Lebens. Das ist der Grund, warum Sendungen wie I Love the ’70s/’80s etc. so effektiv sind: der Verlauf unserer Zeit ist ein Index für die schnell alternden Trends, Moden, Promi-Karrieren etc. geworden.

Aus der Schnittmenge von Massenkultur und persönlicher Erinnerung geht Retro hervor. Vielleicht ist es hier an der Zeit für eine provisorische Definition von Retro, um es von anderen Formen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, zu unterscheiden:

(1) Bei Retro geht es immer um die relativ unmittelbare Vergangenheit, um Dinge, die noch lebendig in Erinnerung sind.

(2) Retro enthält ein Element der exakten Wiederholung: Archivierte Dokumente (Fotografie, Video, Musikaufnahmen, Internet) sind griffbereit verfügbar und erlauben eine präzise Nachbildung eines alten Stils, egal, ob es sich dabei um vergangene Musikgenres, Bilder oder Mode handelt. Das Ergebnis davon ist, dass das Ausmaß an einfallsreichen Umgestaltungen der Vergangenheit – die Verfälschungen und Veränderungen, die frühere Kulte um zurückliegende Zeiten ausgemacht haben – zurückgeht.

(3) Retro beinhaltet gemeinhin auch die Artefakte der Popkultur. Das unterscheidet Retro von früheren Revivals, die sich, wie der Historiker Raphael Samuel betont, um die Hochkultur gedreht haben und von den höheren Rängen der Gesellschaft ausgingen – aristokratische Ästheten und Antiquare, die über einen ungewöhnlichen Geschmack für ausgefallene Sammlerstücke verfügten. Der Tummelplatz für Retro sind nicht die Auktionshäuser oder die Antiquitätenhandlungen, sondern Flohmärkte, Wohltätigkeitsbasare und Ramschläden.

(4) Ein letztes Charakteristikum des Retro-Bewusstseins ist, dass es die Vergangenheit weder idealisiert noch romantisiert, sondern versucht, von ihr unterhalten und fasziniert zu sein. Im Großen und Ganzen ist die Annäherung nicht wissenschaftlich und puristisch, sondern ironisch und eklektisch. Samuel spricht davon, dass »der Retrochic die Vergangenheit wie ein Spielzeug behandelt.« Diese Verspieltheit hängt damit zusammen, dass es bei Retro tatsächlich mehr um die Gegenwart als um die Vergangenheit geht, die verehrt und wiederbelebt wird. Die Vergangenheit wird als ein Material-Archiv behandelt, aus dem durch Recycling und Neukombination subkulturelles Kapital (Hipness also) gewonnen werden soll: die Bricolage von kulturellem Nippes.

Woher kommt das Wort »Retro«? Laut der Design-Historikerin Elisabeth Guffey wurde der Begriff in den frühen 60ern als linguistisches Spin-Off des Raumfahrtzeitalters in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen. Retroraketen sorgten für einen Bremsschub und verlangsamten den Antrieb der Raumkapseln. Die Verbindung von »Retro« mit der Epoche nach Sputnik, dem Wettlauf ins All, führt zu einer reizvollen Analogie: Retro bildet das kulturelle Gegenstück zum »Rückwärtstrieb«, Nostalgie und Revials entstehen in den 70ern als Reaktion auf den mit Volldampf betrieben Ausflug ins All.

So verführerisch diese Vorstellung ist, so ist es doch wahrscheinlicher, dass »Retro« ein Präfix ist, das von »Retrospektive, »retrograd« und ähnlichen Begriffen losgelöst wurde. Begriffe, die mit »Retro« beginnen, haben eine eher negative Bedeutung, wohingegen »Pro«-Wörter eher in Richtung »progressiv« zeigen. Retro selbst ist also eine Art schmutziges Wort und nur wenige Leute wollen damit in Verbindung gebracht werden. Das absurdeste Beispiel dafür ist die tragische Story von Donald Cameron, einem Wirt in Birmingham, der sich 1998 umbrachte, als der Eigentümer des Pubs, eine Brauerei, entschied, seinen Laden in einen Retro-Schuppen namens Flares umzugestalten. Bei der Untersuchung des Todes erzählte Camerons Witwe, dass die erniedrigende Aussicht, »Kleidung aus den 70ern und Perücken zu tragen«, Cameron in die Verzweiflung getrieben habe. »Er dachte, er könne nicht damit umgehen, wenn es im Pub Schwierigkeiten gäbe. Die Leute würden über ihn lachen, weil er lächerlich aussieht.« Ein paar Tage, nachdem er von den Brauerei-Typen dafür gemaßregelt worden war, dass er während seiner Arbeit einen typischen 90er-Jahre Anzug und Krawatte trug, erstickte sich der 39-jährige Vater zweier Kinder mit den Abgasen seines Autos.

Das ist eine extreme Reaktion, doch ich habe beobachtet, dass Leute, mit denen ich Interviews geführt habe, betonten, dass sie rein gar nichts mit Retro zu tun hätten. Das waren häufig Leute, die ihr ganzes Leben einer bestimmten vergangenen musikalischen oder subkulturellen Epoche verschrieben hatten. Aber Retro? Auf keinen Fall … Es geht gar nicht darum, dass den Leuten das Image nicht gefällt, mit muffigem, vermoderndem alten Zeug in Verbindung gebracht oder als Eigenbrötler betrachtet zu werden, der denkt, dass die Gegenwart es nicht mit der Vergangenheit aufnehmen könne. Tatsächlich lehnen viele die gesamte moderne Popkultur voller Emphase ab. Was sie vor dem Begriff Retro zurückschrecken lässt, sind die Assoziationen mit Camp, Ironie und bloßem Modebewusstsein. Retro repräsentiert, soweit es meine Interviewpartner betrifft, ein geistloses, auf Oberflächlichkeiten gerichtetes Bedachtsein auf Stil, das im Widerspruch zu einer tiefen, leidenschaftlichen Liebe zum Wesen der Musik steht.

In den Köpfen vieler Leute ist Retro mit Hipstern verbunden, eine weitere Identität, die fast niemand freiwillig annimmt, auch wenn er rein äußerlich perfekt ins Profil passt. Die letzten paar Jahre der 2000er waren geprägt von einem krampfhaften Hipsterhass, mit einer Flut von Magazinen, die das Hipstertum als Pseudo-Boheme kritisierten. Auf diese Artikel folgten Meta-Kritiken, die das Phänomen der Hipsterphobie untersuchten, die ausnahmslos alle herausstellten, dass niemand sich freiwillig als Hipster bezeichnen würde, und dass die Hipster-Hasser selbst für gewöhnlich sehr gut in das Bild vom Hipster passten. Diese Orgie einer von Hipstern inspirierten Debatte verlief parallel – ohne sich ganz damit zu überschneiden – zu dem journalistischen Subgenre, das fragt: »Was ist bloß aus der Innovation geworden?« Hier wurde Retro in einem vagen, alles umfassenden Sinne gebraucht und auf alles Altmodische und alle Weiterentwicklungen angewandt, wobei einige futuristische Fanatiker (ich selbst teilweise auch) so weit gingen, Retro als Totschlagargument gegen jeden Künstler zu gebrauchen, dessen Einflüsse und Vorläufer allzu offenkundig waren.

Offensichtlich ist es nicht per se Retro, wenn man Einflüsse hat. Ich stimme nicht völlig mit Norman Blake von Teenage Fanclub überein, der mir gegenüber mal meinte, dass »Rockmusik, die nicht wie etwas anderes klingt, immer schrecklich klingt.« Aber wie macht man denn ohne einen Ausgangspunkt Musik? Die meisten Musiker, Künstler und Schriftsteller lernen das, was sie machen, durch Nachahmung – zumindest anfangs. Gleichermaßen ist es nicht gleich Retro, wenn man sich musikalischer Traditionen bewusst ist. Ein gutes Beispiel ist die britische Folk-Szene. Die Bewegung setzte Ende des 19. Jahrhunderts als eine Art antiquarische und ethnologische Musikwissenschaft ein: Leute wie Cecil Sharp tingelten die britischen Inseln auf und ab, um Songs zu sammeln und Wachszylinder-Aufnahmen von alten Männern und Frauen zu machen, die für gewöhnlich die letzten lebenden Zeugen waren, die sich an die alten Balladen erinnerten. Aber dieses konservierende Projekt, bei dem die traditionelle britische Musik dokumentiert und später so originalgetreu wie möglich nachgespielt wurde, hat nichts mit Retro im modernen Sinne zu tun. Es handelte sich dabei um ein vollkommen ernsthaftes, politisch idealistisches Projekt. Folk wurde als die Musik des Volkes und damit automatisch als links betrachtet. Als die Szene der Liebhaber traditioneller Musik im Königreich wuchs, entstand nach und nach eine Kluft zwischen den Puristen und denen, die die Musik lebendig halten wollten, indem sie zeitgemäße Elemente aufnahmen. Letztere erlaubten sich Freiheiten im Umgang mit den Formen der Folkmusik, änderten die Instrumentierung oder spielten sie mit elektrischen Instrumenten, mischten nicht-heimische Einflüsse dazu und schrieben zu den Originalsongs zunehmend unkonventionelle und gegenkulturelle Texte.

Eliza Carthy wird in der jüngeren Generation der gegenwärtigen Folksänger als eine Leitfigur angesehen. Oberflächlich betrachtet ist ihr Werk konservativ: Sie führt im wahrsten Sinne des Wortes das Familienunternehmen (die Erneuerung der traditionellen britischen Musik) weiter, indem sie in die Fußstapfen ihrer Eltern, Norma Waterson und Martin Carthy, getreten ist. Aber sie setzt in ihrer Musik genauso Synthesizer ein wie akustische Instrumente, ihre Geige etwa, oder arbeitet mit Einflüssen aus Trip Hop und Jazz. Und sie nimmt bedenkenlos digital auf. Näher an Retro im strengeren Sinn ist die amerikanische Free-Folk-Bewegung (die manchmal auch als Freak Folk oder Weird Folk bezeichnet wird). Diese jungen Musikanten – Künstler wie Joanna Newsom, Devendra Banhart, MV & EE, Wooden Wand, Espers – verehren genau die Spät-60er- und Früh-70er-Blütezeit des britischen Folk, in der Martin Carthy und Norma Waterson sich ihren Namen gemacht haben, aber sie sind mehr auf die Freaks dieser Zeit fixiert, wie The Incredible String Band und Comus, oder obskure Künstlerinnen wie Vashti Bunyan. Die Free-Folk-Gruppen fetischisieren das Akustische und das Analoge: Sie nehmen große Mühen auf sich, um einen Vintage-Sound hinzubekommen und Instrumente aus dieser Zeit zu benutzen. Die Unterschiede liegen auch darin, wie sie sich selbst präsentieren sowie in der Aufmachung der Alben. Eliza Carthy ist dafür berühmt, auf der Bühne einen Nasenring und punkig lila oder blutrot gefärbte Haare zu tragen. Die Free-Folk-Troubadoure dagegen zeigen ihre Verehrung für das verlorene goldene Zeitalter durch wild zusammengewürfelte bunte Kleidung, langes wallendes Haar und Bärte. Das Artwork ihrer Alben ist oft ehrfurchtsvoll und voller Referenzen. Die Promofotos von Espers erinnern an die Waldumgebung, die The Incredible String Band auf ihren klassischen Alben in den 60ern bevorzugten; das Cover von Wooden Wand and the Sky High Bands Second Attention zitiert das kuschelnde Liebespaar auf einer Bergspitze auf dem Coverfoto von John und Beverly Martyns 70er-Album Stormbringer.

Während Eliza Carthy die Folkmusik aktualisiert hat, um ein zeitgenössisches Publikum anzusprechen, möchten die Freak-Folk-Bands die Vergangenheit in die Gegenwart hinein übersetzen. Folk liegt Carthy wortwörtlich im Blut, sie ist damit aufgewachsen; im Gegensatz dazu ist die Beziehung der Freak-Folk-Künstler zu ihren Vorbildern fast immer durch Aufnahmen aus einer viel früheren Epoche vermittelt, und der Abstand vergrößert sich auch noch, da sie ihren Fokus hauptsächlich auf den britischen Folk und nicht dessen amerikanische Pendants aus der gleichen Zeit richten. Sie zeigen null Interesse an zeitgenössischen Vertretern wie Carthy oder an den gegenwärtigen Aktivitäten der Veteranen aus der originalen Britfolk-Epoche der späten 60er / frühen 70er wie etwa Richard Thompson.

»Es handelt sich um Musik für Plattensammler«, sagte Byron Coley, ein Journalist und einer der Verteidiger der Free-Folk-Szene, der auch selbst Plattenhändler ist, gegenüber der Musikkritikerin Amanda Petrusich. Anders als Folkmusik, die als Tradition von Generation zu Generation weitergegeben und durch Unterricht oder das Zuhören bei Auftritten gelernt wird, ist Free Folk eine »fabelhafte Simulation«, die auf dem Anhören von Platten basiert. Coley: »Es geht dabei größtenteils um Typen, die alleine in ihren Zimmern sitzen und die Liner Notes studieren.« Einer der Säulenheiligen des Genres, der Gitarrist John Fahey, war ein obsessiver Plattensammler, der in späten Jahren das archivarische Reissue-Label Revenant – der Name bedeutet soviel wie Wiedergänger – gründete, auf dem er den ganzen primitiven Folk, Blues und Gospel wiederveröffentlichte, den er ausgegraben hatte.

Obwohl die Technik für Tonaufnahmen bereits im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, definierte es erst das 20. Jahrhundert und schuf in seinen zahlreichen Formen schließlich die Möglichkeiten für Retro. Audioaufnahmen und andere Formen der Dokumentation (Fotografie, Video) liefern nicht nur das Rohmaterial für Retro, sie erschaffen auch eine bestimmte Sensibilität. Artefakte lassen sich obsessiv vor- und vurückspulen, man kann konzentriert zuhören und sich so minutiös auf stilistische Details versteifen. »Das ist ein kompletter Paradigmenwechsel, es hat sich völlig in unsere Gehirne hineingefressen«, sagt Ariel Pink über den Umbruch von Musik, die als Partitur, und Musik, die als Album verkauft wird. »Das Aufnahme-Medium kristallisiert tatsächlich so etwas wie ein Ereignis heraus, das mehr ist als die Summe der Partitur. Das Gefühl des Augenblicks wird eingefangen. Das hat alles verändert – die Leute sind in der Lage, Erinnerungen wieder wachzurufen.« Über Alben zu grübeln, erlaubt es Sound-Fanatikern wie Pink, die spezifischen Qualitäten vergangener Produktionsstile und Gesangsformen zu isolieren und zu kopieren. So gibt es bei »Can’t Hear My Eyes« auf Before Today beispielsweise einen Wirbel auf der Tom-Tom, bei dem die Klangfarbe des Schlagzeugs, das Feeling einer bestimmen Struktur wie ein Zeitfenster in die Spät-70er-Epoche von Gerry Raffertys »Baker Street« und Fleetwood Macs Tusk wirkt. Pink beschreibt die Beziehung seiner Musik zur Vergangenheit des Pop so: »Ich bewahre etwas, das gestorben ist. Etwas, das ausgestorben ist. Und dabei schreie ich ›Oh Nein!!!‹ Das ist für mich als Musikliebhaber alles. Ich mache gerne Sachen, die ich mag. Und was ich mag ist etwas, das ich nicht höre

Der Einfluss von Pop war abhängig von Alben. Seine Qualität der Gegenwärtigkeit und die Art und Weise, wie er tief in das alltägliche Leben wirkte, rührte daher, dass Platten innerhalb der ungefähr gleichen Zeitspanne im Radio gespielt oder in den Läden massenhaft gekauft und dann mit nach Hause genommen und immer und immer und immer wieder angehört wurden. Musiker konnten auf eine viel persönlichere und tiefgreifendere Methode eine viel größere Zahl von Menschen auf der ganzen Welt erreichen, als sie das je mit Konzerten gekonnt hätten. Aber die Platten erschufen auch eine Art Rückkopplungsschleife: Es bestand jetzt die Möglichkeit, dass man bei einer bestimmten Platte oder einem bestimmten Künstler hängen blieb. Schließlich, nachdem Pop genug Vergangenheit angehäuft hatte, wurde es möglich, dass man sich auf eine zurückliegende Popzeit, die man der eigenen vorzog, fixierte. Ariel Pink: »Wenn Leute auf Sixties-Musik stehen, dann bleiben sie für immer dort hängen. Sie leben in dem Moment, in dem die Person, der sie zuhören, ihre Haare zum ersten Mal lang wachsen ließ. Sie sehen sich Fotos an und sie glauben, sie würden tatsächlich dort leben können. Was meine Generation betrifft, wir waren nicht einmal da« – er wurde 1978 geboren – »und doch leben wir ›dort‹. Wir haben keine Vorstellung von Zeit.«

Die phonografische Aufnahme ist so etwas wie ein philosophischer Skandal, da sie einen einzelnen Moment nimmt und ihn auf ewig konserviert; sie fährt in der Einbahnstraße der Zeit entgegen der Fahrtrichtung. In einem anderen Sinn ist das Problem der Popmusik, dass ihr Wesen auf das Ereignis ausgerichtet ist – Momente, die ganze Epochen bestimmen, wie Elvis Presleys Auftritt bei Ed Sullivan, die Ankunft der Beatles am JFK-Flughafen, die Hendrix-Darbietung von »The Star-Spangled Banner« in Woodstock oder wie die Sex Pistols in der Bill Grundy Show Schimpftiraden loslassen. Aber ausgerechnet das Medium, von dem Pop abhängt und durch das er verbreitet wird – Aufnahmen und Fernsehen – ermöglichen es, dass der Moment permanent verfügbar und das Subjekt endloser Wiederholung wird. Der Moment wird zum Monument.

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