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WANN, WENN NICHT JETZT

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In einer der berühmtesten Szenen aus Nicolas Roegs Film Der Mann, der vom Himmel fiel sieht man den von David Bowie verkörperten Außerirdischen Thomas Jerome Newton, wie er ein Dutzend übereinander gestapelter Fernseher gleichzeitig betrachtet. Dieses Bild eines hoch entwickelten Wesens, das in der Lage ist, all diese verschiedenen Daten simultan zu verarbeiten, erscheint mir ein passender Vergleich für die Entwicklung unserer Kultur. Am Ende des Films ist Newton auf der Erde gefangen, weil die Behörden ihn daran hindern, zu seiner Familie auf seinem Heimatplaneten zurückzukehren. Er wird Alkoholiker und Kultmusiker, der unter dem Namen The Visitor gespenstische Alben veröffentlicht. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diese Musik tatsächlich zu hören bekommen; ich habe mir immer ausgemalt, dass sie wie die B-Seite von Low klingt, melancholische Schwaden eines an Satie erinnernden Sounds, kühl und zerfahren. Aber wie hätte Newtons Musik geklungen, wenn sie in irgendeiner Form den nicht mehr aufnahmefähigen Blick widergespiegelt hätte, mit dem er diese vielen Fernseher angesehen hat? Sie hätte vielleicht etwas von der Musik erahnen lassen, die in den letzten Jahren der 2000er produziert wurde, die an einem Syndrom leidet, das ich »übersättigt« nenne.

Die Musik der von Einflüssen übersatten Musiker klingt geradezu wie geronnen: Sie mag auf manchen Ebenen reichhaltig und beeindruckend sein, aber letztlich ist sie für die meisten Hörer ermüdend und verwirrend. Ganz akut tritt dieses Problem an den Hipster-Rändern der Musikproduktion auf: Frei von kommerziellen Erwägungen, die Musiker zu Zugänglichkeit und Einfachheit motivieren, können sie in den Info-Kosmos versponnener Musik abdriften, sie reisen gleichermaßen in abgelegene Bereiche der Geschichte wie in entfernte Ecken der Erde. Zwei aktuelle Beispiele dieser hyper-eklektischen Haltung sind Hudson Mohawkes Butter und Flying Lotus’ Cosmogramma von 2009 beziehungsweise 2010. Butter ist Prog-Rock, der für die Pro-Tool-Ära aktualisiert wurde, ein CGI-artiger Albtraum eines grellen und überladenen Sounds. Cosmogramma ist Hip-Hop-Jazz für die ADHS-Generation.

Wenn es Zeit braucht, bis man die Musik zu fassen bekommt, liegt das daran, dass in mancher Hinsicht zu viel Zeit hineingesteckt wurde. Zeit im Sinne von musikalischer Arbeit: Musiker, die in Heimstudios und mit Digital Audio Workstation arbeiten und keinerlei finanzielle Beschränkung ihrer Arbeitsstunden haben. Doch auch Zeit in einem kulturellen Sinne; jeder der musikalischen Stile, die diese Künstler digital miteinander verweben, steht für eine Tradition, die vor Jahrzehnten entstand und sich über Jahrzehnte entwickelt hat, das heißt, sie sind gewissermaßen eingebettete historische Zeit. Entsprechend verlangt es viele Stunden des aufmerksamen Hörens, um die Komplexität zu erfassen. Zeit, die die meisten Hörer heutzutage nicht haben.

Künstler und Hörer sitzen im selben Boot, und dieses Boot geht im »Meer der Möglichkeiten« unter, um eine Zen-buddhistische Redewendung zu gebrauchen. »Beschränkung ist die Mutter aller Erfindungsgaben«, sagte Holger Czukay von Can und brachte damit den minimalistischen Ansatz der Band gegenüber dem Maximalismus ihrer Prog-Rock- und Jazz-Fusion-Zeitgenossen auf den Punkt. Man könnte aber auch sagen, dass Beschränkung die Mutter der Vertiefung ist. Anders gesagt: Musik inniger wahrzunehmen, bedeutet, sich mit der Realität der Endlichkeit abzufinden: Man wird nie in der Lage sein, sich mehr als nur einem Bruchteil der Flut der gegenwärtigen Musik aufmerksam anzuhören, ganz zu schweigen von der in der gesamten menschlichen Geschichte produzierten.

Dies ist eine der großen Fragen unserer Zeit: Kann die Kultur unter den Bedingungen von Unbegrenztheit überleben? Genauso wie ein jederzeit verfügbarer Internetzugang überwältigt, bietet er auch Möglichkeiten. Es gibt Künstler, die durch den unsteten Info-Ozean des Internets steuern und für die sich besonders beim Durchwühlen des immensen Erinnerungs-Flohmarktes YouTube neue Möglichkeiten der Kreativität auftun.

Nico Muhly, ein aufstrebender junger Komponist, der als Protegé von Philip Glass anfing, benutzt oft Quellen aus dem Netz für seine Werke. Einige seiner Stücke entstanden aus YouTube-Entdeckungen. Er komponierte zum Beispiel ein Violinen-Konzert, das auf Ideen der Astronomie in der Renaissance basiert – ein Interesse, das geweckt wurde durch die zufällige Entdeckung einiger 80er-Jahre-Lehrvideos über das Sonnensystem, die ein Spinner auf YouTube hochgeladen hatte, sogar mit Kommentaren von Carl Sagan, einer heute kitschig erscheinenden Gestalt. Oder er arbeitet an einem Stück, das zur Begleitung bizarr banaler YouTube-Clips gedacht ist, von Videos, die einen Garten zeigen oder eine Person, die den Haushalt macht.

Als ich Muhly in seiner Wohnung in Manhattan beim Mittagessen besuchte, um ihn zu interviewen (es gab vorzüglichen Blumenkohl mit Käse), erzählte er mir, dass er an einer »Internet-Oper« arbeite, die von der wahren Geschichte eines Jungen handle, »der sieben Online-Identitäten erfindet, um einen älteren Jungen zu verführen und dann erstochen wird«. Auf die Frage nach dem Einfluss von YouTube und dem Netz im Allgemeinen auf seine Musik, antwortete Muhly, er verschwinde in »Internet-Wurmlöchern«. »Das Netz ist, so gesehen, wirklich gruselig! Wenn man über Leute recherchiert, die ihre Zwergponys wie Kunstwerke ausstaffieren, dann findet man fünfhunderttausend derartige Sachen!«

Das Porträt im New Yorker, das ihn einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machte, betonte, dass Muhly ein Web-2.0-Komponist ist: Er schreibt Musik in eine virtuelle Partitur, während er E-Mails beantwortet, über Instant Messaging chattet und gleichzeitig an mehreren Online-Scrabble-Spielen teilnimmt. Muhly ist eindeutig ein gut funktionierendes Geschöpf des Multitasking-Zeitalters und sein Kompositions-Ansatz ist typisch für den assoziativen Strom des Netzes. Er bezeichnet das als »durchdringendes Narrativ«, aber es ist eher ein Anti-Narrativ. Und Muhlys Recherche ist genauso wie sein Kompositionsstil: nicht-linear. Er beschreibt den Vorgang als »in die Dinge aus einer anderen Perspektive eindringen, als würde man mit dem Messer ein Telefonbuch durchstechen. Ein bestimmtes Feld, sagen wir die Astronomie, führt zu etwas anderem, und das wiederum führt zu etwas ganz anderem. Es ist eine endlose Geschichte, ohne Anfang und Ende, die Story ist die, wie man sich einen Weg da durch bahnt

Während Muhly sich durch die Welt der Carnegie Hall und der English National Opera bewegt, befindet sich Daniel Lopatin in einem völlig anderen Milieu der modernen Musik: Dem experimentellen elektronischen Underground mit Konzerten in Brooklyner Squats und Kleinstlabels, die nur auf Vinyl oder Tapes veröffentlichen. Trotzdem reagieren beide Talente auf ähnliche makro-kulturelle Umwälzungen: die Etablierung des Internets als eine Landschaft des Erhabenen, die einen ähnlichen Platz einnimmt wie die Natur in der Vorstellung der Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts und die Stadt für die Komponisten des 20. Jahrhunderts.

In seiner engen Junggesellenbude ist Lopatins Arsenal altmodischer Synthies und Rhythmusmaschinen nur eine Armlänge entfernt von seinem Computer mit gigantischem Bildschirm. Er verbringt den Großteil seiner Zeit im Haus, spielt mit den Synthies herum oder surft im Netz. Die Alben, die er unter dem Namen Oneohtrix Point Never veröffentlicht hat – wie Rifts von 2009, das im Wire-Magazin bei den Alben des Jahres auf Platz Zwei landete – sind größtenteils amorphe und doch harmonisch klingende Instrumentals aus Synthie-Melodien und pulsierenden Sequenzer-Mustern. Aber die »Echo Jams«, unter Pseudonymen wie KGB Man und Sunsetcorp veröffentlicht, hatten die größte Wirkung: ein Mix aus Ton- und Videomaterial, das er auf YouTube gesammelt hat. Vor allem »Nobody Here« – bestehend aus einem kurzen Loop eines Gesangs von Chris de Burghs »The Lady in Red« und einer altmodischen 80er-Jahre-Computer-Animation – wurde ein YouTube-Hit, der im Laufe weniger Monate über 30.000 Zugriffe verzeichnete. Das mag im Vergleich zu Lady Gaga wenig erscheinen, aber im Kontext der Underground-Szene, aus der er kommt, war »Nobody Here« ein Hit vergleichbar mit Thriller.

Einen Teil seines Reizes gewinnt das Stück dadurch, dass die Hörer Chris de Burghs Spät-80er-Charthit erst einmal für ekelhaft sentimental halten, und plötzlich bewegt sind von der tieftraurigen Sehnsucht, die der kleine Ausschnitt transportiert, den Lopatin auswählte. Kombiniert mit einer farbenfrohen Welle fluoreszierenden Lichtes, die vor einer Kulisse aus Wolkenkratzern gegen den Bildschirm vor- und zurückschwappt ist das Ergebnis gespenstische Melancholie. Als Fan von altmodischen »Vektor-Grafiken und CAD/Cam-Videokunst aus den 80ern« wurde Lopatin von diesem speziellen »gefundenen Visual« angezogen, weil die »Gothic-Skyline der Stadt« die »saftigen, sentimentalen Assoziationen mit Regenbogen« unterstrich. Sie betonte auch seine eigenen Gefühle der Entfremdung vom Leben in der Stadt. Daher kommt auch der schmerzhafte Nachhall des Chris-de-Burgh-Loops: »There’s nobody here.«

Lopatin macht dieses »Echo-Jamming« schon seit Jahren. Es begann als Flucht aus seinem drögen Job, ohne dass er dazu seine Bürozelle tatsächlich verlassen musste. »Ich war ein richtiger nine-to-five-Arbeiter, völlig gelangweilt, und das war die Art von Musik, die ich auch bei der Arbeit machen konnte, indem ich einfach Sachen von YouTube rippte. Damals wollte ich niemanden damit beeindrucken, es war mehr um der Katharsis willen, während ich meine stupide Büroarbeit ableistete.« Ein »Echo Jam« ist nicht einfach nur eine geradlinige Montage eines Audio- und eines Video-Loops. Nachdem Lopatin kleine Ausschnitte, die er für überzeugend hält – ein Splitter Sehnsucht aus einem Kate-Bush- oder Fleetwood-Mac-Song, ein herzzerreißendes Stück von Janet Jackson oder Alexander O’Neal, die verträumten Gesangsmomente einer Eurotrance-Hymne – isoliert hat, umhüllt Lopatin alles mit einem »Echoton«. Weil er kein »Partytier« ist, verlangsamt er die Musik, eine Technik, die er sich vom legendären DJ Screw aus Houston abgeguckt hat, dessen »verschrobene« Mixtapes Gangsta Rap in narkotisierend langsamem Tempo enthielten. Lopatin verlangsamt auch die Video-Loops, die alle von YouTube stammen und die er mit dem Windows Movie Maker konvertiert und schneidet. Zu seinen Lieblingsquellen gehören 80er-Jahre-Fernsehwerbespots aus dem Fernen Osten oder aus dem ehemaligen Ostblock, die neue Video- und Audio-Technologie bewerben. In einem Echo-Jam teilt sich ein glückseliges sowjetisches Paar die doppelten Kopfhörerbuchsen eines Walkmans.

Lopatin spielt die Kreativität, die in diesen Echo-Jams steckt, gerne herunter: »Es ist wirklich einfach. Ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, dass ich der Urheber dieser Sachen bin. Ich habe nur Teil an Dingen, die auf YouTube zu finden sind, Kids machen überall ganz ähnliche Sachen.« Das mag stimmen, aber der zusätzliche Wert, den Lopatin generiert, ist der konzeptuelle Rahmen seiner Projekte, die in Bezug zum kulturellen Gedächtnis und den vergrabenen Utopien stehen, die den kapitalistischen Waren anhafteten, besonders den benutzerfreundlichen Technologien im Bereich der Computer- und Audio/Video-Unterhaltung. Auf der Sammlung seiner besten Echo-Jams für die 2009er-DVD Memory Vague, erklärt Lopatin in den Liner Notes, dass »kein kommerzielles Werk außer Reichweite der künstlerischen Vereinnahmung liegt«.

Seine Beschäftigung trug Früchte, als er für eine Klangkunst-Ausstellung 2010 ein langes Stück erschuf; die dekonstruktivistische Enträtselung einer Werbesendung von 1994, die er auf YouTube gefunden hatte. Eine sechzehnminütige Firmenwerbung für Performa (»Apples Produktfamilie Macintosh mit eingebauter Zukunft«) wurde in eine dreißigminütige Echo-Jam-Symphonie umgewandelt. »The Martinettis Bring Home a Computer«, wie der Titel der Original-Werbesendung sowie der von Lopatins Bearbeitung lautet, fängt jenen Zeitpunkt in den frühen 90ern ein, als die Informationsautobahn die gleichen Versprechen von Emanzipation und erweiterten Horizonten machte wie einstmals die Interstate-Autobahnen.

Was Lopatins Aufmerksamkeit beim Surfen zuerst auf sich zog, war die aufwendige Produktion und die Schauspielkunst dieser Werbesendung auf dem Niveau eines »Robert-Altman-Films«, die wahrscheinlich vom Regisseur selbst als eine Art Referenz online gestellt worden war – obwohl es heutzutage auch denkbar ist, dass es tatsächlich Fans von Dauerwerbesendungen gibt, die als selbsternannte Connaisseure emsig dieses Genre im Netz kuratieren. Lopatins dekonstruktivistische Version beginnt mit Schnipseln der elegischen Musik des Original-Scores, die er zu einem endlos sehnsuchtsvollen und doch flüchtigen Refrain loopt. Nach und nach schlittern und schleichen sich einige alarmierende und bedrohliche Klänge in dieses Idyll, kombiniert mit dem ruhelosen Klackern der Tastatur. Die zähen Klänge entlarven sich als ein bis ins Groteske verlangsamter Dialog aus den Familienszenen der Dauerwerbesendung: »Mit diesem Computer haben wir die beste Zeit unseres Lebens«, »Da draußen gibt es noch eine ganze Welt zu entdecken«, »Witzigerweise passt der Computer prima in unsere Familie, als gehöre er schon immer dazu.«

Lopatin beschreibt diesen Abschnitt des Stückes als »eine explodierende Unordnung kulturellen Lärms, bei dem sich all diese Stimmen und Sehnsüchte überlappen, wenn die Familienmitglieder ihr Verlangen, diesen Computer zu besitzen, artikulieren. Der Witz dieser Dauerwerbesendung besteht darin, dass er eine Art Maschine aus der Renaissance ist und die ganze Familie zu einer ganzheitlichen Einheit macht. Jedes Mitglied bekommt damit genau das, was es verlangt. Er bringt sie zusammen und er fördert zugleich ihre Individualität zutage.« Was der Computer jedoch schlussendlich repräsentiert, ist eine neue Stufe der Entfremdung in der Familie: Die vernetzte Familie ist verzahnt mit außerhalb liegenden Systemen und an ferne Datenströme angeschlossen. »Nil Admirari«, ein kakophonischer Track auf dem 2010er-Album Returnal von Oneohtrix Point Never, enthält den gleichen Gedanken: Er ist ein klangliches Abbild des modernen Haushalts, in den die Außenwelt durch Kabel eindringt, der heimische Rückzugsort wird mit giftigen Daten verschmutzt. »Die Mutter ist ganz von CNN vereinnahmt, schimpft über irgendeinen Code-Orange-Terroristen-Mist«, sagt Lopatin. »Währenddessen spielt das Kind im anderen Zimmer Halo 3, bewegt sich auf einer abgedrehten Mars-Oberfläche und tötet einen Feind aus einem James-Cameron-artigen Universum.«

»The Martinettis Bring Home a Computer« handelt von der unheilvollen Seite der Informationstechnologie, es geht um ihre Verführungskraft: Der neue Computer oder ein digitales Gerät erscheint dort als Vorbote einer verheißungsvollen Zukunft. Allerdings führt die hohe Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts dazu, dass jede geliebte Maschine mit an Rücksichtslosigkeit grenzender Schnelligkeit obsolet wird. Da Individuen und Firmen alle zwei oder drei Jahre neue Informations-Technik auf den Markt werfen, stellen überflüssige Computer ein großes Umweltproblem dar. »Ich interessiere mich stark für Formate, für Abfall, für überholte Technologie«, erklärt Lopatin. »Ich interessiere mich für die Vorstellung, dass die Schnelllebigkeit des Kapitalismus unsere Beziehung zu Objekten zerstört. All das führt mich zurück, aber es ist ein Verlangen nach Verbindung, nicht danach, die Dinge wieder zu beleben. Es ist keine Nostalgie.« Lopatin behauptet, die Idee des »Fortschritts« werde genauso von den ökonomischen Bedürfnissen des Kapitalismus bestimmt wie von der Wissenschaft oder der menschlichen Kreativität. In einem manifestartigen Artikel von 2009 beklagt er die Fixierung auf eine lineare Entwicklung und schlägt stattdessen vor, »Räume der ekstatischen Regression« zu öffnen, »der Vergangenheit zu huldigen«, um sie »zu betrauern, zu feiern und in ihr zu reisen«.

Das Verschwinden in »Internet-Wurmlöchern« – Nico Muhlys flapsige Beschreibung seines Mäanderns durchs Netz – enthält auch die Vorstellung der Zeitreise. Das »durchquerbare Wurmloch«, ein Thema endloser Spekulation unter Physikern und ein beliebtes Element der Science Fiction, schneidet ein Loch ins Gewebe des Raum-Zeit-Kontinuums und erschafft eine Abkürzung; theoretisch könnte es als Zeittunnel fungieren. Muhlys Wurmloch-Metapher betont die quasi-astrophysische Dimension des Netzes: Es ist der Cyberspace, ein Kosmos an Information und Erinnerung. Genauso funktionieren auch Archive – sie schaffen einen Raum für die Zeit. Sie sind Systeme zur ordentlichen Aufbewahrung, die Objekte in einen untergliederten Raum verteilen. Computer und das Internet haben diesen Bergungsprozess drastisch beschleunigt und machen die Vergangenheit für alle zugänglich, unabhängig davon, wo man sich befindet, und ob man institutionelle Privilegien hat.

Für junge Künstler wie Lopatin und Muhly bietet YouTube erstaunliche Möglichkeiten für »ekstatische Regression« und für Zeitreisen zu exotischen Flecken kultureller Seltsamkeit. Lopatin benutzt den Vergleich mit Archäologen, die über eine verlorene Zivilisation stolpern: »Wir nähern uns den Ruinen und suchen nach Symbolen an den Wänden. Wir versuchen zusammenzusetzen, wie ihre Kultur, was ihre Bedeutung war. Diese Hieroglyphen sind unser Fenster in diese Kultur. Kleine Abbildungen des alltäglichen Lebens, des Sports, was auch immer.« Er mutmaßt, dass YouTube die Bilddatenbank unserer Zivilisation ist, »ein Realitäts-Tresor«. Er malt sich Menschen aus, die es in ein- oder zweitausend Jahren wie ägyptische Hieroglyphen behandeln. »Das ist im Wesentlichen ein Überblick darüber, wer wir sind. Alle unsere nüchternen und kranken Träume sind hier versammelt. Die Dinge, für die wir uns interessieren, und die wir witzig finden. Vor allem weil vieles auf YouTube wie aus einem Tagebuch oder wie eine Beichte daherkommt. Ich finde das traurig, aber zugleich auch schön. Das ist anscheinend das, was die Menschen am Ende des Tages brauchen. Das ist es, was sie hinterlassen wollen.«

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