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Die totale Erinnerung Musik und Gedächtnis im YouTube-Zeitalter

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Manchmal habe ich den Eindruck, die gesamte Kultur leide unter dem Chris-Farley-Syndrom. Dies war der Name sowohl einer Kunstfigur in Saturday Night Live als auch der des mittlerweile verstorbenen Komikers, der diese Rolle spielte. Die Sketche drehten sich um einen jungen Mann, der von seinem Wohnzimmer aus eine Fernsehshow fürs Kabelfernsehen macht. »Chris Farley« hat unglaubliches Glück, wenn es darum geht, echte Berühmtheiten zu interviewen – alle prominenten Gäste von Saturday Night Live. In einem typischen Sketch säße ein Star wie Paul »Macca« McCartney höflich auf Farleys Sofa, während der aufgeregte Amateur-Interviewer, der hin- und herrutscht und ins Schwitzen gerät, eine Reihe dümmlicher Fragen vor sich hin stottert, die ausnahmslos alle mit »Weißt du noch …« beginnen. In Maccas Fall hörte sich das dann so an: »Paul, weißt du noch … weißt du noch, ›Eleanor Rigby‹?« Woraufhin Macca ohne den geringsten Anflug von Belustigung antwortet: »Ja, klar, Chris, ich erinnere mich an ›Eleanor Rigby‹.« Darauf platzt es aus Farley heraus: »Weil das war … das war … so … cool.« Plötzlich wird Farley die Inhaltslosigkeit seiner Aussagen bewusst, er schlägt sich gegen die Stirn und beschimpft sich selbst: »Idiot, IDIOT.« Nur um das Ganze danach zu wiederholen.

Alle diese I Love the …-Sendungen sind chronisch gewordene Fälle des Chris-Farley-Syndroms. Die meisten der Gast-Kommentatoren taten dort nicht mehr, als die Phrasen/Songtexte/Werbeslogans, um die es ging, nachzuplappern oder irgendeine Variation von »Das war … so … cool« zu stammeln. Aber die wirklichen Metastasen des Chris-Farley-Syndroms zeigen sich im willkürlichen Chaos aus kulturellem Amateur-Altmaterial auf YouTube.

Das unermüdlich sich fortsetzende Labyrinth dieser kollektiven Sammlung ist ein einmaliges Beispiel für die Krise der Überdokumentation, die von den digitalen Medien ausgelöst wurde. Seit die kulturelle Datenmenge nicht mehr an ein physisches Material gebunden ist, sind unsere Kapazitäten, diese zu lagern, zu sortieren und darauf zuzugreifen, unglaublich gestiegen. Die Komprimierung von Text, Bild und Ton führt dazu, dass Raum- und Kostenfragen uns nicht mehr davon abhalten, alles und jedes, was auch nur annähernd interessant oder unterhaltsam scheint, zu konservieren. Durch die Fortschritte in der Technik (Scanner, Festplattenrecorder, Handycameras) ist es möglich, schnell und unwiderstehlich bequem Dinge zu teilen: Fotos, Songs, Fernsehmitschnitte, Vintage-Mags, Illustrationen und Titelbilder von Büchern, Bilder einer bestimmten Epoche, was auch immer. Und sobald etwas im Netz ist, bleibt es meistens auch dort, für immer.

Damit hat sich ein tiefgreifender Umbruch ereignet, bei dem YouTube einerseits als wichtiger Akteur und andererseits als wirkungsmächtiges Symbol fungiert: eine astronomische Expansion der Ressourcen des menschlichen Gedächtnisses. Wir haben als Individuen und auch als ganze Zivilisation unglaublich viel mehr »Raum« für Erinnerungsstücke, Dokumentation und Aufnahmen aller möglichen Spuren unserer Existenz. Und naturgemäß sind wir damit beschäftigt, diesen Raum zu füllen, während sich gleichzeitig dessen Kapazität immer weiter erhöht. Trotzdem gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass unsere Fähigkeit, diese Erinnerungen zu verarbeiten oder sie sinnvoll zu gebrauchen, wesentlich zugenommen hätte.

Andreas Huyssen schreibt über diese »Erinnerungsepidemie«, von der die Industrienationen in den letzten paar Jahrzehnten erfasst worden sind, und fragt: »Das Ziel scheint die totale Erinnerung zu sein. Ist das die übergeschnappte Fantasie eines Archivars?« Noch bedeutsamer als diese »totale Erinnerung« ist der permanente Zugriff auf selbige, den die kulturellen Datenbanken des Internets ermöglichen. Auch vor dem Internet-Zeitalter gab es viel mehr Informationen und Zugang zur Kultur als der Einzelne verarbeiten konnte. Doch der Großteil dieser Kulturdaten und dieses Materials lag außerhalb der alltäglichen Reichweite, in Bibliotheken, Museen und Galerien. Heutzutage ersparen uns Suchmaschinen die Verzögerungen, die das Wühlen in den finsteren und labyrinthischen Magazinen einer Bibliothek mit sich brachte.

Das hat dazu geführt, dass die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in unserem Leben auf unermessliche und geradezu heimtückische Weise zugenommen hat. Der alte Kram durchdringt die Gegenwart entweder direkt oder lauert unter der Oberfläche des Gegenwärtigen, in Form von Bildschirm-Fenstern in andere Zeiten. Da wir uns so sehr an diesen bequemen Zugang gewöhnt haben, ist es undenkbar geworden, sich daran zu erinnern, dass das Leben nicht immer so war: Es ist noch nicht so lange her, dass man die meiste Zeit in der kulturellen Gegenwart lebte und die Vergangenheit auf Zonen beschränkt war, die in bestimmten Objekten und Orten gefangen waren.

Am ehesten lassen sich diese Veränderungen veranschaulichen, wenn man die Gegenwart mit den Bedingungen der späten 70er vergleicht, als ich ein junger Kerl war. Betrachten wir zuerst die Musik. Plattenfirmen haben damals Platten aus ihrem Sortiment gestrichen; zwar konnte man Alben, die nicht mehr nachgepresst wurden, in Second-Hand-Läden finden oder über spezialisierte Mailorder bekommen, aber die ganze Plattensammler-Kultur steckte noch in den Kinderschuhen. Ich kann mich noch gut an den Zeitpunkt erinnern, als mir auffiel, dass Reissues in Musikzeitschriften besprochen wurden – Tim Buckleys Greetings from LA oder ein paar Faust-Alben –, eben weil das wirklich seltene Ereignisse waren. Von Box-Sets oder Deluxe-Neuauflagen klassischer Künstler hatte man in den 70ern praktisch noch nichts gehört. Wenn man sich alte Musik anhören wollte, dann war man auf das beschränkt, was in den Läden zu finden war und was man sich von seinem kleinen Budget leisten konnte. Es gab auch die Möglichkeit, sich Sachen aus den Sammlungen von Freunden oder aus öffentlichen Bibliotheken zu überspielen, aber auch das wurde von der Verfügbarkeit und den Kosten für die Leerkassetten determiniert. Heute hat jeder junge Mensch Zugang zu praktisch allem, was jemals aufgenommen wurde, kostenlos, und jeder kann dank Wikipedia und Tausenden von Musikblogs und Fanseiten problemlos die Geschichte und den Kontext der Musik nachlesen.

In anderen popkulturellen Feldern ist die Situation ähnlich. Wiederholungen gab es im Fernsehen nur vereinzelt und die reichten selten weiter als ein paar Jahre zurück. Es gab keine Sender, die sich ausschließlich dem Vintage-Fernsehen widmeten, keine DVD-Collections von Serienklassikern, kein Netflix oder überhaupt nur Videotheken. Klassische Filme oder cineastische Obskuritäten flackerten durch das Fernsehprogramm und wenn man sie verpasst hatte, waren sie verloren, ganz und gar unerreichbar – abgesehen von flüchtigen unvorhersehbaren Vorführungen in Programmkinos, die sich den »Midnight Movies« oder überhaupt einem abseitigen Repertoire verschrieben hatten.

Unser Verhältnis zu Raum und Zeit hat sich im YouTube/Wikipedia/Rapidshare/iTunes/Spotify-Zeitalter gänzlich gewandelt. Entfernungen und Verzögerungen wurden auf ein Minimum reduziert. Um nur ein Beispiel zu geben: Als ich den letzten Absatz schrieb, habe ich mir eine parodistische Version von Beethovens Sechster Symphonie (die »Pastorale«) auf einer »komischen« Avantgarde-Compilation namens Smiling Through My Teeth angehört. Daraufhin wollte ich mir die richtige Fassung in unverstümmelter Form anhören. Ich hätte einfach durch meine Wohnung zu dem begehbaren Schrank schlendern können, wo der Großteil meiner Plattensammlung versteckt ist, aber um meinen Arbeitsablauf nicht zu unterbrechen, blieb ich vor dem Rechner sitzen und ging auf YouTube, wo ich zig Versionen der verschiedensten Orchester fand. (Ich hätte mir die Pastorale genauso gut ohne Bilder mittels der Sounddateien im Wikipedia-Eintrag zu Beethovens Sechster anhören oder im Handumdrehen sowohl legal als auch illegal runterladen können.) Ich staunte darüber, wie schnell ich dieses bestimmte Musikstück bekommen konnte – und vertiefte mich natürlich in den Vergleich der verschiedenen Versionen der Pastorale, die auf der YouTube-Seitenleiste, die man beliebig herunterscrollen kann, zu finden sind: dies, falls nötig, als Beweis für die Kehrseite von vereinfachtem Zugang und gestiegenem Angebot.

YouTube ist natürlich nicht die einzige Video-Plattform. Aber da es der Pionier und Marktführer in diesem Bereich ist, wird es zu einem Synonym für die ganze Industrie, so wie Kleenex und Hoover allgemeine Begriffe für Papiertuch und Staubsauger geworden sind. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches (Sommer 2010) hat YouTube einen Meilenstein erreicht: Mit atemberaubenden zwei Milliarden Aufrufen pro Tag ist es die am dritthäufigsten besuchte Website der Welt. Pro Minute werden weitere 24 Stunden Videomaterial hochgeladen, und ein einzelner Betrachter würde 1.700 Jahre brauchen, um all die hundert Millionen Videos anzusehen.

YouTube ist nicht einfach irgendeine Website oder eine Technologie, sondern eher ein ganzes Feld kultureller Praktiken. Der Medientheoretiker Lucas Hilderbrand gebraucht Begriffe wie »Remediation« (A. d. Ü.: Sanierung) oder »Post-Broadcasting«, um auf den Punkt zu bringen, was an YouTube so innovativ ist. Das »Re« in Remediation unterstreicht, dass YouTube größtenteils, wenn nicht sogar völlig, von den Programmen der Mainstream-Unternehmen der Unterhaltungsindustrie abhängig ist: Musikpromos, die von Major-Labels, Fernsehsendern und Hollywood gemacht und bezahlt wurden. Selbstverständlich gibt es auch eine Menge Sachen, die nicht dem Mainstream oder DIY zuzurechnen sind: Es gibt abseitige und Underground-Musik/Kunst/Filme/Animationen, Amateur-Videos von Babys und Hunden, die putzige Sachen machen, von Teenagern, die in ihren Zimmern oder auf der Straße herumalbern, und Handyvideos von Konzerten, die Fans aufgenommen haben. Aber ein großer Teil der Inhalte auf YouTube sind doch Mainstream-Unterhaltungssendungen und Nachrichten, die von ihren Konsumenten in geraffter Form wieder präsentiert werden: Ausschnitte aus Talk-Shows, Werbespots aus bestimmten Epochen, Erkennungsmelodien, verschollene Aufnahmen von Bandauftritten im TV, die Lieblingsszenen aus Filmen. Das »Post« in »Post-Broadcasting« hat zwei Bedeutungen: »Post« meint zum einen das Überwinden des Zeitalters eines kulturellen Mainstreams, sprich die Dominanz der großen Fernsehsender, und den Eintritt in eine konsumentenbestimmte Ära der Nischen. Es meint zum anderen das »Post« in Postmoderne (Kunst, die aus Nachahmungen und Zitaten besteht). Auf YouTube wimmelt es von Bearbeitungen im Stile der Fan-Fiction für die Mainstream-Unterhaltung: Parodien, Leute, die Karaoke-Versionen von Popsongs singen, Mashups und andere Formen des »Culture Jamming«, das sich um das neue Zusammenstellen von vorhandenem Material dreht. Diese spöttischen Travestien erinnern an die Spinnereien von Bands wie KLF, Culturcide und Negativland, die auch auf der Idee des Sampling beruhen.

Wenn man YouTube aus einer rein musikalischen Perspektive betrachtet, fallen einem zwei Aspekte dieses neuen (Post-)Broadcasting-Mediums besonders auf: Zum einen ist YouTube ein Sammelbecken für die zahlreichen extrem seltenen Fernsehauftritte oder Bootleg-Liveaufnahmen geworden, die früher von Hardcore-Fans gesammelt und gehandelt wurden. Mit Inseraten auf den letzten Seiten von Goldmine oder Record Collector, über Fanzines oder Brieffreundschaften tauschten oder verkauften Fans Videokassetten, die so oft kopiert und überspielt worden waren, dass die Bilder von Elvis oder Bowie durch das Schneegestöber oder die Verzerrung nur noch vage zu erkennen waren. Heutzutage finden sich diese Sachen auf YouTube und sind für jeden zugänglich, der sie anklickt. Wenn ich darüber nachdenke, wie nützlich YouTube für meine Post-Punk-Geschichte Rip It Up gewesen wäre, die ich ungefähr 18 Monate, bevor YouTube im Winter 2005 startete, geschrieben hatte, habe ich gemischte Gefühle: Die Frustration wird im Rückblick durch das seltsame Gefühl der Erleichterung aufgewogen. Obwohl es eine großartige Quelle darstellt, hätte ich mich genau so gut in den endlosen Clips mit Live-Mitschnitten, alten Promo-Videos und Fernsehauftritten verlieren können.

Die andere interessante Entwicklung im Musik-Kontext ist, wie Fans große Teile dieses Video-Archivs in eine reine Audio-Ressource verwandelt haben, indem sie einfach Songs zusammen mit abstrakten, an Bildschirmschoner erinnernden Standbildern präsentieren, in vielen Fällen nur ein Bild des Plattencovers oder -labels oder eine körnige Aufnahme, die zeigt, wie sich das Vinyl auf einem Plattenspieler dreht. Ganze Alben sind auf YouTube hochgeladen, bei denen jeder Track mit dem gleichen halbherzigen Bild versehen ist. Die Kombination aus Promovideos und Sound-Uploads hat dazu geführt, dass YouTube zu einer öffentlichen Bibliothek für Aufnahmen geworden ist, wenn auch zu einer desorganisierten, unordentlichen, mit vielen Lücken, Wiederholungen und »beschädigten Kopien«. Mithilfe von Tools wie Dirpy, mit denen man YouTube-Videos in MP3s konvertieren kann, kann man Sachen auch »ausleihen«, ohne sie zurückzugeben.

YouTube lässt sich viel leichter zu Rate ziehen als meine riesige und unübersichtliche Plattensammlung. Ich habe tatsächlich schon ein Album aus dem Netz gesaugt, das ich eigentlich besitze, nur um mich nicht durch die Boxen wühlen zu müssen. Auch wenn CD oder Vinyl besser klingen, reichen MP3s völlig aus, wenn es schnell gehen soll. In meinem Fall recherchiere ich meistens Referenzen und Zitate, ich nutze die Musik also mehr als Informationsquelle, als dass ich mich dem Klangerlebnis hingebe. YouTube selbst ist ein Beispiel für die Art von digitaler Kultur, die Qualität gegen Bequemlichkeit eintauscht. Das Medium hat eine »miese Bild- und Tonqualität«, bemerkt Hilderbrand, wenn er beschreibt, wie die akzeptable Qualität des Bildes, wenn es noch klein dargestellt wird, in all seiner gering aufgelösten Bescheidenheit entlarvt wird, wenn man auf Vollbild klickt. Doch genau wie die Hörer den »verlustreichen«, dünnen Klang der MP3s akzeptiert haben, beschwert sich niemand über die geringe Wiedergabequalität, die ein Computer-Bildschirm bietet – obwohl die Entwicklung mit HD-TV, 5.0 Surround-Soundanlagen für das Heimkino, 3-D-Filmen etc. eigentlich in die entgegengesetzte Richtung weist.

Zwar ist die Qualität mies, aber mit dem Online-Archiv gibt es schier unbegrenztes Angebot. Wir haben auch den komsumentenfreundlichen Service, mit der Zeitanzeige vor- und zurückzuspulen, um schneller an »die guten Stellen« zu kommen. YouTube, das auf dem Zeigen von Ausschnitten basiert, ist bereits dabei, größere Erzählstränge (die Sendung, den Film, das Album) zu fragmentieren, aber diese Funktion ermuntert uns Zuschauer, diese kulturellen Fragmente auf noch kleinere Einheiten herunterzubrechen, womit wir unbewusst unsere Konzentrations- und Entfaltungsfähigkeit einbüßen. Wie beim Internet als Ganzem wird damit unser Zeitempfinden immer spröder und unbeständiger: Während wir nervös am Datenstrom knabbern, flitzen wir unruhig von einem Zuckerrausch zum nächsten.

YouTube verstärkt dieses Bedürfnis durch die Seitenleiste, auf der Clips mit Bezug zum gerade laufenden angeboten werden, oft nach einer kruden Logik. Es ist schwer, nicht unaufmerksam irgendwo zwischen dem Surfen und Zappen durch die Kanäle hängenzubleiben. (Obwohl man natürlich immer durch den gleichen Kanal flitzt, nämlich YouTube – mittlerweile selbst eine Provinz im Reich von Google geworden, das es im Oktober 2006 aufgekauft hat.) Dieses Abschweifen gleicht einer künstler- und genreübergreifenden Zeitreise, da die Video-Artefakte aus verschiedenen Epochen wild durchmischt nebeneinander stehen und nur durch ein Gitter von Assoziationen miteinander verlinkt sind.

Der Grund für dieses Abschweifen liegt in der Unordnung von YouTube, das eher einem vollgestopften Dachboden als einem Archiv gleicht, nachlässig geordnet und gekennzeichnet wie es ist. Aber anderswo im Netz stellen offizielle Organisationen wie auch Amateure gut sortierte Kultur-Datenbanken zusammen, deren Inhalte für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Britische Nationalbibliothek hat beispielsweise jüngst ihre riesige ethnografische Sammlung von Musik im Netz kostenlos zugänglich gemacht: Ungefähr 28.000 Aufnahmen und 2.000 Stunden traditioneller Musik, Wachszylinder-Dokumenten von Liedern der Aborigines, die der Anthropologe Alfred Cort Haddon 1898 aufgenommen hat, bis hin zu den Aufnahmen des westafrikanischen Decca-Ablegers mit Calypso und Quickstep aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Filmbehörde von Kanada unterhält ein ähnliches Archiv seiner berühmten Dokumentationen, Natursendungen und Animationsfilme von Lichtgestalten wie Norman McLaren, die via Stream frei zugänglich sind. Dann gibt es noch UbuWeb, eine Goldgrube für Avantgarde-Kino, Klangkunst, Musik und Texte, das von Fans mit wissenschaftlicher Akribie gestaltet wird. UbuWeb hat das Ziel, Werke, die sonst in Lagerräumen, Kunstmuseen oder in den Untiefen von Universitätsbeständen dahinvegetieren würden und vielleicht zu seltenen Anlässen auf Festivals oder Ausstellungen öffentlich einsehbar wären, permanent verfügbar zu halten.

Neben Organisationen wie UbuWeb gibt es noch eine umtriebige Vielzahl von Blogs wie The Sound of Eye, BibliOdyssey, 45cat und Found Objects, die von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen Gleichgesinnter betrieben werden; Amateur-Kuratoren, die frenetisch alle Formen abseitiger Bilder und Sounds ins Internet stellen: kuriose und verlorene Klassiker von Buchillustrationen, Grafik-Design und Typografien des 20. Jahrhunderts, Avantgarde- und Animationsfilme, eingescannte Artikel und in zunehmendem Maße ganze Ausgaben von obskuren Magazinen und Fanzines, alte Bildungssendungen und die Intros von lange verloren geglaubten Kindersendungen etc. Wenn ich ein zweites Leben führen könnte (bei dem ich mir keine Gedanken über mein Einkommen machen müsste), würde ich mich den ganzen Tag an all diesen Kulturgütern weiden und wäre glücklich dabei.

Im Internet korrelieren Vergangenheit und Gegenwart auf eine Weise, die die Zeit breiig und schwammig werden lässt. YouTube ist die vollkommene Erfüllung des Web 2.0, da es jedem Video, das hochgeladen wird, Unsterblichkeit verspricht: Theoretisch kann der betreffende Inhalt dort für immer bleiben. Man kann mit einem Klick vom Veralteten zum Aktuellsten wechseln. Das Ergebnis ist, kulturell betrachtet, eine paradoxe Mischung aus Geschwindigkeit und Stillstand. Man kann das auf allen Ebenen der Web-2.0-Realität beobachten: Eine unglaublich hohe Fluktuation von Nachrichten, die alle zehn Minuten geupdatet werden, steht der sturen Beharrlichkeit nostalgischen Mists gegenüber. In die Lücke zwischen diesen beiden Polen fällt sowohl die jüngste Vergangenheit als auch das, was man als »verlängerte Gegenwart« bezeichnen könnte: Moden, die Bestand haben, Bands, deren Karrieren länger als ein Album anhalten, Subkulturen und Bewegungen, die gegen Trends und Geschmäcker bestehen. Die jüngste Vergangenheit gleitet in eine amnesische Leere ab, während die verlängerte Gegenwart in ihrer ganzen Bandbreite in Stein gemeißelt wird, einfach aufgrund des unglaublichen Tempos, mit dem die Seiten des Gegenwärtigen und Kursierenden aktualisiert werden.

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