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GESCHICHTE WIEDERHOLT SICH

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Tribute-Bands haben einen der seltsamsten Trends der »Pop will repeat itself«-Kultur inspiriert: Den Reenactment-Wahn in der Kunstwelt. Iain Forsyth und Jane Pollard, die als Duo für dieses größtenteils britische Phänomen den Weg bereiteten, hatten bereits Arbeiten gemacht, die von ihrer Liebe zur Musik beeinflusst waren, als sie in den späten 90ern eine Ankündigung für eine Smiths-Cover-Band namens The Still Ills sahen. Zu der Zeit nährte sich der Tribute-Band-Wahn hauptsächlich aus Formationen wie den ABBA-Imitatoren Bjorn Again oder The Bootleg Beatles, die durch große Hallen tourten. Aber etwas an der Vorstellung von einer Coverband der Smiths, die beide verehrten, faszinierte Forsyth und Pollard und sie gingen zu einem Konzert der Still Ills im Süden Londons. »Es gab eine wirklich merkwürdige Diskrepanz zwischen der Band und dem Publikum«, erinnert sich Pollard. »Wenn man den Typen auf der Bühne mit denen in der ersten Reihe verglich, dann fiel auf, dass einige im Publikum eher nach Morrissey aussahen als er. Die hatten es drauf.«

Pollard und Forsyth betrachteten The Still Ills »als ein Readymade im Sinne Marcel Duchamps« und veranstalteten ein mäßig erfolgreiches Konzert mit der Band. Kurz darauf wurden sie von der Kuratorin Vivienne Gaskin eingeladen, die bald in der Kunstwelt die bedeutendste Figur hinter dem Reenactment-Boom in Großbritannien sein sollte, das Konzert im ICA zu wiederholen. Dieses zweite Konzert mit den Still Ills war konzeptuell besser durchdacht und zog mehr Publikum. Es fand am zehnten Jahrestag der Auflösung der Smiths 1987 statt. Forsyth und Pollard überredeten die Still Ills, sich ebenfalls aufzulösen. »Sie waren ziemlich ausgelaugt und dachten sowieso daran, alles hinzuwerfen und eine Pulp-Coverband zu werden, weil damit mehr zu holen war. Wir wussten auch, dass wir von der Öffentlichkeit die gewünschte Aufmerksamkeit bekämen und dass genug Leute kommen würden. Wir spürten, dass an diesem gespenstischen Tag etwas passieren würde.«

Forsyth und Pollard ließen sich ein paar »visuelle Gimmicks« einfallen, um das Gefühl der Zeitreise zu verstärken. Sie brachten eine Phalanx aus Fernsehern im Flur zum ICA-Konzertsaal an, auf denen Alternative-Music-Videos aus dem Jahr der Trennung der Smiths liefen und »wirklich nichts aus der Zeit nach ihrer Auflösung. Damit entstand das Gefühl, in einer Zeitschleife gefangen zu sein«. Forsyth und Pollard nahmen den Still-Ills-Sänger zu einem heruntergekommenen Greyhound-Bus in seinem Heimatort mit und schossen hunderte Morrissey-esker Fotos, die sie auf die Wände des Veranstaltungsortes projizierten. »Und wir legten Tonnen von Blumen vorne auf die Bühne, in der Hoffnung, das Publikum würde sie nehmen und wie bei den frühen Smiths-Gigs schwenken.« Sie beschrieben die Atmosphäre als aufgeladen, eine bizarre und intensive Katharsis der Smiths. »Es war völlig verrückt – sechshundert Personen, die soviel schwitzen, dass die Kamera, mit der wir das aufzeichnen wollten, durch die Kondensation kaputt ging. Erst das Publikum hat das Ganze auf eine andere Ebene gehoben: Sie rissen dem Sänger, als er sich zum Publikum vorbeugte, das T-Shirt vom Leib, und sie enterten mit etwa vierzig Leuten die Bühne.« Nach dem Konzert sah Vivienne Gaskin ein Mädchen auf den Stufen des ICA, das völlig geknickt war und sich die Seele aus dem Leib heulte. »Ich denke, das war das Gefühl des Verlustes«, sagt Pollard. Doch die Smiths hatten sich schon ein Jahrzehnt zuvor aufgelöst.

Forsyth und Pollard blieben ihrem Motto der orgiastischen Trauer treu und veranstalteten 1998 als nächstes A Rock’n’Roll Suicide, ein Reenactment des »Abschieds-Konzerts« von Ziggy Stardust im Juli 1973 – bei dem David Bowie sich von seinem Alter Ego verabschiedete – auf den Tag genau 25 Jahre nach diesem Ereignis. Die verschiedenen Facetten der Fälschung übten einen besonderen Reiz aus: Ein Schauspieler, der vorgab, den verrückten Schauspieler Bowie darzustellen, wie er seine eigene Meta-Rockstar-Figur Ziggy gab. Dieses Mal stellten Forsyth und Pollard ihre eigene Coverband zusammen. Anders als bei dem Still-Ills-Konzert handelte es sich hier tatsächlich um das Reenactment eines historischen Ereignisses, daher konnten sie sich an dokumentarischen Aufnahmen des Konzertes orientieren: D. A. Pennebakers Ziggy Stardust and the Spiders from Mars und Super-8-Filme von Fans.

»Pennebakers Film ließ den Gig wie in rotes Licht getaucht erscheinen«, erklärt Forsyth. »Es stellte sich heraus, dass das etwas mit dem 16-mm-Film zu tun hatte, den er benutzte. Aber wir entschieden uns, die Beleuchtung so zu gestalten, dass auch unser Gig rot erschien, weil das ständige Ansehen des Filmes selbst den Leuten, die bei dem Original-Konzert dabei waren, die Erinnerung verfälscht hatte.« Eine weitere Verzerrung mittels des Films war, dass die Blitzlichter der Fotografen auf Zelluloid den Leuten viel intensiver vorkamen, als sie beim Konzert tatsächlich waren. »Wir setzten ein Stroboskop ein, um den gleichen Effekt zu erzielen.« Genau wie bei dem Still-Ills-/Smiths-Konzert im ICA war das Publikum »völlig hin und weg«, sagt Pollard. »Sie spielten exakt die Rolle, die wir von ihnen erwarteten. Sie trugen ihre 70er-Bowie-Schals und sie reagierten auf jede Bewegung, jubelten, schrien und schnappten nach Luft.«

2003 komplettierten sie ihre Rock-Reenactment-Trilogie mit File Under Sacred Music, das ein Cramps-Konzert von 1978 in einer Einrichtung für psychisch Kranke im kalifornischen Napa Valley zum Vorbild nahm, bei dem ein Publikum aus wirklich Verrückten zu dem »Psychobilly«-Sound der Band abging. Die Gitarristin Poison Ivy erinnert sich an den Gig: »Es war, wie für Kinder zu spielen. Die Leute hatten überhaupt kein Gespür für räumliche Grenzen, die Leute schienen angezogen Sex auf dem Boden zu haben. Das Personal griff kaum ein. Es war irre.« Wie das Konzert zustande kam, ist im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten, aber der Auftritt wurde auf Video gebannt und kursierte jahrelang als Fan-Bootleg. »Es handelte sich um eine mythologisierte Underground-Sache«, sagt Pollard. »Es ist nur 20 Minuten lang, aber wirklich beeindruckend.«

File Under Sacred Music unterschied sich von A Rock’n’Roll Suicide in einem wesentlichen Punkt: Das Ziel war nicht, das Konzert wieder aufzuführen, sondern das Video selbst noch einmal zu drehen. Das Reenactment des Konzertes, das im ICA stattfand, war nur ein Mittel zum Zweck. Das wirkliche Kunstobjekt sollte eine originalgetreue Kopie des Bootlegs sein, das Pollard und Forsyth in die Hände gefallen war, mit all seinen Fehlern und Abnutzungserscheinungen vom häufigen Kopieren. File Under Sacred Music konnte also ein viel größeres Publikum erreichen, der Film konnte in Museen und Galerien auf der ganzen Welt gezeigt werden, im Gegensatz zu A Rock’n’Roll Suicide, für das enorm viele Vorbereitungen nötig waren, aber wovon es nur zwei einmalige Shows gab. Den Cramps-Gig zu wiederholen, verlangte einen gewaltigen Aufwand, darunter auch die Suche nach Menschen mit geistiger Behinderung, die die Rolle des Publikums in der Psychiatrie spielen sollten. Nachdem das Konzert gefilmt worden war – das auf seine eigene seltsame Weise »chaotisch und energiegeladen war, ein Typ übergab sich, ein anderer schüttete jemanden, der eingeschlafen war, Bier ins Gesicht«, erzählt Pollard –, bestand die nächste Herausforderung darin, den Mitschnitt in eine exakte Nachbildung seines Bootlegs zu verwandeln. »Das war irgendwann im Lauf der Geschichte von NTSC in PAL umgewandelt und dann von einem Fernseher wieder abgefilmt worden. Die Bootlegger hatten ihre Kopie mit einem VHS-Recorder abgespielt und eine Kamera auf den Bildschirm gehalten – man konnte den Rand des Fernsehers und die Streifen auf dem Bildschirm sehen.« Pollard und Forsyth gingen alle Schritte, die die ursprünglichen Bootlegger gemacht hatten, akribisch durch und erkundeten dann digitale Möglichkeiten, um die Fehler auf dem Band genauso hinzubekommen, bevor sie sich auf altmodische analoge Techniken verlegten, etwa das Band zu zerknittern oder es mit Wasser zu überschütten und wieder zu trocknen.

Der Titel des Projekts war der B-Seite des Debütalbums der Cramps, Songs the Lord Taught Us, entlehnt. Die Mischung aus archivarischer, pingeliger Zurückhaltung (»File Under«) und spiritueller Entgrenzung (»Sacred Music«) fängt das Widersprüchliche der Cramps selbst ein: Eine Band, die an den Wahnsinn des Rock’n’Roll glaubte, die zu klug war und als Rockabilly-Plattensammler zu gut Bescheid wusste, um das »wirklich Vergangene« für bare Münze zu nehmen. Bei dem Napa-Gig treffen ihre stilisierte Version eines dionysischen Wahnwitzes und der wirkliche Wahnsinn aufeinander; Psychobilly trifft auf Psychose. Wie A Rock’n’Roll Suicide ist File Under Sacred Music die Simulation einer Simulation, die Reproduktion einer Reproduktion.

Für ihr nächstes Projekt spielten Pollard und Forsyth mit dem Gedanken anderer Rock-Reenactments (darunter etwa mit den New York Dolls), sie entschieden jedoch, dass die Idee ausgeschöpft war. Also verlegte sich das Duo von Reenactments auf Umarbeitungen: Adaptionen und Neuinterpretationen von wegbereitender Video-Performance-Kunst aus den 70ern, von Leuten wie Bruce Nauman and Vito Acconci. Aus Naumans Art Make Up wurde Kiss My Nauman mit einem Mitglied der am längsten existierenden Kiss-Coverband, der beim Auftragen seiner Schminke gefilmt wird.

Der Wechsel der beiden zu Neuinterpretationen war auch eine Reaktion auf die Tatsache, dass Reenactments in der Kunstwelt etwas zu hip geworden waren. Jeremy Dellers berühmte »Aufführung« des Battle of Orgreave 2001, der gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen streikenden Minenarbeitern und der Polizei in einem Kohlebergwerk in Süd-Yorkshire im Juni 1984, hatte eine Menge Aufmerksamkeit bekommen und erheblich dazu beigetragen, dass Deller 2004 den Turner-Preis gewann. Eine andere Schlüsselfigur des stetig populärer werdenden Phänomens, Rod Dickinson, gründete ein Kollektiv namens The Jonestown Reenactment. Im Mai 2000 führten sie im ICA die »Imitation« einer antikapitalistischen Predigt des Sektenführers Jim Jones vor seiner Volkstempel-Herde auf. Dickinson wiederholte Dr. Stanley Milgrams sozial-psychologisches Experiment »Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität« von 1961 und imitierte den Einsatz von Musik bei der Waco-Belagerung durch das FBI. Bald sprangen auch Künstler außerhalb Großbritanniens auf den Reenactment-Zug auf, wie Slater Bradley mit seiner Arbeit über Kurt Cobain oder Marina Abramovićs Seven Easy Pieces, bei der sie einflussreiche Performance-Kunst aus den 60ern und 70ern erneut performte, darunter Arbeiten von Nauman und Acconci. Es gab Ausstellungen und Veranstaltungen mit Titeln wie A Little Bit of History Repeated und Once More … with Feeling. Mit Tom McCarthys 8 ½ Millionen erschien 2005 sogar ein Roman, der begeistert aufgenommen wurde. Darin verwendet ein Unfallopfer mit Gedächtnislücken seine unerwartet hohe Entschädigungszahlung darauf, äußerst lebendige, aber opake Szenen seines Lebens nachzustellen: Beispielsweise kauft der Mann ein Gebäude und verändert die Einrichtung, stellt Schauspieler an, die Bewohner spielen, und imitiert jeden äußeren Eindruck bis ins letzte Detail, vom Geruch einer gebratenen Leber, die ein Nachbar zubereitet, bis hin zu dem zögerlichen Klavierspiel eines übenden Pianisten.

Auf dem Höhepunkt des Reenactment-Booms schickte Vivienne Gaskin vom ICA einen Aufruf raus. Eine der Arbeiten, die sie in Auftrag gab, war ein Reenactment des Concerto for Voice & Machinery durch die britische Künstlerin Jo Mitchell – einem legendären Auftritt von Mitgliedern der berüchtigten, auf Metallgegenständen musizierenden Einstürzende Neubauten im ICA im Januar 1984, der in einem Krawall eskalierte. Die Idee, das Konzert mit dem gleichen Durcheinander im ICA zu wiederholen, zeichnete sich durch eine einnehmende konzeptuelle Sorgfalt aus.

Das Concerto for Voice & Machinery II war der Versuch, das ursprüngliche Konzert, bei dem Mitglieder der Einstürzenden Neubauten ihre typisch unkonventionellen Instrumente spielten (Bohrmaschine, Flex etc.) mit Gastauftritten von verschiedenen Gleichgesinnten der Industrial Music wie Genesis P-Orridge minutiös zu wiederholen. Die Berichte sind sehr unterschiedlich, aber der Originalauftritt ist anscheinend außer Kontrolle geraten, als jemand – ein Mitglied des Ensembles oder jemand aus dem Publikum – versuchte, den Saalboden zu durchbohren. Das Publikum hatte daraufhin – wahrscheinlich irrtümlich – den Eindruck, dass die Verantwortlichen des ICA die Veranstaltung abbrechen wollten, was zu Unruhen, Geschrei und etwas Randale führte.

Der Gedanke an einen geplanten Aufstand ist offensichtlich absurd; genauso wie der Versuch, die chaotischen Ereignisse, die über die Jahre in den Erzählungen aufgebauscht und verzerrt wurden, minutiös zu wiederholen. Als Mitchell ihren Vorschlag einreichte, war ihr nicht klar, wie sehr es an dokumentarischem Material mangelte. »Ich dachte wirklich, ich würde Filmaufnahmen davon finden. Ich dachte, das ICA hätte alles aufgenommen.« Aber in den ICA-Archiven gab es nichts; schließlich war das noch nicht die Ära, in der alles ganz selbstverständlich gefilmt oder mitgeschnitten wurde. Heute wird wahrscheinlich selbst das unbedeutendste Konzert von einem Mitglied der Band für die Nachwelt bewahrt oder als Handyvideo auf YouTube gestellt, bevor das Konzert überhaupt zu Ende ist. Alles, wovon Mitchell zehren konnte, waren Konzert-Berichte in den drei Musikzeitschriften, die darüber berichtet hatten, Bilder, die die Fotografen dieser Zeitschriften geschossen hatten und eine Reihe gegensätzlicher Berichte von Augenzeugen.

Während der jahrelangen Recherche und Vorbereitungen für das Konzert bekam Mitchell schließlich das Bootleg eines Audiomitschnitts der Ereignisses von 1984 in die Hände und das Neubauten-Mitglied Mark Chung stellte ihr die Partitur des Concerto zur Verfügung. »Es bestand im Wesentlichen aus drei Sätzen: einem Intro, dann kamen die Bohrer, die Akkorde und die Stimmen dazu und der Höhepunkt war das Finale ›Down to the Queen‹.« Die Idee war, dass die Gruppe in die ungefähre Richtung der Tunnel bohrt, die Gerüchten zufolge tief unter dem ICA verliefen und die angeblich den Buckingham Palace mit unterirdischen Bunkern verbanden, die der königlichen Familie und den Mitgliedern der Regierung im Falle eines nuklearen Angriffs zum Schutz dienten.

Dank der Fotografen, die sie mit Bildern versorgten, die nie gedruckt worden waren, gewann Mitchell einen Eindruck davon, wer die Rädelsführer und Unruhestifter im Publikum waren, und konnte Schauspieler angemessen casten und ausstaffieren (ein besonders aktiver Randalierer trug beispielsweise einen Iro). Beim Reenactment gab es Schauspieler, die das Publikum, die Musiker, die Security und die Verantwortlichen des ICA spielten; das bedeutete, dass es bei dem Konzert am 20. Februar 2007 ein echtes Publikum gab, das sich mit dem gespielten Publikum mischte, und zwei Gruppen von ICA-Angestellten, die einen unecht, die anderen echt. Die echten Verantwortlichen des ICA hatten eine beruhigende Wirkung auf das Reenactment, da sie einschritten, wenn allzu enthusiastische Besucher aus dem tatsächlichen Publikum sich an der inszenierten Zerstörung beteiligen wollten. Es gab auch strengere Sicherheitsvorschriften: »Es durfte nicht soviel Staub und Rauch geben wie 1984 und das ICA hatte sogar Ohrstöpsel ans Publikum verteilen lassen. Es gab ein Dezibel-Limit, an das wir uns halten mussten, und Beschränkungen bei den Funken, die durch die Flex erzeugt wurden.«

Eine andere Sache, die in sonderbarem Widerspruch zu dem ursprünglichen Geist des Ereignisses stand, war, dass Mitchell die Finanzierung über die Geräteverleihfirma HSS Tool Hire sicherstellte. Reenactments seien sehr teuer, erklärt sie, vor allem mit all den Proben und der Masse an Beteiligten. »Auf den Fotos waren die ganzen Betonmischmaschinen zu erkennen und sie stammten alle von HSS, einer der größten Geräteverleihfirmen. Ich brauchte die Maschinen für die drei Wochen Probe und sie übernahmen das. Andernfalls hätte das 10.000 Pfund gekostet.«

Blixa Bargeld, der Chef-Ideologe und Frontmann der Neubauten, hatte Mitchell sein Einverständnis gegeben und fand die ganze Idee, das Concerto zu wiederholen, »reizend«. Obwohl er am Ende an dem Chaos beim Original beteiligt war, entschied er sich, nicht als Zuschauer teilzunehmen, aus Angst, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und so vielleicht die temporäre Echtheit des Reenactment zu gefährden. Aber während der heute reife und höfliche Bargeld sich dabei köstlich amüsiert, habe ich den Verdacht, dass der junge, mit Amphetamin vollgepumpte Blixa rot gesehen hätte. Schließlich standen die Einstürzenden Neubauten der Idee des kulturellen Erbes noch vehementer entgegen als Punk. Beeinflusst von Artaud, Nietzsche und Bataille war ihr gesamtes künstlerisches Projekt von einer Zerstörungslust geprägt, einer Sehnsucht nach dem Ende der Geschichte. Concerto for Voice & Machinery war auch so etwas die die abgespeckte Neubauten-Version von der Bootsfahrt der Pistols auf der Themse – dem Moment, in dem Rock mit den Autoritäten zusammenprallte. Aber was bedeutet es, wenn dieser Zusammenprall sich »wiederholt«, diesmal mit der Erlaubnis der Behörden?

Mir ist nie klar geworden, was der Sinn der historischen Reenactments ist: Diese ganze akribische Sorgfalt, um die Uniformen und den Kanonenrauch richtig hinzukriegen. Es ist klar, dass die Illusion, »dort zu sein«, auf allen Ebenen misslingt: Man weiß, dass es keine wirkliche Todesgefahr gibt; man weiß, wie das alles ausgehen wird. Es ist nur ein Historienspiel. Es gibt keine wirkliche Ungewissheit. In der erlebten Geschichte wussten die Beteiligten in Gettysburg nicht, dass die Konföderierten nicht gewinnen würden. Genauso wusste das Publikum des originalen Concerto for Voice & Machinery nicht, dass das Konzert im Chaos enden würde.

Diese Widersprüche sind dem Reenactment von Mitchell ohne Zweifel immanent. »Teilweise gehört die Unmöglichkeit, ein Ereignis zu wiederholen, dazu«, sagt sie. Ähnliche Gedanken äußerten auch andere prominente Reenactment-Künstler: Rod Dickinson hat sein Werk beispielsweise »als die Erschaffung einer Reihe von Paradoxien« beschrieben, »die die Widersprüche betonen, die bei einem solchem Versuch entstehen, seine Unmöglichkeit«. Forsyth und Pollard erzählen in Interviews immer: »Scheitern ist uns ungemein wichtig. Wenn man etwas kopiert, kann die Kopie das Original nie vollständig reproduzieren. Und durch diese Fehlleistung entsteht das Reale. Gute Kunst scheitert, auf einer gewissen Ebene, immer.«

Als ich mich mit Mitchell, Forsyth und Pollard unterhielt, fiel mit auf, wie begeistert sie über die Herausforderungen ihrer Projekte sprachen, die anstrengenden Recherchen, die beharrlichen Bemühungen, die Details der Epoche so präzise wie möglich hinzukriegen. Für A Rock’n’Roll Suicide konnten Iain und Jane einen von Bowies originalen Kostüm-Designern ausfindig machen. Mitchell schwärmt davon, »völlig hineingesogen zu werden. Das ist wahrscheinlich das komischste Gefühl, das ich je hatte. Ich hatte hunderte von Fotos, die meisten waren von den Abzügen der drei Fotografen abfotografiert und als Bilder ausgedruckt worden. Und ich verstreute sie über den Boden und versuchte, daraus eine Erzählung zu formen.«

Mitchell, Forsyth und Pollard waren sehr gesprächig und aufgeschlossen, wenn es um das »Wie« ihrer Reenactment-Projekte ging. Aber das »Warum« umgingen wir in unseren Gesprächen irgendwie. Genauso erging es mir, als ich die Kunstkritiken zu diesem Thema ansah, die mich nur mit dem vagen Gefühl zurückließen, dass die Arbeiten zeitgemäß waren und auf Resonanz stießen.

Was ist los mit der Gegenwart, dass diese Kunst nicht nur möglich und begehrenswert, sondern sogar unausweichlich wird? Wie dieses Kapitel andeutet, sind Reenactments mit der Etablierung der Idee vom kulturellen Erbe verknüpft und in gewisser Weise eine Antwort darauf: Museen, Spektakel der »lebendigen Geschichte« wie nachgebaute Dörfer oder inszenierte Schlachten, das Erbe als kulturelles Ideal. Das Reenactment ist gleichzeitig in eine weiterreichende Kultur der Kopie verstrickt, die alles von Karaoke, über Fernsehsendungen wie Stars in Their Eyes, bei der gewöhnliche Menschen berühmte Persönlichkeiten imitieren, das riesige Geschäft mit den Live-Cover-Bands, das von den Medien aber kaum wahrgenommen wird, die Online-Subkulturen der Fan Fiction und der Parodien auf YouTube bis hin zu extrem erfolgreichen Videospielen wie Rock Band und Guitar Hero umfasst. Eine intellektuellere Ebene bedienen Remakes wie Fenêtre sur cour von Pierre Huyghe – ein Remake von Hitchcocks Das Fenster zum Hof, das in einem Pariser Wohngebäude inszeniert wurde – oder Gus Van Sants Einstellung für Einstellung exaktes Remake von Psycho. Der endlose Strom von Remakes aus Hollywood trägt stark zu dieser Kultur der Reproduktion und Redundanz bei. Im Rock geschieht das auch durch Filme wie School of Rock und The Rocker: Sie stellen Rock’n’Roll in Komödien als eine durch und durch konventionalisierte Art der Rebellion dar und karikieren und perpetuieren dieses Phänomen damit gleichzeitig. Im ersten Film bringt Jack Black als Lehrer den Kindern all die orthodoxen, althergebrachten Gesten bei, die für Freiheit, Exzess und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« stehen. Es ist die Kopie einer Kopie einer Kopie, aber die reglementierte Idee des wahren Rock’n’Roll, die aus seinen Augen spricht, unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was man auf den Bühnen der ganzen Welt sehen kann. Johan Kugelberg gebraucht den Vergleich mit Reenactments historischer Schlachten, um gegenwärtige Punkbands zu beschreiben, die erfolgreich »30 Jahre alte Gigs« wiederholen, die ursprünglich an legendären Orten wie dem CBGB’s, The Masque in L. A., The Mabuhay in San Francisco und Londons 100 Club stattfanden. Nicht zu vergessen die unzähligen immer noch bestehenden Punkbands aus dieser Zeit, die trotz Arthritis nach wie vor auf der Bühne stehen.

Obwohl sie mehr aus der Kunstwelt denn aus der Rock-Kultur entstanden sind, befriedigen die Rock-Reenactments ein verborgenes Bedürfnis der Musikszene nach Ereignissen wie Punk oder Rave, die die Welt auf den Kopf stellten. Dem Anschein nach sind die Reenactments nur ein Teil der rückwärtsgewandten Kultur, die uns immer weiter von den Bedingungen entfernt, die solche totalen Veränderungen und einmaligen Umbrüche möglich machen. Aber vielleicht haben die Künstler recht, wenn sie vom Scheitern als Ziel sprechen: Das wäre ein Ansporn fürs Publikum, die Sehnsucht nach dem Ereignis gleichzeitig zu schüren und zu enttäuschen. »Ereignis« ist ein Begriff des Philosophen Alain Badiou für eine dramatische historische Zäsur, einen Umbruch, der zugleich den Anbruch von etwas Neuem verspricht. Er kann politischer Natur sein (verschiedene Revolutionen, Mai 1968) oder ein wissenschaftlicher oder kultureller Durchbruch (Schönbergs Zwölftonmusik), aber das Ereignis unterscheidet in ein Davor und Danach, es eröffnet eine Zukunft, die vollkommen anders ist als die Vergangenheit.

Reenactments sind sowohl eine Erweiterung als auch eine Umkehrung der Performance-Kunst, die per Definition an das Ereignis gebunden ist. Bei einer Performance geht es um die bedingungslose Anwesenheit im Hier und Jetzt. Dazu gehört die körperliche Anwesenheit des Künstlers, ein physischer Ort und die Dauer: Es handelt sich um eine Erfahrung, die man durchstehen muss. Die Performance-Kunst ist an ihre Flüchtigkeit gebunden: Sie kann nicht wiederholt, gesammelt oder auf den Kunstmarkt geworfen werden, und jede zufällige Dokumentation, die sie hinterlässt, ist kein Ersatz dafür, ihr persönlich beigewohnt zu haben. Das Reenactment ist wie eine gespenstische Form der Performance-Kunst: Was der Betrachter sieht, ist nie völlige Gegenwart oder Gegenwärtigkeit.

Die bestimmende Qualität der Performance-Kunst ist, dass sie sich in Echtzeit abspielt, aber bei Reenactments bleibt die Zeit außen vor. Tom McCarthy spricht davon, dass »Reenactments eine Art Riss mit sich bringen. Einerseits geht es um etwas, was man tatsächlich tut, und andererseits ist es eben nicht etwas, das man ›macht‹: Es ist ein Zitat, eine Markierung für ein anderes Ereignis, das dieses nicht ist.« Egal wie viel Recherche und Vorbereitung man in ein Reenactment steckt, es ist dazu verdammt, ein absurdes Gespenst zu sein, eine Travestie des Originals. Trotzdem haben Reenactments die Macht, das Publikum daran zu erinnern, dass Ereignisse möglich sind, schließlich haben sie schon einmal stattgefunden.

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