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Abschlussgespräch mit der Geschäftsleitung
„Nicht geschimpft ist auch gelobt“
ОглавлениеDrei Tage nach meiner schriftlichen Kündigung wurde ich von Klaus und seinem Vater zu einer Besprechung gebeten. Der Chefarzt wollte sich die Gründe für meine ihm unbegreifliche Kündigung anhören und eventuell die Situation klären.
Wir trafen uns im großen Besprechungsraum im zweiten Obergeschoss und nahmen auf den drei leuchtblauen, im Halbkreis aufgestellten Sofas Platz, jeder auf einem extra Sofa mit ziemlichem Abstand zum Gesprächspartner. Die Stimmung war angespannt und im Raum war es nun, Anfang Juli, brütend heiß.
Ich war nervös, aber gleichzeitig auch gefasst und hatte mir felsenfest vorgenommen, alle meine Gründe, die zu meiner Entscheidung geführt hatten, vorzubringen. Nichts wollte ich verschweigen, alles musste nun gesagt werden. Auch wenn ich nun meine Arbeitsstelle für immer verließ, so sollten meine Vorgesetzten zumindest vollständig darüber informiert sein, wo meiner Meinung nach die Probleme lagen.
Der Chefarzt eröffnete das Gespräch. „Ich habe gehört, dass Sie uns verlassen wollen, stimmt das? Wo liegt denn das Problem?“ Noch ehe ich antworten konnte, fügte er zynisch hinzu: „Haben Sie vielleicht eine bessere Stelle gefunden? Dann möchte ich das jetzt sofort von Ihnen wissen.“
Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, das ist es nicht.“ Der Chefarzt schaute mich ungläubig an: „Wirklich nicht?“ „Nein, die Gründe liegen ganz woanders“, entgegnete ich ihm.
Daraufhin klagte ich über das für mich inzwischen untragbare Verhalten einiger Ärzte, die während der Arbeitszeit ausschließlich im Internet surften oder den ganzen Arbeitstag schlafend auf der Couch im Aufenthaltsraum verbrachten, statt sich um die Patienten zu kümmern. Brauchte man von ihnen eine Unterschrift oder sollte womöglich ein Patient untersucht werden, der Beschwerden hatte, so erhielt man eine patzige oder cholerische Antwort, weil man es wagte, sie bei ihren „wichtigen Beschäftigungen“ zu stören. Wieder andere Ärzte tätigten stundenlange Privatgespräche mit ihrer Familie, ihren Kindern oder Freunden und empfanden es ebenfalls als äußerst lästig, falls man sie unterbrach, weil eine ärztliche Tätigkeit auf sie wartete.
Der Chefarzt zog ein finsteres Gesicht. Er wusste schon längere Zeit über diese Missstände Bescheid, denn ich hatte schon des Öfteren mit ihm darüber gesprochen. Verärgert wies er mich darauf hin, dass ich wohl wüsste, wie schwierig es sei, in unserem Fachgebiet überhaupt einen Mediziner zu bekommen. Man dürfe daher keinerlei Ansprüche stellen! Im Gegenteil, man müsse mehr als froh sein, wenn man in dieser Fachrichtung überhaupt noch Ärzte fände! Es wäre ja nur wichtig, dass sie anwesend seien, denn die Hauptarbeit bestände sowieso nur in den pflegerischen Tätigkeiten, die ja von den Pflegern oder Schwestern erfüllt werden müssten.
Er stimmte jetzt einen sehr bedrohlichen Tonfall an und ermahnte mich, ich solle mich den Gegebenheiten fügen. Er wolle jetzt bald in Pension gehen und wäre froh, dass er mit Dr. Egger nun endlich einen Nachfolger für die Klinikleitung bekommen habe. Auch wenn das Verhalten der Ärzte nicht richtig sei, müsse ich mich zurücknehmen und die Situation so akzeptieren, wie sie nun einmal sei.
Als ich ihm sagte, dass es mir schon sehr lange Zeit psychisch schlecht ginge, weil auch allgemein ein unmenschlicher Umgangston innerhalb des Teams herrsche, den ich nicht mehr ertragen könne, empfahl er mir, wie schon so oft, mir das sprichwörtlich dickere Fell endlich wachsen zu lassen.
Der Gesprächston von Seiten des Chefarztes wurde immer unangenehmer und aggressiver. Es war mir unbegreiflich, aber irgendwie passte es auch wieder ins Bild, denn so cholerisch und grimmig hatte ich ihn schon häufig in den vergangenen Jahren erlebt. Er verhielt sich auch anderen Mitarbeitern und Patienten gegenüber so, oftmals ohne ersichtlichen Grund.
Trotzdem verstand ich seine Reaktion in diesem Moment nicht. Falls er mich noch in irgendeiner Weise umstimmen wollte, von meinem Entschluss abzusehen, so konnte er dies sicherlich nicht mit Angriff und Aggression bei mir erreichen.
Ich schilderte ihm, dass ich in all den Jahren meine gesamte Arbeitskraft in diesen Job gesteckt hatte. Stets war ich verfügbar und zu Hilfe und Unterstützung bereit gewesen. Es schien alles selbstverständlich, dass ich ständig mein Privatleben und meine persönlichen Bedürfnisse zurückgestellt hatte. Im Gegenteil, meist war ich der Launenhaftigkeit, den Aggressionen und Beanstandungen sämtlicher Personen ausgesetzt, auch wenn ich gar nichts dafür konnte.
Wie oft kam ich in der Vergangenheit zum Dienst, auch wenn ich gesundheitlich einmal angeschlagen war? Fiel jemand aus familiären Gründen oder wegen Erkrankung plötzlich aus und fühlte sich nicht in der Lage zur Arbeit zu kommen, so konnte man immer auf mich zählen, dass ich die Schicht übernahm.
Die Dienstpläne erstellte ich stets so, dass ich auf sämtliche Belange meiner Kollegen Rücksicht nahm: Da gab es alleinerziehende Mütter, die von mir besonders kinderfreundliche Dienstzeiten erhielten. Den Mitarbeitern, die gerne regelmäßigen Kursen oder Hobbys nachgingen, hielt ich stets die entsprechenden Abende frei. Sämtlicher Sonderwünsche nahm ich mich an und versuchte, bei jedem der Mitarbeiter Gerechtigkeit und Ausgleich zu schaffen, damit sich niemand benachteiligt fühlen musste. Nur auf mich persönlich nahm ich am wenigsten Rücksicht. Ich selbst konnte mir nie eine regelmäßige Freizeitaktivität gönnen. Häufig hatte ich auch an den Wochenenden gearbeitet, obwohl dies für mich als Pflegeleitung nicht verpflichtend notwendig gewesen wäre. Da ich ja sowieso zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar sein musste, konnte ich ohnehin nichts Großartiges unternehmen und so wollte ich die freien Wochenenden lieber den Mitarbeitern zukommen lassen, die Familie und Kinder hatten.
Doch in all den Jahren hatte es von der Geschäftsleitung nie ein Wort der Anerkennung oder des Dankes gegeben. Jede meiner Leistungen war stets selbstverständlich. Im Gegenteil, meist wurde genörgelt und getadelt, auch wenn ich mich noch so anstrengte.
Der Chefarzt wirkte nun überaus verärgert. „Reißen Sie sich zusammen, ich möchte keine Klagen hören! Akzeptieren Sie die Gegebenheiten hier und fügen Sie sich diesen! Kann ich mich in Zukunft darauf verlassen?“
Ich erwiderte: „Nein, ich kann einfach nicht mehr, ich habe jahrelang stets mehr als meine Pflichten an diesem Arbeitsplatz erfüllt und nun geht es einfach nicht mehr. Ich bin am Ende mit meinen Nerven und ich lasse mich von niemandem mehr seelisch attackieren und niedermachen, auch nicht von Ihnen! Ich kann nicht mehr so weiterarbeiten und deshalb möchte ich mein Arbeitsverhältnis auflösen. Trotzdem werde ich noch die drei vereinbarten Monate Kündigungsfrist einhalten und in dieser Zeit meinen Nachfolger oder meine Nachfolgerin einweisen und alle noch bis zu diesem Zeitpunkt zu erledigenden Arbeiten abschließen.“
Klaus hatte eine Zeitlang zugehört und sagte jetzt mit etwas spöttischem Unterton: „Du wirst nicht gehen, das glaube ich niemals. Deine ganze Einstellung ist viel zu sicherheitsorientiert, um eine unkündbare Arbeitsstelle einfach so wegzuwerfen. Dafür kenne ich dich viel zu gut.“
Verzweifelt erwähnte ich all die Ungerechtigkeiten und Demütigungen, die ich in diesem Umfeld schon viel zu oft und auch schon jahrelang ertragen hatte. „Nein, ich lasse mich von euch allen nicht mehr ständig so heruntermachen. Das muss ich mir nicht gefallen lassen. Ich fühle mich innerlich schon so niedergedrückt. So viel ich auch arbeite, nie ist es genug an Einsatz.“
In meiner Vorstellung wurde ich durch all die Bosheiten und Niederträchtigkeiten an diesem Arbeitsplatz immer mehr gedemütigt und als ich ihm dieses Bild schilderte und erklärte, mich nicht mehr weiterhin verbiegen zu wollen, sondern in Zukunft aufrecht durch das Leben zu gehen, kam die spöttische Antwort des Chefarztes wie ein Hammerschlag auf mich zurück: „Dann gehen Sie doch von mir aus auch künftig bucklig weiter.“
Die Verzweiflung sprudelte nur so aus mir heraus und ich nahm mir kein Blatt mehr vor den Mund. Dies bedeutete nicht, dass ich unfreundlich wurde, denn das ist nicht meine Art, aber ich brachte alles vor, was für mich meiner Meinung nach bei diesem unerträglichen Arbeitsklima nicht in Ordnung war. Ich konnte nicht mehr stillhalten und musste nun auch keine Rücksicht nehmen, ob es vielleicht einen Nachteil für mich bedeutete. Außerdem entsprachen meine Äußerungen der uneingeschränkten Wahrheit.
Meine beiden Vorgesetzten, Vater und Sohn, ließen nun nichts aus, mich verbal zu attackieren und sich gegenseitig die Stange zu halten. Tatsachen wurden einfach geleugnet und früher getätigte Aussagen eiskalt weggelogen. „Das habe ich nie gesagt“, empörte sich der Chefarzt, wie schon so oft, als ich ihn an eine Äußerung seinerseits erinnerte. Prompt wurde er diesbezüglich noch von seinem Sohn verbal unterstützt, obwohl dieser bei besagter Angelegenheit damals gar nicht anwesend gewesen war. So wurde ich jetzt, da es sich als günstig erwies, buchstäblich als Lügnerin hingestellt.
Schließlich lag es mir fern, nun noch länger über irgendetwas Vergangenes zu debattieren, hatte ich doch allein gegen die Beiden sowieso keine Chance. Laufend wiesen sie jegliche Verantwortung von sich und meinten obendrein, dass all meine Probleme durch und durch meine eigene Schuld seien.
Alles war mir nun egal, die bedrückenden Schwierigkeiten wollte ich jetzt einfach loswerden. Ich war mir so sicher, dass ich mein Arbeitsverhältnis beenden musste, um endlich irgendwann wieder ein glückliches Leben und eine innere Ausgeglichenheit erlangen zu können. Diese Gewissheit gab mir ein starkes und erleichterndes Gefühl. All den Ballast der jahrelang andauernden Schwierigkeiten, den ich schon viel zu lange mit mir herumschleppte, wollte ich nun auf einmal abwerfen, wie einen erdrückend schweren Rucksack. Das war nun mein einziger tiefer Wunsch. Keine Minute lang dachte ich daran, was danach kommen würde. Schlimmer konnte es nirgends mehr sein. So erklärte ich: „Ich kann nicht mehr anders, ich möchte nicht mehr hier arbeiten.“
Der Chefarzt und sein Sohn, der Geschäftsführer, glaubten, nicht richtig zu hören und fragten mich mehrmals, ob das wirklich mein voller Ernst sei und ich mir diese Entscheidung auch wirklich gut überlegt habe.
„Du wirst keine finanzielle Abfertigung bekommen, wenn du jetzt kündigst“, hörte ich noch einmal die nun ermahnende Stimme von Klaus. In diesem Moment war mir das alles gleichgültig. Ich sagte: „Es ist mir egal! Ich kann einfach nicht mehr so weiterzumachen.“ „Du wirst auch einen Monat lang kein Arbeitslosengeld bekommen, wenn du jetzt selbst kündigst.“ Ich hörte seine Einwände schon ganz weit weg und konnte die Tragweite dieser Situation gar nicht mehr vernünftig einschätzen. Mein einziger Gedanke war nur noch, dass ich weg wollte, dass ich so einfach nicht mehr weitermachen wollte. „Ich kann einfach nicht mehr, ich schaffe das alles nicht mehr!“ so rief ich es fast verzweifelt heraus.
Weinend saß ich auf dem blauen Sofa des Besprechungsraumes und der Schweiß lief mir in Bächen herunter. Ich wünschte mir so sehr, jetzt einen vertrauten Menschen an meiner Seite zu haben, der mich seelisch unterstützt hätte. Es ging mir dabei nicht darum, einen Zeugen zu haben, was allerdings auch nicht schlecht gewesen wäre. Obwohl ich die starke Schulter eines Ehemannes eigentlich selten vermisste, so sehnte ich mich in diesem Moment nach einer nahestehenden Person, um dieser Situation nicht so schrecklich schutzlos ausgeliefert zu sein. Aber es blieb mir nichts anderes übrig, da musste ich nun alleine durch.
Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Mund war vollkommen ausgetrocknet und ich fühlte mich total erschöpft, als hätte ich eine stundenlange, anstrengende Bergwanderung hinter mir. Mein Puls raste und ich hörte das laute Pochen in meinen Ohren. Auch wenn meine Kündigung nicht gerade vernünftig erschien, so spürte ich doch gleichzeitig, dass diese Entscheidung schon mehr als überfällig war.
Als der Chefarzt nun erkannte, wie ernst mein Entschluss war, meinte er zu seinem Sohn: „So kann man sie nicht gehen lassen nach all den Jahren, das kann man nicht machen. Wir besprechen dann noch anschließend miteinander in deinem Büro, welchen Abfertigungsbetrag wir ihr auszahlen werden.“
Er wandte sich nun wieder mir zu und sprach in sehr mildem Ton: „Wir werden Ihnen ausnahmsweise einen Anteil der Abfertigungssumme auszahlen, denn Sie haben ja doch viele Jahre für uns gearbeitet.“ Gleichzeitig empfahl er mir, in eine einvernehmliche Lösung des Arbeitsverhältnisses einzuwilligen, da dies für mich eher von Vorteil wäre. Ich kannte mich diesbezüglich nicht aus, stimmte dann aber seinen Vorschlägen zu.
Danach merkte der Chefarzt noch an: „Ich weiß, das ist ein Mangel bei uns, dass wir die Anerkennung bei den Mitarbeitern nicht so zeigen, aber wir sind halt so. Sie müssen es immer so sehen: „Nicht geschimpft ist auch gelobt“.“
Nach dieser gefühllosen Bemerkung standen beide auf. Kein Wort des Dankes oder einer kleinen Anerkennung nach so vielen Jahren. Ein kurzer Händedruck, das war alles, was mein Chef nach dreiundzwanzig Jahren für mich übrig hatte. Emotionslos und kühl konnte er sich doch noch eine nichtssagende Phrase zum Abschied abringen, während er mir die Hand reichte: „Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft.“ Damit drehte er sich um und ging.
Weinend und enttäuscht dachte ich mir, dass man wirklich wie eine Nummer behandelt wird, sobald man die Leistung nicht mehr erbringt. Gleichzeitig wurde mir aber auch bewusst, dass meine Chefs nun gerade, wie schon so oft, ihr wahres Gesicht gezeigt hatten, und dass jemand, der nur über ein bisschen guten Charakter verfügt, sich wohl in diesem gesamten Gespräch anders verhalten hätte.
Da dies eigentlich mein freier Tag gewesen sein sollte, verließ ich sofort nach dieser Besprechung die Klinik und hoffte, in meinem Zustand keinem meiner Kollegen zu begegnen, denn ich schämte mich dafür, so verheult auszusehen. Bis zuletzt wollte ich Haltung bewahren, was mir aber nun nicht mehr gelang.
Ich fuhr ein kleines Stückchen mit dem Auto zu einem nahe gelegenen Fluss und hoffte, dort einige Zeit allein sein zu können. Nachdem ich mein Auto auf dem angrenzenden Kiesplatz an der Uferzone geparkt hatte, verspürte ich beim Aussteigen eine ziemliche Schwäche in meinen Beinen und ein erhebliches Zittern in den Knien.
Alles um mich herum erschien mir wie durch einen dunstigen Schleier verschwommen und vollkommen unwirklich, aber auch gleichzeitig wie in einem schlimmen Albtraum. So lief ich ohne Ziel auf einem am Flussbett entlang führenden Kiesweg dahin und meine Gedanken schienen vollkommen durcheinander geraten zu sein. Ständig versuchte ich all das Vorgefallene zu sortieren, dann sprach ich innerlich wieder zu mir selbst: „Jetzt hast du das alles hinter dir, sei froh, jetzt kannst du aufatmen!“ Total aufgewühlt, versuchte ich vergeblich innerlich zur Ruhe zu kommen, indem ich langsam und gleichmäßig atmete und mich auf verschiedene Dinge in meiner Umgebung konzentrieren wollte. Die spärlichen Blumen am Wegesrand, die glühende Hitze der Sonne, das wilde Rauschen des Flusses, der knirschende Kies unter meinen Schuhen, all das versuchte ich bewusst wahrzunehmen, um mich abzulenken. Doch es gelang mir nicht. Die Gemeinheiten, die ich gerade schon wieder in diesem Abschlussgespräch an den Kopf geworfen bekommen hatte, verfolgten mich erbarmungslos und ich musste ständig daran denken, was gerade vorgefallen war. Ziellos lief ich sicher noch zwei Stunden durch die Gegend und ständig fing ich wieder an zu weinen und zu schluchzen.
Am nächsten Tag die Arbeit wieder anzutreten, war nicht einfach. Ich versuchte, mein Gemüt auf „Alltag“ zu programmieren. Was blieb mir anderes übrig?