Читать книгу DIE KRANKENSCHWESTER - Sonja Löwe - Страница 22
Der Kugelschreiber
ОглавлениеNachdem die Klinik schon längere Zeit dringend nach ärztlichem Personal gesucht hatte, konnte eine der offenen Stellen schließlich mit Dr. Horak, einem tschechischen Mediziner, besetzt werden. Auf unsere bange Frage an die Geschäftsleitung, ob dieser Arzt wohl der deutschen Sprache mächtig sei, wurden wir beruhigt. Sein Deutsch sei nahezu perfekt bis auf einen leichten Akzent.
Dr. Horak war relativ jung und von hagerer Statur. Sein blasses, ernstes Gesicht zeigte keinerlei Gefühlsregung oder Mimik. Schon am ersten Tag benahm er sich sehr seltsam. Anstatt sich bei Ärzten und Pflegeteam vorzustellen, setzte er sich wortlos an den Schreibtisch und lümmelte lustlos auf dem Bürostuhl hin und her, während er fast schläfrig die Ellbogen auf die Schreibtischplatte stützte. Demonstrativ fing er immer häufiger an zu gähnen, bis ihn ein Arztkollege aufforderte, mit ihm zu kommen. „Komm mit zur Visite.“ Beide gingen von Patient zu Patient, während Dr. Horak den Kranken vorgestellt wurde. Der neue Mediziner konnte sich kaum zu einem hörbaren Gruß aufraffen. Er war wohl nicht gerade die Höflichkeit in Person. Leise murmelnd erörterten die Ärzte mit ihrem neuen Kollegen die Krankengeschichten der jeweiligen Patienten. Wenig begeistert folgte er den Schilderungen. Seine schlaffe, nach vorne hängende Körperhaltung zeigte einen ziemlich gleichgültigen Ausdruck. Gelegentlich brummte er ein gelangweiltes „Mhm“, aber das war schon alles. Er stellte keine interessierten Fragen an die Kollegen und er richtete auch kein einziges Wort an die Patienten. Auf diese Weise wäre wenigstens gleich ein angenehmer und freundlicher Kontakt zwischen ihm und den Kranken entstanden. Nein, er fand es nicht einmal für notwendig, sich bei den Patienten vorzustellen, als er im Kreis der Ärztekollegen der Visite beiwohnte.
Langsam bewegte sich der Zug der „Weißkittel“ von Patient zu Patient, doch Dr. Horak blickte gelangweilt und desinteressiert ins Leere, um sich nach Abschluss der Visite wieder lustlos an den Schreibtisch zu lümmeln.
Auch in den darauf folgenden Wochen sprach er nur gelegentlich mit seinen Ärztekollegen einige kurze Sätze. Als er, nach deren Ansicht, ausreichend über alle Besonderheiten der Tagesabläufe informiert worden war, sollte er ab jetzt, wenn er in den Dienst eingeteilt war, als hauptverantwortlicher Arzt allein die Stellung halten, ärztliche Tätigkeiten übernehmen, wie Formulare ausfüllen oder Rezepte unterschreiben oder in Notfällen mithelfen. Die Hauptarbeit verrichteten die Pflegepersonen, mit denen er auch nach Wochen noch kaum ein Wort gewechselt hatte.
Niemals sah ich Dr. Horak eine wirklich ärztliche Tätigkeit ausführen. Manchmal beschlich mich die Vermutung, er wäre vielleicht gar kein Arzt, sondern würde sich nur als solcher ausgeben. Gelegentlich hörte man Berichte in den Medien von Leuten, die sich jahrelang als Arzt ausgaben, jedoch weder ein Medizinstudium absolviert hatten noch über eine ärztliche Zulassung verfügten.
Von anderen Ärzten, die bei uns arbeiteten, erfuhr ich, dass keiner der Mediziner bei seiner Einstellung in unsere Klinik einen schriftlichen Nachweis seiner akademischen Ausbildung hatte vorlegen müssen. Wahrscheinlich genügte es, zu sagen: „Ich bin Arzt und interessiere mich für die vakante Stelle.“ Auf Grund der Schwierigkeiten, geeignete Mediziner zu finden, war man von Seiten der Geschäftsleitung diesbezüglich wohl nicht mehr wählerisch.
Dr. Horak nützte seine glückliche Lage in vollen Zügen aus. Wenn er nicht gähnend und gelangweilt am Schreibtisch lümmelte, surfte er im Internet oder verbrachte den ganzen Tag schlafend auf der Couch im Besprechungszimmer. Generell ließen wir ihn gewähren, denn medizinische Unterstützung konnte von ihm sowieso keine erwartet werden. Von der Geschäftsleitung kam die Aussage, wir sollten froh sein, dass wir überhaupt die Arztstelle noch besetzen konnten und man wolle keine Klagen bezüglich der mangelnden Qualifikation dieses neuen Arztes hören.
Einzelne Patienten fragten natürlich schon nach. „Was ist denn das für ein arroganter Schnösel? Der meint wohl, er sei etwas Besseres! Den frag ich schon gar nichts, der kennt sich sowieso nicht aus!“ Solche und ähnliche Kommentare hörte man ständig von den Patienten. Natürlich verstand es sich von selbst, dass wir als Pflegepersonen diese Anmerkungen überhören mussten, auch wenn wir in Gedanken den Patienten Recht gaben.
Unter Berücksichtigung der dreimonatigen Kündigungsfrist sollte mein letzter Arbeitstag Ende September sein, so war es möglich, dass alle Kolleginnen und Kollegen den gewünschten Sommerurlaub noch konsumieren konnten.
Den Patienten beabsichtigte ich meinen Entschluss, die Klinik zu verlassen, erst im September mitzuteilen, weil ich allzu emotionale Abschiede vermeiden wollte. Nachdem ich manche Patienten schon seit zwanzig Jahren gut kannte und durch die Zeit ihrer langen und schwerwiegenden Erkrankung betreut und begleitet hatte, waren sie mir ziemlich ans Herz gewachsen. Viele von ihnen kamen mir vor wie gute Freunde und ich dachte schon mit Wehmut daran, mich endgültig von ihnen trennen zu müssen.
Es war ein heißer Tag im Juli und ich kam vormittags zum Dienst. Da derzeit einige Kolleginnen und Kollegen in Urlaub waren, arbeitete ich nun vermehrt bei den Patienten, um die Personalengpässe in dieser Zeit zu kompensieren. Mein Dienst sollte an diesem brütend heißen Sommertag aber nur bis 17 Uhr dauern, denn ich wollte auch einmal früher nach Hause kommen.
Als ich den Behandlungssaal betrat, bemerkte ich Dr. Horak, wie er gerade wieder einmal lustlos und fast schon auf der Schreibtischplatte liegend, einige tschechische Seiten im Internet studierte. Rund um ihn herrschte hektisches Treiben. Einige Patienten beendeten gerade ihre Therapie und verließen den Behandlungsraum, andere trafen bereits zur Nachmittagstherapie ein.
Eine ältere Frau war kollabiert und die beiden anwesenden Krankenschwestern bemühten sich, die kaltschweißige und blasse Patientin auf einer Liege zu platzieren. Das Telefon läutete und im Gang der Klinik wartete ein Lieferant schon ungeduldig auf eine Unterschrift, weil er leider zu höchst ungünstiger Zeit einen riesigen Berg von Schachteln mit Medizinprodukten, die in seinem LKW lagerten, abliefern sollte. Ein anderer Patient fragte noch schnell nach einem Rezept, da er die Medikamente heute dringend brauchte und Dr. Horak brummte genervt: „Warten Sie draußen, ich habe jetzt keine Zeit!“ Eine ältere gehbehinderte Dame musste zu ihrem Transporttaxi hinausbegleitet werden, damit sie dort sicher ankam und nicht stolperte. Ein achtzigjähriger Mann saß in einem Rollstuhl und fragte schon ziemlich ungehalten: „Wie lange muss ich denn noch auf mein EKG warten?“
Es handelte sich mal wieder um einen ziemlich hektischen Vormittag und so war ich, kaum in den Dienst gekommen, wie die anderen Krankenschwestern, vollauf beschäftigt.
Doch all die Hast um ihn herum schien Dr. Horak nicht im Geringsten zu betreffen oder zu stören. Als würde ihn das alles nichts angehen, betätigte er fast wie automatisch die Tasten des Computers, um nun die nächste Runde seines inzwischen gestarteten Computerspiels fortzusetzen.
Eilig rannte ich am Schreibtisch vorbei. Ich musste noch dringend die Blutdruckwerte einer Patientin aufschreiben und als ich den Kugelschreiber neben Dr. Horak erblickte, fragte ich knapp: „Kann ich den schnell haben?“ Schon war ich weitergelaufen und Dr. Horak meinte: „Ja, aber nur kurz, den will ich wieder haben.“ Ich dachte: „Macht der zur Abwechslung auch mal einen Scherz?“ Der Kugelschreiber war ein billiges Werbegeschenk einer Pharmafirma und konnte von uns allen genutzt werden. Neben Dr. Horak stand ein Glas mit noch mindestens zehn weiteren dieser Werbe-Kugelschreiber auf dem Schreibtisch.
Nur wenige Augenblicke später rief Dr. Horak schon ziemlich ungehalten zu mir herüber: „Bring sofort den Kugelschreiber zurück, ich will ihn jetzt auf der Stelle wiederhaben!“ Sein ungeduldiger Militärton, der mir galt, hallte durch den gesamten Raum. Da ich gerade mit einer Patientin beschäftigt war und nicht weg konnte, entgegnete ich ihm: „Nimm doch einen der anderen Kugelschreiber, die neben dir im Glas stehen. Ich kann hier gerade nicht weg.“
Zornig schrie Dr. Horak nun zu mir herüber: „Bring mir jetzt sofort den Kugelschreiber zurück!“ Nein, das konnte wohl nicht wahr sein! Er behandelte mich geradezu wie einen Hund. Da langweilte sich dieser Kerl am Schreibtisch und sah die Arbeit nicht, schrie aber quer durch den Behandlungsraum wegen eines Kugelschreibers. Einige Patienten hinter mir murmelten: „Was hat denn der? Der spinnt wohl!“
Da ich die betagte, gehbehinderte Dame nicht loslassen konnte und es für mich das Wichtigste war, sie zuerst zu versorgen, führte ich meine Arbeit zu Ende.
Anschließend brachte ich ihm kommentarlos den Kugelschreiber an den Schreibtisch. Es befanden sich noch einige Patienten im Raum, als er mich gleich daraufhin anbrüllte: „Ich sag dir eines: In Zukunft hast du keinen Kugelschreiber mehr vom Schreibtisch zu nehmen! Und wenn ich sage, du kommst her, dann hast du auf der Stelle herzukommen und das auszuführen, was ich von dir verlange! Ist das klar?“ Ich war entsetzt über diesen Befehlston und meinte: „Wie kann man nur wegen eines Werbekugelschreibers, der uns allen gehört, so einen Aufstand machen?“ Zornig schnauzte er zurück: „Hast du das noch nicht kapiert? Wenn ich dir sage, was du zu tun hast, dann wirst du es beim nächsten Mal unverzüglich durchführen! Ich werde es dir jetzt nicht noch einmal sagen!“
Innerlich bebte ich vor Entsetzen und Wut. In den letzten Jahren hatte ich mir schon ziemlich viel gefallen lassen müssen, aber jetzt war das Maß voll und ich konnte einfach keine Grobheiten und Beleidigungen mehr ertragen. Was meinte dieser dahergelaufene Frechling, der hier absolut nichts leistete, eigentlich? Bevor ich das Gefühl hatte, zu explodieren und womöglich noch irgendetwas sagen würde, was man mir anschließend vorwerfen konnte, verließ ich schnell, aber schweigend, den Raum. Ich eilte in mein Büro und verschloss hinter mir die Türe. In den nächsten Minuten würden alle Nachmittagspatienten eintreffen und es gab gleich jede Menge zu tun. Da war es nicht möglich, mich einfach von der Arbeit abzusetzen und meine Kolleginnen im Stich zu lassen. Ich atmete tief durch und versuchte, das sich nun ankündigende Weinen zu unterdrücken. Es war jetzt vollkommen unmöglich, einfach in Tränen auszubrechen. Mein einziger Gedanke war: „Reiß dich jetzt zusammen, dieser Arzt ist ein Trottel und du darfst das, was er gesagt hat und vor allem, wie er es gesagt hat, nicht ernst nehmen.“ Mein Atem ging immer schneller und das Gefühl, panisch nach Luft ringen zu müssen, wurde immer stärker. Der Puls begann zu rasen. Obwohl ich es verhindern wollte, merkte ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Ich musste weinen und hatte das Gefühl, nie mehr damit aufhören zu können. Immer wieder wusch ich mein Gesicht mit kaltem Wasser und schaute in den Spiegel. Mit diesen rot-verweinten Augen konnte ich keinesfalls bei den Patienten erscheinen. Ich schluckte immer wieder, nahm mir fest vor, jetzt mit dem Weinen aufzuhören und versuchte verzweifelt mittels Wimperntusche und Makeup die Rötungen in meinem Gesicht zu kaschieren. Dann ging ich wieder nach unten. Im Behandlungsraum herrschte eine seltsame Stille und Anspannung. Die Patienten saßen schon auf ihren Plätzen und warteten auf den Beginn ihrer Therapie. Keine der Schwestern sprach ein Wort und Dr. Horak saß am Schreibtisch vor dem Computer und surfte im Internet, als wäre nichts geschehen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und begrüßte die Patienten lächelnd. Innerlich war es mir immer noch zum Weinen zumute, aber keinesfalls durfte irgendjemand etwas davon merken.
Freundlich, als wäre ich bestens gelaunt, fragte ich die Patientin nach ihrem Befinden. Wir plauderten einige belanglose Sätze und ich dachte dabei ständig: „Halt jetzt durch, lass dir bloß nichts anmerken, die Patienten dürfen auf keinen Fall merken, dass etwas nicht stimmt mit dir, dass es dir schlecht geht.“ Mehrmals atmete ich tief durch, versuchte mein Pulsrasen durch langsames, bewusstes Atmen zu beruhigen, dann spürte ich immer mehr ein Gefühl der Enge in meinem Brustkorb. Ich fing an zu schluchzen und plötzlich schossen wieder die Tränen in meine Augen. Jetzt war es nicht mehr zu verhindern. Damit ich die aufsteigenden Tränen verbergen konnte, wendete ich mich ein wenig von der Patientin ab und entschuldigte mich. Schließlich verließ ich den Raum und rannte wieder in mein Büro. Es war unmöglich, ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen. Die Tränen flossen wie reißende Bäche über meine Wangen, ein nicht enden wollendes Schluchzen setzte ein und ich bekam kaum Luft. Ich wusste, dass meine Kolleginnen nun wirklich sehr viel zu tun hatten und fand es unverantwortlich von mir, dass ich sie jetzt nicht unterstützte. Immer wieder redete ich mir in Gedanken zu: „Es ist nicht so schlimm, es gibt keinen Grund, in Tränen auszubrechen. Das muss ich doch aushalten, morgen denke ich vielleicht schon gar nicht mehr an dieses unschöne Ereignis.“ Aber alle noch so hoffnungsvoll positiv formulierten Gedanken halfen nichts. Ich weinte und weinte.
Noch niemals zuvor in meinem Leben hatte ich mich so hilflos gefühlt. Eigentlich war ich früher immer stark und belastbar gewesen, ich konnte schon einiges aushalten und hatte mein Leben stets gut im Griff. Auch wenn es gelegentlich schwierige Dinge zu bewältigen gab, so konnte ich immer alle Hürden meistern. Doch nun kamen mir ständig, auch ohne ersichtlichen Grund, die Tränen und ich konnte nichts dagegen tun. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass in meinem Leben einfach nichts mehr stimmte.
Nach circa zehn Minuten rief ich meine Kollegin Barbara zu Hause an. Schon beim ersten Satz, den ich schluchzend zu ihr sagte, wusste sie wohl, in welcher Verfassung ich war. „Mein Gott, plagt man dich noch, jetzt wo du sowieso schon gekündigt hast?“
Verzweifelt schilderte ich Barbara am Telefon in kurzen Sätzen, was passiert war und bat sie, mich hier abzulösen. „Ich weiß nicht warum, aber ich schaffe es heute einfach nicht mehr, mich zusammenzureißen. Es ist mir unmöglich, diesen Dienst heute Nachmittag zu bewältigen. Könntest du nicht für mich einspringen? Bitte!“
Barbara wohnte in der Nähe der Klinik und versprach, sofort für mich den Dienst zu übernehmen. Ich war so froh und dankte ihr immer wieder. „Das ist doch selbstverständlich, geh nach Hause und denk nicht mehr an diesen fürchterlichen Kerl, der benimmt sich doch ständig daneben.“ Damit meinte sie Dr. Horak, mit dem sie ebenfalls in letzter Zeit schon öfters „zusammengekracht“ war.
Auf meine Kollegin Barbara konnte ich mich stets verlassen. Sie arbeitete flink und zuverlässig, war freundlich und einfühlsam mit den Patienten, und wenn Personal knapp war, versuchte sie meist in ihrem privaten Bereich die Zeit irgendwie „freizuschaufeln“, um im Notfall einen Dienst übernehmen zu können.
Obwohl ich wusste, dass Barbara bald kommen würde, konnte ich nicht mehr so lange warten. Ohne meine Kolleginnen zu informieren, zog ich unter Tränen meine Zivilkleidung an und setzte mich ins Auto. Noch nie zuvor hatte ich mich einfach so vom Arbeitsplatz entfernt, wenn ich zum Dienst eingeteilt war. So ein Verhalten passte normalerweise nicht zu mir, denn mein Pflichtbewusstsein hätte es nie zugelassen.
Jetzt aber spürte ich, dass es sich hier um eine Ausnahmesituation handelte. Eigentlich sollte man sich in so einem labilen, aufgeregten Zustand nicht hinter das Steuer setzen, aber alles was ich wollte war, dieser unangenehmen Lage zu entfliehen. Vielleicht würde es mir zu Hause gelingen, ein wenig zur Ruhe zu kommen? Sicher wäre morgen alles wieder in Ordnung, so hoffte ich. Obwohl ich wegen meiner Tränen den Straßenverkehr nur noch verschwommen wahrnahm und auch geistig total abwesend war, kam ich schließlich doch unfallfrei zu Hause an. Erschöpft warf ich mich dort auf mein Bett und bekam einen neuerlichen Weinkrampf. Was war nur mit mir geschehen? Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich mich so unendlich ausgelaugt und unfassbar müde gefühlt, aber gleichzeitig auch aufgewühlt und zutiefst verletzt, sodass ich mich überhaupt nicht mehr beruhigen konnte. Vergeblich versuchte ich mich mit anderen Gedanken abzulenken. Das Weinen hörte auch nach fast zwei Stunden nicht auf. Im Gegenteil, es wurde von einem zunehmend hartnäckigen Schluchzen begleitet, das ich ebenfalls nicht abstellen konnte und das zu einem quälenden Schmerz in meinem Brustkorb führte.
Mittlerweile befand ich mich seelisch bereits am Tiefpunkt. Alles wirkte nur noch bedrohlich und belastend für mich. So beschloss ich, ein warmes Bad zu nehmen. Vielleicht würde mir das erst kürzlich gekaufte Wellness-Schaumbad helfen? Das Etikett auf der Flasche versprach stimmungsaufhellende und belebende Wirkung durch stimulierende Inhaltsstoffe von Limette und Rosmarin. Einige Zeit in einem wohlig warmen Bad zu liegen, konnte sich auf mein Gemüt sicherlich nur positiv auswirken. So saß ich schließlich weinend und schluchzend im warmen Wasser und wartete vergeblich auf den versprochenen positiven Effekt. Mein unerträglicher Zustand schien immer schlimmer zu werden.
Es hatte alles keinen Sinn. Da die Ordination meines Hausarztes an diesem Tag bis zum späten Nachmittag geöffnet war, beschloss ich ihn aufzusuchen und um Rat zu fragen. Obwohl es schwierig für mich war, in diesem innerlich so aufgewühlten Zustand mein Auto zu lenken, traf ich dann doch, immer noch weinend und schluchzend, vor der Ordination ein.
Vom Parkplatz aus rief ich per Handy die Sprechstundenhilfe meines Arztes an und schilderte ihr meine Situation. Ich schämte mich, in meinem Zustand das Wartezimmer zu betreten, befürchtete ich doch, dort von wartenden Patienten womöglich wegen meiner roten, verweinten Augen und meines ständigen Schluchzens angestarrt zu werden. Das konnte ich jetzt nicht auch noch ertragen. So bat ich die Arzthelferin, sie möge mich doch auf meinem Handy anrufen, wenn ich an die Reihe kam. Ich würde solange hier in meinem Auto warten. Sie reagierte sehr verständnisvoll und nach circa einer halben Stunde wurde ich von ihr angerufen.
Der Hausarzt geleitete mich sofort über einen Nebenraum in die Praxisräume, sodass ich niemandem mehr begegnen musste. Auch seine Ehefrau, ebenfalls Ärztin, begrüßte mich. Beide sprachen eine längere Zeit sehr einfühlsam mit mir. Sie kannten die schwierige Situation an meinem Arbeitsplatz, da ich mir ja schon vor einem Jahr wegen der stets steigenden Anforderungen ein Antidepressivum bei ihnen besorgt hatte.
Mein Hausarzt meinte, nachdem ich ihm den Vorfall bei der Arbeit und meine schon seit Stunden andauernde Reaktion darauf schilderte: „Du hast ein Burnout und du darfst dich ab jetzt ganz sicherlich nicht mehr solch verletzenden Situationen aussetzen. Das tut dir nicht gut und ist auch wirklich unzumutbar. So etwas muss man sich nicht gefallen lassen. Du solltest auf keinen Fall dorthin zurückkehren.“ Er meinte noch, es wäre wichtig, dass ich Abstand zu diesem Arbeitsplatz gewinnen würde und mich dringend von dieser schon viel zu lang andauernden Überlastung erholen müsse. Keiner würde „danke“ zu mir sagen, wenn ich nun auf Gedeih und Verderb meine Kündigungsfrist einhalten würde. Meine Gesundheit sei nun wichtiger.
Obwohl ich mich hundeelend fühlte, erinnerte ich mich sofort an die diversen noch zu bearbeitenden Aufgaben, die in meinem Büro auf dem Schreibtisch lagen. Es machte mir große Angst, all diese Dinge unerledigt zurückzulassen. Unzählige Angelegenheiten duldeten keinen Aufschub. Vielleicht sollte ich doch in den nächsten Tagen noch einmal in mein Büro zurückkehren, um gewisse Dinge zu ordnen und zu überarbeiten? Ich war wie verbissen in diesen Job und konnte überhaupt nicht loslassen.
Mein Hausarzt empfahl mir, alle Gedanken an die Arbeit beiseite zu schieben und mich ab jetzt nur noch um meine eigenen Bedürfnisse und mein persönliches Wohlbefinden, sprich – um meine Gesundheit – zu kümmern. Das war leichter gesagt, als getan. Ich erhielt von ihm eine Krankmeldung für die nächsten drei Wochen. „Wenn du im Krankenstand bist, darfst du gar nicht arbeiten. Also akzeptiere es und geh besser nicht mehr dorthin!“
Demnächst sollte ich zudem einen Termin bei einem Psychiater vereinbaren, denn um eine längerfristige Krankmeldung zu erhalten, müsse vorerst noch ein Gutachten eines Facharztes erstellt werden.
Als ich nach einer Woche dort bereits einen Termin bekam, wurde mein Zustand vom Facharzt für Psychiatrie bestätigt. Mit anderen Worten, er teilte mir mit, dass es sich bei mir um eine „Depression und einen chronischen Erschöpfungszustand infolge beruflicher Überbelastung“ handelte, doch die Diagnose „Depression“ nahm ich nur widerwillig zur Kenntnis.
„Burnout“ ist zwar keine anerkannte Diagnose, jedoch eine etwas salonfähigere Bezeichnung für diesen Zustand. Man wird dabei nicht gleich in eine „psychiatrische Ecke“ gedrängt. Auch die Bezeichnung „Psychische Erkrankung“ wollte ich überhaupt nicht hören. Nur zu schnell urteilten die Mitmenschen womöglich negativ darüber und man wurde, vor allem, wenn man schon einmal einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik durchlaufen hatte, lebenslang in eine abschätzige „Schublade“ gesteckt und in der Gesellschaft abgestempelt. Die Furcht davor, nicht mehr als vollwertiger Mensch anerkannt zu werden, bewirkte, dass ich mich auch sofort innerlich dagegen wehrte, mich einer psychologischen oder psychiatrischen Therapie zu unterziehen. Ich und depressiv? Da sollte man doch erst mal die Mitmenschen therapieren, die andere mit ihrem grässlichen Verhalten fertig machten und tyrannisierten, so grollte ich in meinem Inneren.
Meine Krankmeldung wurde vom Facharzt bis auf weiteres verlängert und so musste ich nicht mehr an meinen Arbeitsplatz zurückkehren, was für mich eine unvorstellbare Erleichterung bedeutete.
Der Psychiater gab mir auch sogleich einen neuerlichen Termin zur Nachkontrolle und teilte mir mit, dass ich in nächster Zeit regelmäßig zu ihm kommen sollte. Darüber war ich nun überhaupt nicht erfreut. Als ich ihm mitteilte, dass ich nicht ständig in Behandlung sein wolle, weil ich mich sonst so krank fühlen würde, erwiderte er: „Sie sind ja auch krank!“
Es war kaum zu glauben. In meinem Beruf wurde ich seit Jahren mit Krankheit, Sterben und Tod konfrontiert, aber meine eigene Erkrankung wollte ich nun absolut nicht wahrhaben. Ich selbst sah meinen Zustand eher als kleine vorübergehende Unpässlichkeit.
Die Diagnose kam mir wie eine zusätzliche Bestrafung vor, zu all den Beschwerlichkeiten, die ich in den letzten Jahren schon ertragen hatte. Bei einem Herzinfarkt oder einem Beinbruch konnte man zumindest in etwa abschätzen, wie die Prognose für die Zukunft aussah und wie lange die Erkrankung ungefähr dauern würde. Doch eine Depression oder eine chronische Erschöpfung hörte sich nicht nur ziemlich unschön an, man konnte auch nicht erahnen, ob ein Ende dieser Erkrankung vorhersehbar war.
Als ich mich in den nächsten Tagen etwas gefasst hatte, beschloss ich, mich bei Klaus zu melden und ihm meine jetzige Lage zu erklären. Auch er sollte sich baldmöglichst auf die neue Situation einstellen können, damit er meine Stelle mit einer Nachfolge besetzen konnte.
Wenige Tage später, nachdem ich mit Klaus einen Termin vereinbart hatte, betrat ich sein Büro. Er begrüßte mich überaus freundlich, bot mir höflich einen Platz an und sprach sanft und liebenswürdig zu mir. Ich wünschte mir insgeheim, dass er sich doch schon früher so galant benommen hätte. Die Zusammenarbeit wäre dann viel angenehmer gewesen. Aber jetzt war es zu spät für solche Höflichkeiten, zumal ich sowieso sicher war, dass Klaus im Arbeitsalltag nur allzu schnell wieder in sein gewohntes, übellauniges Muster verfallen würde.
Als ich ihm mitteilte, dass ich nun für eine ziemlich lange Zeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten konnte, reagierte er schon ziemlich überrascht. Er hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass ich meine dreimonatige Kündigungsfrist nur mehr im Krankenstand absolvierte. Auf seine vorsichtige Nachfrage, an welcher Krankheit ich denn nun leiden würde, konnte ich mich nicht zum Wort „Depression“ durchringen und sagte: „Burnout“. Eigentlich ging es ihn ja überhaupt nichts an. Keinesfalls war es meine Pflicht, ihm genauere Einzelheiten über die Art meiner Erkrankung mitzuteilen. Doch sollte er schon wissen, warum er nun plötzlich von heute auf morgen nicht mehr mit mir rechnen konnte.