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Das Jahrzehnt des »Re« Einleitung

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Wir leben in einem Zeitalter des Pop, das völlig verrückt ist nach permanenter Erinnerung. Bands reformieren sich, spielen Reunion-Touren. Es erscheinen Tributalben und Box-Sets, es finden Jubiläums-Festivals und Livekonzerte statt, auf denen komplette Alben, bevorzugt die Klassiker, durchgespielt werden: Mit jedem neuen Jahr, das ins Land geht, scheint die Musik von gestern wichtiger zu werden.

Kann es sein, dass die größte Gefahr für die Zukunft der Musik … ihre eigene Vergangenheit ist?

Vielleicht klingt das übertrieben apokalyptisch. Aber das Szenario, das ich mir ausmale, ist weniger eine plötzliche Katastrophe denn vielmehr ein schleichendes Verschwinden. So wird Pop enden: nicht mit einem Knall, sondern in einem Box-Set, dessen vierte CD du niemals abspielen wirst, und mit einer überteuerten Eintrittskarte für ein Pixies- oder Pavement-Konzert, auf dem ein Album eins zu eins neu inszeniert wird, das du bereits in deinem ersten Semester bis zum Gehtnichtmehr gehört hast.

Es gab einmal eine Zeit, in der der Stoffwechsel des Pop auf Hochtouren lief und während der psychedelischen 60er, der Post-Punk-70er, der Hip-Hop-80er und der Rave-90er das Gefühl erzeugte, direkt in die Zukunft gespült zu werden. Die 2000er fühlten sich anders an. Der Pitchfork-Kritiker Tim Finney verwies auf »die seltsame Langsamkeit, mit der das Jahrzehnt voranschreitet«. Er meinte damit insbesondere die elektronische Dance Music, die in den 90ern die Avantgarde der Popkultur war und die in jeder Saison das Next Big Thing hervorbrachte. Aber Finneys Beobachtung trifft nicht nur auf die Dance Music zu, sondern lässt sich auf die gesamte Popmusik übertragen. Das Gefühl, vorwärts zu kommen, wurde immer schwächer, je weiter das Jahrzehnt voranschritt. Die Zeit selbst wurde scheinbar träger, wie ein Fluss, der sich ruhig dahinschlängelt und tote Flussarme ausbildet.

Wenn der Pulsschlag des JETZT sich mit jedem Jahr schwächer anfühlte, lag das daran, dass die Gegenwart von Pop in den 2000ern immer mehr von der Vergangenheit verdrängt wurde, sei es durch die Erinnerungen aus dem Archiv des Gestern oder als Retro-Rock, der sich an alte Stile klammerte. Anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen, drehten sich die 2000er um alle vorangegangenen Jahrzehnte auf einmal: Die Gleichzeitigkeit der Pop-Zeit, die die Vergangenheit abschaffte, während sie die Bedeutung der Gegenwart als eine Epoche mit eindeutiger Identität und Atmosphäre demontierte.

Anstatt die Schwelle in die Zukunft zu verkörpern, waren die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts das »Re-«Jahrzehnt. Die 2000er waren von dem Präfix »Re-« bestimmt: Revivals, Reissues, Remakes. Endlose Retrospektive: Jedes Jahr brachte eine neue Flut von Jubiläen mit dem dazugehörigen Überschuss an Biografien, Erinnerungen, Rockumentationen, Biopics und Jubiläumsausgaben von Magazinen mit sich. Und dann gab es die Bands, die sich reformierten; entweder waren es Gruppen, die sich für Nostalgie-Touren wiedervereinigten, um die leeren Konten der Band-Mitglieder wieder aufzufüllen (oder deren volle Konten noch weiter aufzublähen – Police, Led Zeppelin, Pixies … die Liste ist endlos), oder es waren Bands, die ins Studio zurückkehrten, um die Karrieren ihrer Musiker wieder anzukurbeln (Stooges, Throbbing Gristle, Devo, Fleetwood Mac, My Bloody Valentine …).

Wären doch bloß lediglich alte Musik und alte Musiker wieder zurückgekehrt, sei es in »archivierter Form« oder als wiederbelebte Performer. Aber die 2000er waren auch das Jahrzehnt des ungezügelten Recyclings: Vergangene Genres wurden wiederbelebt oder erneuert, verstaubte Aufnahmen wurden neu bearbeitet und neu kombiniert. Viel zu häufig konnte man unter der straffen Haut und den rosa Wangen junger Bands das schlaffe graue Fleisch alter Ideen durchschimmern sehen.

Je weiter die 2000er voranschritten, desto mehr schrumpfte der Abstand zwischen einem Ereignis und seiner Wiederverwertung auf frappierende Weise. Die I Love the … -Fernsehserie, die erst von der BBC ausgestrahlt und dann für Amerika von VH1 übernommen wurde, brauste durch die 70er, 80er und 90er und nahm dann – mit I Love the Millennium, die im Sommer 2008 gesendet wurde – die 2000er gleich mit, noch bevor das Jahrzehnt überhaupt vorbei war.

Inzwischen greifen die Tentakel der Wiederveröffentlichungsindustrie bereits nach den 90ern, mit Box-Sets und neu gemasterten oder erweiterten Versionen von deutschem Minimal Techno, Britpop und selbst den schwächsten Soloalben von Morrissey. Wir stehen bereits knöcheltief in einer zunehmenden Flut historisierter Vergangenheit. Wenn es um Revivals ging, hielt sich die Musikszene zunächst an die 20-Jahre-Regel: In Form von Post-Punk-, Elektropop- und zuletzt Gothic-Auferstehungen waren die 80er während fast der gesamten 2000er »in«. Aber mit der Nu-Rave-Mode und dem zunehmenden Interesse neuer Indie-Bands an Shoegaze, Grunge und Britpop deutete sich schon früh ein 90er-Revival an.

Das Wort »Retro« hat eine konkrete Bedeutung: Es meint die selbstreflexive Fetischisierung eines bestimmten Zeitraums (in der Musik, Mode oder im Design), die durch Nachahmung und Zitat kreativ ausgedrückt wird. Im engeren Sinne ist Retro die Domäne von Ästheten, Connaisseuren und Sammlern, also von Leuten mit beinahe akademischem Wissenshorizont und einem scharfen Sinn für Ironie. Aber das Wort ist inzwischen in einer viel weiter gefassten Bedeutung gebräuchlich und dient dazu, so ziemlich alles zu beschreiben, was irgendeinen Bezug zur jüngeren Geschichte hat. Im Sinne dieser weiter gefassten Verwendung des Wortes untersucht Retromania die gesamte Bandbreite des gegenwärtigen Gebrauchs und Missbrauchs der Vergangenheit von Pop. Die Gegenwärtigkeit der alten Popkultur wurde immer deutlicher spürbar: Komplette Backkataloge sind weiterhin verfügbar, auf YouTube ist ein riesiges kollektives Archiv entstanden. Gleichzeitig hat sich die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren, verändert, nicht zuletzt dank eines Geräts wie dem iPod, der oft als persönlicher »Oldies«-Radiosender dient. Dazu kommt noch, dass Rockmusik nach etwa 50-jähriger Geschichte auf natürliche Weise ergraut ist: Es gibt Musiker, die immer noch touren und Alben aufnehmen, genauso wie Künstler, die nach langer Zeit des Schweigens wieder ein Comeback starten. Und schließlich gibt es »neue alte« Musik von jungen Leuten, die sich stark an der Vergangenheit orientieren, häufig auf eine allzu deutliche, überzogene Weise.

Auch frühere Epochen waren von der Vergangenheit besessen – angefangen bei der Ehrfurcht, die man in der Zeit der Renaissance vor der römischen und griechischen Antike hatte, bis hin zur Verehrung des Mittelalters während der englischen Romantik. Jedoch gab es bisher in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft, die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war. Das ist es, was Retro von der Begeisterung für Antiquitäten oder Historisches unterscheidet: die Faszination für Moden, Trends, Sounds und Stars, die man noch lebhaft in Erinnerung hat. Gemeint sind Phänomene, die man bereits bei der ersten Begegnung bewusst als Bestandteil der Popkultur wahrgenommen hatte – im Unterschied zu den Sachen, die unbemerkt an einem vorüberzogen, als man noch ein kleines Kind war.

Diese Form der Retromanie ist in unserer Kultur zu einer vorherrschenden Kraft geworden, es fühlt sich fast nach einer Trendwende an. Hindert die Nostalgie unsere Kultur daran, voranzupreschen, oder verfallen wir der Nostalgie, weil unsere Kultur keinen Fortschritt produziert und wir deshalb unweigerlich auf Zeiten zurückblicken, die uns bedeutsamer und rasanter erscheinen? Aber was passiert, wenn wir die Vergangenheit zur Gänze abgegrast haben? Bewegen wir uns auf eine Art kultur-ökologische Katastrophe zu, wenn der Flöz der Popgeschichte ausgebeutet ist? Und was von all dem, was sich in diesem Jahrzehnt ereignet hat, kann den Nostalgie-Wahn und die Retro-Trends der Zukunft bedienen?

Ich bin nicht der einzige, der diesen Perspektiven ratlos gegenübersteht. Ich habe aufgehört, die Kolumnen und Blogs zu zählen, die besorgt und händeringend fragen, was mit Innovationen und Umbrüchen in der Musik geschehen ist. Wo sind die bedeutenden neuen Genres und Subkulturen des 21. Jahrhunderts? Manchmal sind es die Musiker selbst, die an den ermüdenden Déjà-vus leiden. 2007 verkündete Sufjan Stevens in einem Interview: »Rock’n’Roll ist ein Museumsexponat … Es gibt heute großartige Rockbands – ich liebe die White Stripes, ich liebe die Raconteurs, aber sie sind reif fürs Museum. In die Clubs zu gehen, wo deren Musik gespielt wird, ist wie den Geschichtssender anzusehen. Sie wiederholen nur eine vergangene Stimmung. Sie beschwören die Geister dieser Epoche herauf – The Who, Punk Rock, die Sex Pistols, was auch immer. Aber das ist vorbei, die Rebellion ist vorbei.«

Aber freilich krankt nicht allein die Popmusik an der Vergangenheit: Man muss sich nur die Manie verdeutlichen, mit der Hollywood Remakes von Blockbustern macht, die ein paar Jahrzehnte zurückliegen: Alfie, Ocean’s Eleven, Die Bären sind los, Casino Royale, Der rosarote Panther, Hairspray, Reise zum Mittelpunkt der Erde, Fame, Tron, True Grit … Für die nahe Zukunft sind Remakes von Die Fliege (ja, er wird zum dritten Mal gedreht), Die unglaubliche Geschichte des Mister C., Das dreckige Dutzend … versprochen, während Russell Brand in Remakes von Mein böser Freund Fred auftreten wird. Wenn sie nicht bewährte Kassenschlager der Vergangenheit aufmotzt, adaptiert die Filmindustrie beliebte »Kult«-Fernsehserien für die Leinwand, wie Ein Duke kommt selten allein, Drei Engel für Charlie und Mini-Max, ebenso wie längst vergangene Kinder-Cartoons wie Yogi Bär und Die Schlümpfe. Irgendwo dazwischen liegt Star Trek, das Mitte 2009 auf die Leinwand zurückkehrte: Es handelte sich dabei nicht im engeren Sinne um ein Remake, sondern um ein Prequel (der Untertitel fiel ungewollt ironisch aus: »Die Zukunft hat begonnen«) mit Spock und Kirk in ihren jungen Jahren. Dieser Film versucht, zwischen der generationenübergreifenden, zunehmenden Begeisterung für die Originalfernsehserie aus den 60ern, den Filmen der 80er und der darauf folgenden Fernsehserie Star Trek: The Next Generation zu versöhnen.

Im Theater gibt es eine lange Tradition, kanonische Stücke und populäre Musicals wiederzubeleben. Aber auch hier setzen sich Remakes und Spinoffs mit Produktionen wie Spamalot (basierend auf Monty Python und die Ritter der Kokosnuss) und »Jukebox Musicals« durch, zusammengesetzt aus den Golden Oldies legendärer Bands oder aus klassischen Genres: We Will Rock You (Queen), Good Vibrations (Beach Boys), The Times They Are A-Changin’ (Bob Dylan) und Rock of Ages (80er-Hair-Metal). Es gibt sogar »Jukebox-TV« mit Sendungen wie Glee oder Pop Idol/American Idol (mit Beatles-Nächten, Stones-Nächten etc.), die Rock und Soul auf die harmlose Tradition des Showbusiness / leichter Unterhaltung / des Varieté herunterbrechen. Auch das Fernsehen ist mit Remakes auf den Zug aufgesprungen, allerdings für gewöhnlich mit weniger Erfolg als Hollywood. Die Leute in diesem Bereich beschreiben die zeitgenössischen Versionen klassischer Fernsehserien als ein »gut verkäufliches Konzept«, aber bisher haben sich die Versuche – glamouröse Remakes von Nummer 6, Detektiv Rockford, Drei Engel für Charlie, Polizeibericht, The Twilight Zone, Auf der Flucht, Kojak, Die Sieben-Millionen-Dollar-Frau, Hawaii Fünf-Null, Beverly Hills 90210, Dallas und beliebte Britcoms wie Der Aufpasser, Reggie Perrin und The Likely Lads –, gemessen an den Einschaltquoten, nicht besonders gut »verkauft« (tatsächlich werden diese Remakes in Amerika noch häufig vor dem Ende einer Staffel abgesetzt). Trotzdem versuchen sie es immer weiter: Es scheint eine unwiderstehliche Versuchung zu sein, das Altbewährte neu aufzubereiten, den Kultstatus des Originals immer weiter zu melken.

Dann gibt es da noch die Mode. Hier ist das Durchstöbern des Kleiderschranks seit längerer Zeit wesentlich für die Industrie, aber auch die Wiederverwertung alter Ideen hat im letzten Jahrzehnt ihren wahnwitzigen Höhepunkt erreicht. Designer wie Marc Jacobs und Anna Sui wühlten sich durch die Stile vergangener Epochen, sobald diese vorbei waren. Der Markt für Vintage-Klamotten boomte (»vintage« meint mittlerweile schon die 80er, denn heute ist die Nachfrage nach Designern dieser Zeit wie Azzedine Alaia groß) und gleichzeitig fand eine »Antikisierung« von Möbeln und Artefakten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt, da die Magazine für Innendesign und Architektur wie wild auf die modernen Möbel dieser Zeit abfuhren.

Das sind nur einige der sichtbarsten Schauplätze der Retromanie. Es gibt natürlich noch Retro-Spielzeuge (die Trends umfassen alles vom View-Master bis zur Blythe-Puppe aus den frühen 70ern) und Retro-Spiele (das Spielen und Sammeln von alten Computer-, Video- und Arcade-Spielen aus den 80ern). Es gibt Retro-Essen (die Sandwich-Kette Pret A Manger bietet »Retro Prawn on Artisan« an, eine aufgemotzte Version des in den 70ern beliebten Krabbencocktails) und es gibt genauso Retro-Inneneinrichtungen, Retro-Süßigkeiten, Retro-Klingeltöne, Retro-Reisen und Retro-Architektur. Es gibt sogar ab und an Werbung in Retro-Manier, wie etwa die für Heinz Baked Beans, die unzählige Schnipsel aus alten britischen Werbespots der 60er, 70er und 80er vermischt, gekrönt von dem unverwüstlichen Slogan »Beanz Meanz Heinz«. Am verrücktesten ist die Nachfrage nach Retro-Pornos: Sammler, die sich auf Erotik- und Sex-Magazine aus bestimmten Epochen spezialisieren; Websites mit Kategorien wie »Retro Face-Sitting«, »Retro Big Tits« und »Vintage Hairy« (gemeint sind Pornos vor der Brazilian-Waxing-Ära). Telefonsexwerbung im Kabelfernsehen wird hin und wieder von schwarz-weißen Pornos und Nacktfilmen aus den 50ern (oder früher) unterbrochen, die einen zu der Vorstellung verleiten, dass die lasziven Darstellerinnen mittlerweile entweder in Einrichtungen für betreutes Wohnen oder – schluck – bei den Würmern hausen.

Obwohl man überall auf Spuren von Retro trifft, nimmt es gerade in der Popmusik überhand. Und dort fühlt es sich besonders falsch an. Bei Pop ging es doch um die Verheißung der Gegenwart, oder? Pop wird immer noch als die Sphäre der Jugend betrachtet, und von jungen Menschen erwartet man nicht, dass sie in Nostalgie verfallen; sie leben noch nicht lange genug, um in einer Fülle wertvoller Erinnerungen zu schwelgen. Gleichermaßen bedeutet der Aufruf des Pop, »Be here now«, sowohl »Lebe, als gäbe es kein Morgen« als auch »Schüttel die Fesseln des Gestern ab«. Die Verbindung der Popmusik mit dem Neuen und dem Hier und Jetzt erklärt ihre beispiellose Fähigkeit, die Atmosphäre einer bestimmten Ära herauszudestillieren. In Historienfilmen und Fernsehsendungen beschwört nichts den Geist einer Epoche besser herauf als Popsongs aus der betreffenden Zeit. Mit Ausnahme der Mode vielleicht, dem anderen Feld der Popkultur, das völlig von Retro durchdrungen ist. In beiden Fällen ist es genau diese Aktualität, die Qualität des Gegenwärtigen, die dafür sorgt, dass Musik und Mode einerseits so schnell veralten aber andererseits, wenn sie nach einer angemessenen Pause schließlich wiederbelebt werden, so sehr dafür geeignet sind, den Geist einer Epoche zurückzuholen.

Bezogen auf den Mainstream-Pop handelte es sich bei vielen der in den 2000ern kommerziell erfolgreichsten Trends um die Wiederverwertung von Bekanntem: das Wiederaufflammen des Garage-Punk durch The White Stripes, The Hives, The Vines, Jet; der Vintage-Soul von Amy Winehouse, Duffy, Adele und anderen jungen britischen Frauen, die wie schwarze amerikanische Sängerinnen der 60er daherkommen; Frauen, die vom Synthie-Pop der 80er beeinflusst sind, wie La Roux, Little Boots und Lady Gaga. Aber seine wahre Herrschaft als bestimmende Geisteshaltung und kreatives Paradigma hat Retro im Land der Hipster, den Intellektuellen des Pop, errichtet. Es sind genau diejenigen, von denen man erwartet, dass sie als Künstler das Unerwartete und Wegweisende produzieren oder es als jene Konsumenten unterstützen, die am meisten auf die Vergangenheit fixiert scheinen. Demographisch betrachtet ist es genau die Gruppe, die auf dem neuesten Stand ist, aber anstatt sich als Pioniere oder Erneuerer hervorzutun, haben sie die Seiten gewechselt und sind zu Kuratoren und Archivaren geworden. Aus der Avantgarde ist eine Arrière-garde geworden.

Auf einmal war die ganze Musikhistorie verfügbar, und dies übte natürlich eine große Anziehungskraft aus. Das Gefühl, etwas zu erleben, konnte leicht erlangt werden (tatsächlich sogar leichter), indem man sich in die immense Vergangenheit zurückbegab, statt nach vorne zu gehen. Es handelte sich dabei immer noch um einen Forschungsdrang, der aber die Gestalt der Archäologie annahm.

Dieses Phänomen setzte bereits in den 80ern ein, doch im letzten Jahrzehnt ist es richtig eskaliert. Die jungen Musiker, die in den letzten zehn Jahren zur künstlerischen Reife gelangten, wurden in einer Umgebung groß, in der die musikalische Vergangenheit in einem beispiellosen und überwältigenden Maße verfügbar war. Das Resultat ist ein anderer Ansatz des Musik-Machens, der zu einem sorgfältig arrangierten Mosaik aus Verweisen, Andeutungen und Klanggeflechten führt, dem Produkt eines ausgesuchten und oftmals überraschenden Geschmacks, der die Zeiten und die Weltmeere überbrückt. Ich habe diese Herangehensweise »Plattensammler-Rock« genannt, aber heute muss man dazu überhaupt keine Platten mehr sammeln, nur MP3s anhäufen oder wahllos durch YouTube cruisen. Die gesamte Musik und alle Bilder, die man sich früher für Geld und unter körperlicher Anstrengung besorgen musste, sind jetzt kostenlos verfügbar und immer nur ein paar Mausklicks entfernt.

Es ist nicht so, als wäre in der Musiklandschaft der 2000er gar nichts passiert. Es herrschte ein wahnsinniges Gewimmel von Mikro-Trends, Subgenres und neu zusammengesetzten Stilen. Aber die bedeutsamsten Umwälzungen betrafen die Methode unseres Konsums und die seiner Verbreitung – das führte dazu, dass die Retromanie überhand nahm. Wir wurden zu Opfern unserer Fähigkeit, große Mengen kultureller Daten zu speichern, zu ordnen, jederzeit darauf zugreifen zu können und sie zu teilen. Es gab bisher nicht nur keine Gesellschaft, die derart von den kulturellen Artefakten ihrer unmittelbaren Vergangenheit besessen war, es gab auch keine Gesellschaft, der es möglich war, so einfach und unbegrenzt auf ihre unmittelbare Vergangenheit zuzugreifen.

Allerdings geht es in Retromania nicht einfach nur darum, Retro als Ausdruck einer kulturellen Regression oder als Dekadenz anzuklagen. Wie auch? Ich bin ja selbst mitschuldig. Ebenso wie ich als Journalist über »das schöne neue Grenzgebiet« der Musik, nämlich Rave und Elektro, geschrieben habe, und ebenso wie ich auf Buchlänge Bewegungen wie Post-Punk, bei denen es immer um das Zukünftige ging, gefeiert habe, so bin ich auch mit Begeisterung an der Verbreitung der Retro-Kultur beteiligt: als Historiker, als Rezensent von Wiederveröffentlichungen, als »Talking Head« in Dokus und als Verfasser von Booklets. Aber ich bin nicht nur beruflich involviert. Als Fan von Musik bin ich genauso der Retrospektion verfallen wie alle anderen auch: Ich durchforste Second-Hand-Plattenläden, grüble über Rockbüchern, bleibe bei VH1 Classic und YouTube hängen und schaue mir Rockdokus an. Ich sehne mich nach der Zukunft, die unentschuldigt fehlt, aber ich erliege auch der Verlockung der Vergangenheit.

Als ich für dieses Buch recherchierte, war ich beim Durchsehen meiner alten Artikel überrascht, wie sehr Themen, die mit Retro zu tun haben, bereits über lange Zeit im Fokus standen. Inmitten des begeisterten Geplappers vom »Next Big Thing« in der Musik, tauchte dessen Gegenpol auf – die seltsame Bürde des Rock, seine stetig schwerer werdende Vergangenheit zu schultern. Retro verfolgte mich, diese geisterhafte Umkehrung der »Zukunft«, über die ich mich sonst ausgelassen habe und wofür ich viel bekannter bin. Im Rückblick fällt mir auf, dass ich oft unbewusst meinen ganzen Glauben und Optimismus aufbrachte, um dieses Gefühl der Verspätung beiseite zu fegen, das meiner ganzen Generation eigen ist: die Ungnade der späten Geburt all derer, die die 60er oder Punk noch nicht als bewusste Akteure miterleben konnten. Genauso wie sie begeisterten, lösten die Bewegungen der 90er, Grunge und Rave, auch eine Art Erleichterung aus: Endlich passierte mal was, das dem sagenumwobenen Glanz der Vergangenheit auch in unserer Zeit, im Heute, ebenbürtig war.

Ich konnte eine Menge Zeit und Begeisterung für Bands aufbringen, die man einfach als einen Retro-Abklatsch abtun könnte. Ich griff auf ausgefallene Argumente und abgedroschene Metaphern zurück, um zu erklären, warum eine bestimmte Band, die ich bewundere, nicht bloß ein weiterer nekrophiler Grabräuber ist. Das aktuellste Beispiel dafür ist Ariel Pink, wahrscheinlich mein Lieblingsmusiker der 2000er, dessen Before Today überall als eines der besten Alben 2010 gefeiert wurde. Ohne einen Anflug von Verlegenheit beschreibt Ariel seinen Sound als ein verzogenes Echo des friedvollen Radiopops der 60er, 70er und 80er, als »retroartig«. Und das ist er auch! Nostalgie ist trotz allem eine der großen Emotionen im Pop. Und manchmal ist diese Nostalgie eben das bittersüße Verlangen nach seiner eigenen Version der verlorengegangenen Zeit, die auch immer eine goldene war. Um es anders auszudrücken: Einige der großartigsten Künstler unserer Zeit machen Musik, deren vordergründige Emotion auf andere Musik gerichtet ist, auf frühere Musik. Aber ist andererseits nicht etwas grundsätzlich falsch daran, dass so viel großartige Musik des letzten Jahrzehnts auch genauso gut 20, 30 oder sogar 40 Jahre früher hätte entstanden sein können?

Bisher habe ich die Einleitung eines Buches immer als letztes geschrieben. Dieses Mal beginne ich mit dem Anfang. Ich weiß noch nicht genau, was ich alles herausfinden werde, wenn ich mich erstmal auf den Weg gemacht habe. Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht eine Recherche. Nicht nur suche ich nach dem Wie und Warum von Retro als Kultur und Industrie, sondern auch nach den größeren Fragen, die das Leben in, von und mit der Vergangenheit betreffen. Warum empfinde ich Retro trotz der vielen Aspekte, die ich daran mag, nach wie vor als dürftig und beschämend? Wie neu ist das Phänomen der Retromanie und wie weit können seine Wurzeln in der Popgeschichte zurückverfolgt werden? Bleibt uns Retro erhalten oder wird es eines Tages zurückgelassen werden und sich nur als eine historische Phase entpuppen? Und wenn das so ist, was verbirgt sich dann dahinter?

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