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REUNIONS ZAHLEN SICH AUS

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Während die 60er und 70er unsere Fantasie fest im Griff haben, scheint die Musealisierung der Musik von selbst fortzuschreiten, wenn jedes vergangene Jahrzehnt in die Popgeschichte eingemeindet wird. Es mag sein, dass das British Music Experience die 90er und 2000er sehr stiefmütterlich behandelt und bei Auktionen von Memorabilia nur Punk und der frühe Hip Hop Geld bringen, Dokumentationen wie Live Forever (über Britpop) oder Ausstellungen wie ArtCore beweisen aber, dass jede Generation, wenn sie älter wird, ihre musikalische Jugend mythologisiert und sich selbst würdig erinnert sehen will.

Die 90er-Nostalgie macht sich auch in einem anderen Bereich bemerkbar: den Reunions und Nostalgie-Touren. Die Wiedervereinigung von Rage Against the Machine nach einer siebenjährigen Pause, um beim Coachella-Festival in Südkalifornien als Headliner aufzutreten, ermöglichte es den Veranstaltern, ihre teuren Tickets (249 Dollar für drei Tage) in Rekordzeit abzusetzen. Blur, The Pixies, Dinosaur Jr., My Bloody Valentine, Pavement und Smashing Pumpkins sind nur einige der größeren Alternative-Rock- und Shoegaze-Bands, die auf die Bühne zurückkehrten (obwohl man den Smashing Pumpkins und Dinosaur Jr. zugestehen muss, komplett neue Alben aufgenommen zu haben und dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten, statt nur die College-Rock-/Grunge-Nostalgie auszubeuten).

Wenn Alternative-Bands sich wiedervereinigen und auf Tour gehen, gibt es ein gegenseitiges Einverständnis zwischen den Musikern und dem Publikum, von dem beide profitieren. Das alternde Publikum bekommt Stabilität geboten – sie wissen, wie die Musik klingen wird – und die Chance, ihre Jugend wieder aufleben zu lassen. Die Band kann sich an ihrem Status als Legende freuen und wieder mit den Fans in Kontakt treten. Sie verdienen besser als zu der Zeit, als ihre Mitglieder zu Legenden wurden, die Tickets sind viel teurer, ohne dass die Gefahr bestünde, das Publikum zu vergraulen, das ja nicht mehr aus College-Studenten und Slackern besteht, sondern aus Berufstätigen mittleren Alters, und sie können viel komfortabler touren als zu der Zeit, in der sie mit einem Van umherfuhren.

Reformierte Alternative-Bands aus den späten 80ern und den 90ern gehören so sehr zum Inventar von Rock-Festivals, dass der Kritiker Anwyn Crawford die Wiederkehr als den Indie-Rock-Kulturkreislauf tituliert hat. Aber die Sache geht mit dem Boom des 90er-Techno-Rave-Zirkus, also der Rückkehr dieser semi-rockigen Dance-Acts (man denke an Orbital, Leftfield, Underworld, The Orb oder The Chemical Brothers), die ihr Set live spielen und eine gute Show abliefern, weit über Indie hinaus.

Pioniere der Bewahrung des Indie-Rock-Erbes sind ATP, die Veranstalter der erfolgreichen All-Tomorrow’s-Parties-Festivals, die in Großbritannien losgingen und sich schnell auf die USA und darüber hinaus ausgebreitet haben. Von Anfang an wurden sie von renommierten Musikern (Portishead, Stephen Malkmus, Sonic Youth) und gelegentlich auch von berühmten Nicht-Musikern (Simpsons-Schöpfer Matt Groening, Jim Jarmusch) kuratiert. Und von Anfang an fanden sich im Line-up alte Bands, die wieder aus dem Ruhestand zurückkehrten. Als Nick Cave die Auswahl für das erste ATP in Australien traf, trieb er eine Menge Bands auf, die, wie Crawford betont, »aus seiner anrüchigen Jugendzeit stammten: Laughing Clowns, The Saints, Robert Forster, Primitive Calculators sowie der verstorbene und verehrte Roland S. Howard [der mit Cave zusammen bei The Birthday Party gespielt hatte, Anm. d. Autors].«

Ich traf den ATP-Gründer Barry Hogan, als er in Monticello im Bundesstaat New York die Fortsetzung ihres 2008er-Spektakels im Kutcher’s Country Club organisierte, an einem familienfreundlichen Urlaubsort in den Catskills, ähnlich den Ferienorten, an denen ATP einige ihrer Festivals in Großbritannien veranstaltet hatten. Diese erste Veranstaltung in Upstate New York war von My Bloody Valentine kuratiert worden, die auch selbst dort auftraten und eine extrem erfolgreiche Reunion-Tour in Amerika ablieferten, bei der sie im Wesentlichen ihre letzte US-Tour von 1992 wiederholten – die gleichen Songs und das gleiche ohrenbetäubende und schwindelerregende Lärmgewitter bei »You Made Me Realise« zum Abschluss ihres Sets. Hogan verriet mir, dass »es für alle Beteiligten ein lukratives Geschäft war, MBV mit ins Boot zu holen«. Als ich ihn fragte, ob Reunion-Touren ein wesentlicher Bestandteil des Veranstaltungsgeschäfts geworden seien, antwortete Hogan, dass er sich zwar nicht auf Zahlen stützen könne, aber dieses Reunion-Ding für signifikant halte: »Mir kommt es so vor, als habe jeder Veranstalter in seinem Jahresprogramm immer ein paar Comeback-Touren.«

Weil die Plattenindustrie in den 2000ern nicht genug hochkarätige Künstler hervorgebracht hat, verlasse sich die Konzertindustrie lieber auf alte Legenden, so das Wall Street Journal. Gleichzeitig haben die ehemaligen Mitglieder dieser aufgelösten legendären Bands als Solokünstler selten vergleichbaren Erfolg und daher einen finanziellen Anreiz, sich wieder zu versöhnen und gemeinsam auf Tour zu gehen. Aber selbst Bands, um die sich nie irgendjemand einen Dreck geschert hat, reformieren sich. Etwa Mudcrutch, Tom Pettys erste Band, die nur zwei Singles veröffentlichte und sich 1975 aufgelöst hat. Sie fanden sich 2008 wieder zusammen, um zu touren und endlich das Debütalbum, Mudcrutch, aufzunehmen, auf dem sich eine Mischung alter und neuer Songs findet.

Der Pulk alter Rocker, die Oldies-Sets spielen, angefangen bei Superstars wie Police oder den Eagles bis hin zu Kultgruppen (Pixies, Swervedriver) hat diejenigen hart getroffen, für die Pop und Jugendkultur eins sind. John Strausbaugh hat ein ganzes Buch geschrieben, Til You Drop: The Decline from Rebellion to Nostalgia, in dem er gegen die Faltenbildung des Rock wettert. Andere sehen das Problem nicht im fortschreitenden Alter der Bands, sondern darin, dass der Nostalgie-Markt es den Bands nicht erlaubt, sich von der Musik ihrer Jugend zu emanzipieren. Der Musiker und Kritiker Momus flucht über die »Museumifizierung« des Pop und sieht Parallelen zur klassischen Musik, die ein bestimmtes Repertoire »anerkannter Meisterwerke« endlos neu interpretiert. Andere haben genau diese Analogie bemüht, um die Kanonisierung des Rock zu verteidigen. Wenn die öffentliche Sendeanstalt ihr Musikprogramm zusammenstellt, das ein Babyboomer-Publikum ansprechen soll, um damit Werbeeinnahmen zu erzielen (Blind Faith 1969 live im Hyde Park, ein Tributkonzert für Roy Orbison mit Bewunderern wie Elvis Costello, Tom Waits, Bruce Springsteen und k.d. lang), schwärmt die Moderatorin Laura Sevigny: »Wir wollen sicherstellen, weiterhin ein Archiv der amerikanischen Kultur zu sein. Das ist die neue klassische Musik unserer Generation. Das ist Rock’n’Roll und wir wollen sichergehen, dass er im öffentlichen Fernsehen erhalten bleibt.« Ähnlich verteidigte auch Ben Ratliff, Musikkritiker der New York Times, den Boom von Rock-Reunions und verglich ihn mit der Art, wie Jazz würdevoll altert: Seit Mitte der 70er wurde Jazz zu einer »Kultur der permanenten Wiederholung und des endlosen Tributs«, in der »echte Reunions kaum wahrgenommen wurden«, während »ein gewaltiger Prozentsatz der Musik sich auf die großen Momente der Vergangenheit bezieht.« Er führte weiter aus, dass dies den Jazz nicht daran gehindert habe, »fantastisch zu sein, sich sogar zu transformieren«. Er behauptete, dass Rockbands oft erst mit der Zeit besser würden und heute von der viel besseren Soundtechnik profitieren könnten, die ihnen zur Verfügung steht.

Das Phänomen der »ganzen Alben« war es, das Momus im Besonderen auf die Analogie mit dem klassischen Repertoire brachte: Eine Band spielt live ihr bekanntestes Album in der originalen Reihenfolge von Anfang bis Ende durch. Keiner weiß mehr, wer zuerst mit diesem Trick die Fans zufriedenstellte. Es könnten Cheap Trick gewesen sein, die die 1998er-Reissues ihrer ersten vier Alben mit einer viertägigen Tour durch ausgewählte Städte promoteten, wo sie jeden Abend je ein ganzes Album spielten. Bei ihrem erfolgreichsten Album, Live at Budokan von 1979, imitierte der Sänger Robin Zander sogar seine Ansagen, da die absichtlich gestelzte Sprechweise – langsam und deutlich, damit das japanische Publikum ihn verstehen konnte – bei den Fans besonders gut ankam.

Was für Cheap Trick ein einmaliger Promogag gewesen war, erzeugte in der zweiten Hälfte der 2000er eine richtige Industrie, ganz vorne All Tomorrow’s Parties mit ihrer »Don’t Look Back«-Reihe. Angefangen hatte es 2005, als Bands wie Belle & Sebastian, The Stooges und Mudhoney, um nur ein paar zu nennen, ihre berühmtesten Alben live spielten. Diese Reenactments ganzer Alben gehörten bald zum festen Inventar der All-Tomorrow’s-Parties-Festivals, ermöglichten aber auch die ATP/»Don’t Look Back«-Bühnen bei anderen Events wie etwa dem Pitchfork Music Festival in Chicago (bei dem Public Enemy It Takes a Nation of Millions to Hold Us Back, Sebodah Bubble & Scrape und Mission of Burma Vs. spielten).

Barry Hogan von ATP beschreibt dieses Konzept als eine »Rebellion« gegen die Kultur des iPod-Shuffle und eine Verteidigung des Albums als Gesamtkunstwerk. »Heute dreht sich alles nur noch um Bequemlichkeit und iTunes. Aber MP3s klingen scheiße. ›Don’t Look Back‹ will sagen: ›Erinnere dich daran, wie es war, Platten zu kaufen, du hattest das Klappcover, das du dir ansehen konntest, und dann legte man die Platte auf und sie klang großartig.‹«

Man könnte meinen, die ganze Welt kopiere das »Don’t Look Back«-Format, von Liz Phair mit Exile in Guyville über Jay-Z mit Reasonable Doubt bis hin zu Van Morrison, der im November 2008 sein berühmtestes Album erneut aufgeführt hatte und daraus ein neues Album mit dem abscheulichen Titel Astral Weeks: Live at the Hollywood Bowl gemacht hat. Die Sparks haben dieses Konzept auf die Spitze getrieben, als sie im Mai 2008 alle ihre 21 Alben nacheinander auf 21 Konzerten in London gespielt haben. Am letzten Abend haben sie ihr neues Album uraufgeführt. Im selben Monat eröffneten sie auch in der Bodhi Gallery im Osten Londons eine Ausstellung mit Plattencovern, Fotos, Videos und anderen Erinnerungsstücken ihrer langen Karriere als Art-Pop-Freaks.

Für die Bands kann das laut Hogan im wahrsten Sinne des Wortes eine Wiederbelebung sein. »Bei My Bloody Valentine war es wie in dem Film Zeit des Erwachens, in dem das Leben einer Person einfach stoppt und dann neu beginnt«, erzählt er und fügt hinzu: »Sie überlegen, neue Songs zu schreiben und aufzunehmen.« Dass der kreative Funke wieder überspringt, ist ein potentieller Nebeneffekt der Reunions, aber im Grunde würde das niemand machen, wenn es nicht Geld bringen würde. Und Bands können damit Unmengen verdienen. Wenn eine Band lange Zeit nicht aufgetreten ist, erklärt Hogan, besteht bei den Fans ein enormer Nachholbedarf.

Selbst Bands wie Sonic Youth, die immer aktiv geblieben sind, unermüdlich tourten und Platten aufnahmen, fällt es schwer, den Möglichkeiten zu widerstehen, die ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit bietet. Von 2007 bis 2008 spielten Sonic Youth ihr Meisterwerk Daydream Nation von 1988 zu 24 verschiedenen Anlässen, auf großen Konzerten in amerikanischen und britischen Großstädten (im Roundhouse in London traten sie drei Tage in Folge auf), auf Konzerten und Festivals in Spanien, Deutschland, Frankreich und Italien und schließlich auf der Daydream-Nation-Down-Under-Tour in Neuseeland und Australien. In einem Interview mit dem Spin-Magazin scheint sich Thurston Moore im Klaren über den Widerspruch zu sein, dass ausgerechnet jene Band, die den Song »Kill Your Idols« schrieb – und sich selbst Sonic Youth nannte –, in Nostalgie verfällt. »Ich wollte das anfangs gar nicht machen … Ich dachte, dass es uns die Zeit raubt, etwas Neues und Progressives zu machen«, räumt er ein. Aber sobald Hogan, der sowohl Sonic Youth als auch Thurston Moore solo bereits als Kuratoren für ATP gewinnen konnte, die Band überredet hatte, Daydream Nation in London zu spielen, versuchte der für Europa zuständige Booker der Band, sie zu überreden, auf Festivals auf dem Kontinent zu spielen, weil die Veranstalter dort »ein paar Tausend Dollar drauflegen« würden. Laut Billboard warfen die 2007er-Konzerte von Daydream Nation in Amerika pro Show erheblich mehr ab, als die Tour zum neuen Album Rather Ripped im Jahr davor. Wenn es eine Band lange genug gibt, dann ist das Verlangen der Fans nach den Klassikern ihrer Karriere immer größer als nach den aktuellen musikalischen Werken.

Paul Smith, ein Veteran der alternativen Musikindustrie, der auf seinem Label Blast First als erster Daydream Nation in Großbritannien veröffentlicht hatte, unterstützt gegenwärtig Underground-Legenden wie Suicide oder Throbbing Gristle dabei, wieder aktiv zu werden, ohne ihre Glaubwürdigkeit oder ihre Würde zu verlieren. Für ihn haftet Rock-Reunions ein dummes Stigma an, von dem andere Kunstformen frei sind. »Maler, Dichter, klassische Komponisten – bei denen spielt Alter keine Rolle. Aber bei Rock und Pop wird irgendwie von einem erwartet, dass man an einer Überdosis oder bei einem Autounfall stirbt. Lediglich Blues-Musiker werden stärker respektiert, je älter sie werden.«

Smith betrachtet Reunions als gerechtfertigt, einerseits um den Verdiensten einer Band für die Musikgeschichte gerecht zu werden, andererseits als Entlohnung für Künstler, die meist für wenig Geld hart gearbeitet haben. Er denkt, dass Wiedervereinigungen entweder gut oder schlecht funktionieren. Als Beispiel für letzteres führt er die ewige Wiederkehr der Buzzcocks an. Smith sagt, sie hätten durch die endlosen Touren »ihren Namen tot gespielt. Dadurch, dass sie auf Festivals in Margate vor kahl werdenen Punks gespielt haben, haben sie alles über den Haufen geworfen, was sie vormals zu großer Kunst hatte werden lassen. Sie haben sich auf das Niveau von Gerry and the Pacemakers begeben und sind zu einem Abklatsch ihrer selbst verkommen. Aber die Typen von den Buzzcocks sind froh, dass sie immer noch keiner geregelten Arbeit nachgehen müssen und als Musiker leben können.«

Smith zieht es stattdessen vor, Reunions vorzubereiten, bei denen ein Ende einkalkuliert ist. Für »eine bestimmte Zeit und ziemlich konkrete Ziele: die Band wieder aus der Versenkung zu holen und ein bisschen Geld zu machen«. Der Nostalgie-Aspekt soll so unwichtig wie möglich bleiben, denn es geht darum, »sie einem größtenteils jüngeren Publikum zu präsentieren«. Für die Bands gibt es auch psychologische Vorteile: »Sie bekommen vorgeführt, was sie erreicht haben im Leben und dass es ein Erfolg war, den sie für sich beanspruchen können und den sie sich verdient haben.« Smith erzählt, dass er zum Wire-Gitarristen Bruce Gilbert sagte: »Hör zu, auf deinem Grabstein wird sowieso Wire stehen, also kannst du auch diese Tour spielen.«

Die Reunion von Throbbing Gristle war das Nebenprodukt der Ausstellung im Dezember 2002 in der Cabinet Gallery in London, bei der das 24 Hours of TG-Boxset mit Livekassetten der Band aus den späten 70ern und frühen 80ern präsentiert wurde. »Das war das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass alle vier in einem Raum waren«, erinnert sich Smith. Beim Abendessen mit der Band inklusive Daniel Miller von Mute, der den Backkatalog von TG pflegt, ergriff Smith die Gelegenheit beim Schopf und fragte die Band: »Nun, spielt ihr jetzt wieder zusammen?« Genesis P-Orridge war am Anfang zögerlich, und wandte ein, »ich bin nicht mehr diese Person«. Smith konterte, echte TG-Fans verstünden, dass sie keine Zeitreise ins Jahr 1979 vorgesetzt bekämen, eine Reproduktion des klassischen TG-Sounds. Sie würden die Tatsache respektieren, dass TG Künstler seien, die sich permanent weiterentwickelten. »Ich sagte zu ihnen: ›Wenn es nach mir ginge, könnt ihr vier euch auch auf die Bühne stellen und mit Fingerbecken spielen, das wäre immer noch TG‹.« Er konnte sie überreden und die Band tat sich 2004 wieder zusammen, ursprünglich um in einem britischen Ferienort am Meer ihr eigenes Wochenend-Festival im Stile von All Tomorrow’s Parties zu spielen. Das zahlte sich nicht wie erhofft aus, aber (wie Wire und Suicide) nahmen sie wieder neue Alben auf und spielten eine Reihe von Konzerten, darunter eines in der riesigen Turbinenhalle der Tate Modern, und schließlich gingen sie 2009 auf Tour durch die USA. Obwohl alle vier Mitglieder auch an anderen Bands beteiligt sind, bestanden Throbbing Gristle bis zum Tod von Peter »Sleazy« Christopherson 2010 weiter und haben noch ein ganzes Cover-Album von Nicos Desertshore in petto.

Da TG ursprünglich aus der Performance-Kunst kamen, legten sie immer Wert darauf, ihre Projekte zu dokumentieren, was zu einer endlosen Zahl von Livekassetten, -Platten und Videos führte. Es ist also nur logisch, dass die Tate Modern mit der Gruppe und mit Genesis P-Orridge im Gespräch ist, um ihr Archiv zu erwerben. »Es gibt eine ganze Generation neuer Kuratoren in der Kunstwelt«, erklärt Smith. »Sie sind Mitte Zwanzig oder nur wenig älter und sie beginnen Punk und das Zeug aus Mitte der 80er anzuschauen und zu sagen: ›Hey, das ist wichtig.‹«

Im Allgemeinen versuche ich, Reunions aus dem Weg zu gehen, vor allem dann, wenn ich die Band zu ihrer Hochzeit bereits gesehen habe. Die Comeback-Tour von My Bloody Valentine, bei der sie ein Set spielten, das nur aus Stücken ihrer Isn’t Anything/Loveless-Blütezeit bestand, schien mir geradezu prädestiniert zu sein, eine Enttäuschung zu werden. Diese Musik war mit persönlichen Erinnerungen an die hormonelle Elektrifizierung des Verliebtseins verknüpft, mit Träumereien, die einen immer noch erröten lassen. Ich wollte nicht mit meiner Frau gemeinsam in einem Raum mit vielen anderen Paare mittleren Alters stehen, bei denen die gleichen Erinnerungen wieder aufflammten.

Eine Ausnahme in meiner »No Reunions«-Haltung bilden nur eine paar Bands, die ich in meiner Jugend liebte, aber nie live gesehen habe. Wie z. B. Gang of Four. Im Irving Plaza in New York waren sie im Mai 2005 so gut, dass ich den Fehler gemacht und sie mir ein paar Monate später noch einmal angesehen habe. Dieser zweite Gig war im Hard Rock Cafe direkt am Times Square. Dieses Mal hat die Atmosphäre überhaupt nicht gepasst: Die rockigsten Antirocker des Post-Punk spielten inmitten gerahmter Bilder von Janis und Jimi, signierter Gitarren und diverser anderer Rock-Erinnerungsstücke. Die Band schien sich dessen bewusst zu sein und versuchte, die offensiv ehrerbietige und gleichzeitig höllisch kitschige Umgebung zu überspielen, indem sie noch ernster war als sonst. Es gab weder Eröffnungsscherze noch ein »Hallo, New York«: Der Gitarrist Andy Gill zog einen Schmollmund und machte ein finsteres Gesicht, so dass er dem Schauspieler Alan Rickman glich; der Sänger Jon King wirkte gleichermaßen arrogant und gestresst wie ein Lehrer vor einer durchgedrehten Klasse und der Schlagzeuger Hugo Burnham starrte nur finster und voller Verachtung vor sich hin. Trotz dieses Missverhältnisses spielten Gang of Four im Herbst auf der Tour, bei der sie ihr Comeback-Album Return the Gift vorstellten, weitere Konzerte in House-of-Blues-Läden (der Konkurrenz-Kette des Hard Rock Cafes).

Das Album selbst steht konzeptuell für eine der faszinierendsten Wiederauferstehungen einer Band, sie ist eine Art Tribut-Album an sich selbst, quasi Auto-Karaoke. Viele Gruppen haben ganze Alben gemacht, bei denen sie einen Song eines Künstlers oder gar ein ganzes Album gecovert haben. Gang of Four machten ein brandneues Album mit neu aufgenommenen Versionen von Songs ihrer ersten drei Alben. Benannt nach einem Titel von Entertainment!, den sie gar nicht neu aufgenommen hatten, suggerierte der Titel Return the Gift, dass das ganze Projekt ein Kommentar zu der »ewigen Wiederkehr« in der Retrokultur war. Das Album eröffnete einen ungetrübten und unhintergehbaren Blick auf die Redundanz und die Wiederverwertbarkeit des Rock-Nostalgie-Marktes. Wenn sich Fans neue Alben von wiedervereinigten legendären Bands ihrer Jugend kaufen, dann interessiert es sie im Grunde genommen nicht wirklich, was die Band jetzt zu sagen hat, oder wo die unterschiedlichen musikalischen Wege der Mitglieder sie später hingeführt haben. Sie wollen, dass die Band »neue« Songs im klassischen Stil schreibt. Return schien zu sagen: »Ihr wolltet eine Wiederauferstehung von Gang of Four? Hier habt ihr sie, genau das, was ihr euch insgeheim wünscht, noch einmal die alten Songs.«

Aber es gab auch den pragmatischen Aspekt, der zu der Entmystifizierung des Kapitalismus in den Lyrics passte: Das »Covern« ihrer eigenen Songs war die geschickte Art von Gang of Four, ihr Vermächtnis zu bewahren und zugleich davon zu profitieren. Eine einfache Neuauflage ihrer alten Aufnahmen – als typische Compilation oder Boxset – hätte nur EMI bereichert, ihre ursprüngliche Plattenfirma. »Wir haben an den Plattenverkäufen von EMI nie etwas verdient und haben immer noch Vorschüsse offen«, erzählte mir Jon King. »Wir wollten nicht, dass die davon profitieren, weil sie nichts getan haben, um uns zu unterstützen.« Durch die Wiederaufnahme ihrer Songs – was Künstlern für gewöhnlich vertragsmäßig nach 20 Jahren erlaubt ist – haben sie sich in puncto Lizenzgebühren eine bessere Verhandlungsposition verschafft (in diesem Fall eine einmalige Lizenzierung anstatt eines vollständigen Verkaufs des Materials). »Das bedeutet, der gesamte Gewinn geht an uns.«

Für einen Ultra-Fan war es ein komisches Gefühl, sich Return the Gift anzuhören. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, wie es sich für die Mitglieder der Band angefühlt hat, Songs neu aufzunehmen, mit denen sie eigentlich vor Jahren abgeschlossen hatten. In der neuen Version von »Love Like Anthrax« – einem Song, bei dem im Original ein weinerlicher Text über Herzschmerz, den King singt, einem mürrisch intonierten Text von Andy Gill gegenübersteht, der die Institution des Liebesliedes im Pop kritisiert – hat Gill ein paar neue Zeilen hinzugefügt, die sich in Brecht’scher Weise auf die Reunion von Gang of Four beziehen. Er spricht in dem Song über Return the Gift als »exercise in archeology«, einem Versuch herauszufinden, was sich in der aufregenden Zeit des Post-Punk in ihren Köpfen abspielte. Als ich Jon King und den Bassisten Dave Allen nach dem Projekt fragte, nannten beide die Original-Aufnahmen eine Art »Qumran-Schrift«, auf die sie sich beziehen könnten, wenn ihre Erinnerung versagt.

Eine andere seltsame, beinahe gruselige Sache beim Anhören von Return the Gift war, dass die neuen Versionen auf eine gewisse Weise überzeugender waren als die Originale (sie waren besser aufgenommen, mit einem fetten modernen Schlagzeugsound und profitierten grundsätzlich von Gills Erfahrung als Plattenproduzent nach der Auflösung der Band). Die Songs hatten aber nicht diese besondere Klangaura wie die Original-Aufnahmen. Besonders deutlich war das bei den Songs von der Entertainment!, die viele Rezensenten bei ihrer Veröffentlichung 1979 wegen ihrem trockenen, klinischen Sound, der einfach nicht so aufregend war, wie die Gruppe live sein konnte, kritisiert hatten. Aber an genau diesem dünnen Entertainment!-Sound hingen ich und andere Fans. Das Resultat war, dass die neuen Versionen der Songs weder 1979 noch 2005, sondern in einem merkwürdigen Schwebezustand außerhalb der Zeit zu existieren schienen.

Die einzige andere legendäre Band, die ich nach ihrer Wiedervereinigung gesehen habe, war eine, von der ich nie ein besonderer Fan war, The New York Dolls. Zum Teil war ich deshalb neugierig, weil das Konzert in der Bowery 315 stattfand – dem Ort, an dem einmal das CBGB’s gewesen war. Jetzt ist dort eine Klamottenboutique des Designers John Varvatos, einem großen Punkrock-Fan, der versucht hatte, etwas von dem schäbigen Rock’n’Roll-Ambiente zu bewahren. Am 5. Mai 2009 lief ich also die sechs Blocks von meiner Wohnung, um die Dolls Tracks von ihrem neuen Album Cause I Sez So spielen zu sehen, ein Versuch, ihren vergangenen Ruhm zurückzuerobern (sie hatten sich als Produzenten sogar Todd Rundgren gebucht, der 1973 ihr Debütalbum aufgenommen hatte). Es war jedoch schwierig, eine vollständige Zeitreise durchzuziehen, da so viele aus der Original-Besetzung mittlerweile verstorben waren – einzig David Johansen und Syl Sylvain waren übriggeblieben.

Der Großteil des Publikums hätte in den 70ern Stammgast des CBGB’s sein können: alternde Rebellen, kahl werdende Rock-Fotografen, Gesichter, die einem irgendwie aus Rockdokus bekannt vorkamen und eine bemerkenswerte Anzahl von Frauen in ihren Fünfzigern, die sich gut gehalten und die Gelegenheit ergriffen hatten, sich nach vielen Jahren wieder mal als Rock’n’Roll-Bräute zurechtzumachen. An der Wand hingen gerahmte Poster der Ramones und der Plasmatics. Als ein Pulk Youngster hereinschlenderte, waren Überraschung und Anspannung deutlich zu spüren: Diese stylishen 20-Jährigen wirkten so deplaziert wie Rentner auf einem Rave.

Nach einer langen Wartezeit schlichen die Dolls 2.0 endlich auf die Bühne: Johansen sah in einem marineblauen Samtjackett, einem weißen Rüschen-Hemd und einem Leoparden-Schal elegant aus wie eh und je, und Sylvain glich einer tuntigen Mischung aus Pierrot und Kobold. Die neuen Rekruten der Band waren eine Generation jünger, aber immer noch ziemlich alt, und trugen diesen Rock’n’Roll-Look zur Schau, der irgendwo zwischen dem Sunset Strip und Soho entstanden ist, mit Schals, breitkrempigen Hüten und hautengen Hosen. Es war relativ schnell klar, dass uns keine magische Zeitreise ins Mercer Theater um 1972 bevorstand: Nicht nur, dass die Band keine Frauenkleider, High-Heels und Perücken trug, sie spielten auch kein einziges klassisches Dolls-Lied. Stattdessen nudelten sie hartnäckig ihr neues Album herunter, sie klangen nicht wie die ungestümen, dreckigen Dolls aus dem Punk-Mythos, sondern wie eine tighte, langweilige Hard-Rock-Band.

Als ich sie 2009 hörte, war ich überrascht, wie gering der Unterschied zwischen den Dolls und anderen vom Blues beeinflussten Rock-Bands der 70er wie The Faces, Grand Funk Railroad und ZZ Top im Nachhinein war, die Arenen gefüllt und Millionen Platten verkauft hatten. Der Unterschied bestand lediglich in den spielerischen Defiziten der Dolls und ihrer Haltung, die eine Mischung aus bissiger Gemeinheit und übertriebenem Camp war. Diese kleine aber entscheidende Differenz schuf den Raum, in dem Punk entstand. Jahrzehnte später scheint diese Differenz, die einmal so bedeutungsvoll war, unwiederbringlich verloren zu sein. In den scherzhaften Ansagen Johansens klang etwas dieser Haltung nach: »Ich würde behaupten, dass wir so gut wie The Seeds sind«, alberte er, oder: »Eines Tages wird das alles nur noch eine Erinnerung sein.« Aber sein Humor wurde bitterer, als der Band nach und nach klar wurde, dass das Publikum nicht auf das neue Material stand und nur die alten Lieder hören wollte. Johansen wurde aufgrund der verhaltenen Reaktionen gehässig: »Ihr seid doch noch nicht tot, oder?« Sylvain sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Nachdem sie die Bühne verlassen hatten, kam die Band trotzdem für eine Zugabe zurück – Johansen murmelte bitter: »Ich weiß gar nicht, wieso wir wieder hier sind, ihr jubelt ja nicht mal« – und spielte eine Note für Note perfekte Wiedergabe von »Trash«. Leider war es nicht das »Trash« vom Debüt, sondern die missglückte Reggae-Version vom neuen Album. Das war eines der traurigsten Spektakel, das ich je erlebt habe.

Die Weigerung der Dolls, ihr alterndes Publikum zu befriedigen, ihr stures Beharren darauf, brandneue Songs zu spielen, war wahrscheinlich ein Ausdruck ihres Stolzes. Sie trotzten dem Schicksal, das beinahe jeder Band droht, sobald ihre Glanzzeit vorbei ist. Der Ex-Strangler Hugh Cornwell beschrieb das treffend: »Wir sind jetzt alle Tribute-Bands. Wenn man nur noch die alten Sachen spielt, ist man eine Tribute-Band. Ich schließe mich da selbst mit ein. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es für einen jungen Menschen ist, der versucht, im Musikbusiness Fuß zu fassen – es muss ein Albtraum sein. Weil keiner der alten Säcke wie ich endlich aufgibt.« Cornwell steht gegenwärtig in Konkurrenz mit einer anderen »Tribute-Band«, die Rattus Norvegicus und No More Heroes-Songs spielt: Seine ihm entfremdeten Bandkollegen, mit denen er zerstritten ist, treten immer noch unter dem Namen The Stranglers auf, nur mit einem neuen Frontmann.

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