Читать книгу Sexy Zeiten - 1968 etc. - Stefan Koenig - Страница 26
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ОглавлениеFreitagabends, Anfang September 1966, besuchten Hanna und ich den Club Voltaire. Das war ein legendärer Club für die aufrührerische Jugend. Politik, Kultur, Literaturkritik, Musik, Zusammensein, Diskussionen – das war das tägliche Programm rund um die Woche. Dort verkehrten aber auch junge Anwälte, kritische Banker und Journalisten. Wir waren mit sechzehn Jahren zweifellos die Jüngsten, aber keiner fragte nach unserem Alter. Wenn man die Tür reinkam, war linker Hand der Tresen, hinter dem mit wachen Augen Else zugange war und Bier zapfte, Wein einschenkte oder Limo und Wasser über die Theke reichte. Brezeln hingen an einem Hirschgeweih, und Soleier lagen in einem Glas, daneben ein großer Bottich Senf.
Else schmierte uns auch Schmalz-Brote, die sie mit amerikanischem Sound in der Flötenstimme „Sandwich“ nannte. Das Licht war etwas schummrig, doch vorne in Richtung der kleinen Bühne wurde es heller. Hier fanden Streitgespräche, Lyrikvorträge, Filmvorführungen und Bildungsabende statt. Heute Abend waren auch einige stadtbekannte Gammler und Provos hier. Provos waren die politisierte Ausgabe von Hippies und Gammlern, hatten ihren Ursprung in Amsterdam und wollten auf witzig-pazifistische Weise die bürgerliche Gesellschaft an ihren Schwachpunkten packen und provozieren.
Ich kannte die Leutchen vom Marshallbrunnen und von meinem ersten Sit-in vor dem amerikanischen Generalkonsulat wegen des Vietnamkrieges. Thema des Abends war „Sex und Revolution“, Referent war der Student Günter Amendt vom SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Er fragte an jenem Abend, was bei uns zu Hause in puncto Sex alles verboten sei. Es folgte eine heiße Diskussion.
Einer aus unserer Clique, Kai, zwei Jahre älter als ich, antwortete ihm: „Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Eigentlich gab es bei uns in der Familie keine direkten sexuellen Verbote, als ich jünger war. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter oder mein Vater gesagt hätten, tu die Hand vom Sack oder so was. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. Nur wenn andere Erwachsene dabei waren, wurde darauf geachtet, dass ich mir nicht zwischen die Beine gegriffen habe.“
Wir lachten, und Kai, der mit achtzehn in meinen Augen schon erwachsen war, obwohl die Mündigkeitsgrenze damals noch bei einundzwanzig Jahren lag, erzählte weiter: „Mit den Verboten ging es eigentlich erst los, als ich älter wurde. Sie haben mir auch dann nicht gesagt, ich soll nicht onanieren oder keine Mädchen küssen. Die Verbote liefen über den Umweg der Ausgangssperre und derlei Sachen. Sie hätten nie gesagt, dass ich die Finger von einem Mädchen lassen solle, sie haben einfach nur gesagt, ich habe um die und die Uhrzeit zu Hause zu sein, oder sie ließen mich erst gar nicht weg. Auf die Art haben sie Einfluss auf mein Sexualleben genommen. Nach Hause konnte ich sowieso kein Mädchen mitbringen.“
Ein Pärchen, er sechsundzwanzig, sie dreiundzwanzig Jahre, erzählten, dass ihre Eltern ihre Heirat mit allen Mitteln, bis hin zum Erbentzug, verhindern wollten. Er war Landwirt an Frankfurts Stadtrandsiedlung Bonames und sie Frisörin. Vom Abend im Club Voltaire hatten sie von einer Kundin erfahren.
„Alle anderen dürfen schon viel früher heiraten, nämlich mit einundzwanzig und achtzehn Jahren. Was sollen wir da bloß machen?“
Da stand eine der älteren Mädels auf, ich schätzte sie damals auf halbtot, das bedeutete, so um die Dreißig, und sie sagte: „Wenn ihr euch liebt und zusammenbleiben und Kinder haben wollt, dann macht ein Kind, und schon kriegt ihr den Freifahrtschein zur Hochzeit. Denn ein uneheliches Kind wird eure Verwandtschaft als das schlimmere Übel sehen!“
„Mein Vater sagt, dass er einer Mischehe nicht zustimmen könne, weil ich katholisch und Fritz evangelisch ist“, meinte das Mädel.
„Die Protestanten gestatten Mischehen, die Katholiken nicht. Dann lasst ihr euch halt nur standesamtlich trauen“, sagte die uralte Dreißigjährige, die vielleicht auch nur Mitte Zwanzig war. „Scheiß auf das heuchlerische Kirchenpack! Eure Liebe ist das Wichtigste. Nichts weiter.“
Es ging dann noch darum, ob sie sich heimlich ver- loben sollten und ob es nötig sei, dass ihr Freund bei ihrem Vater um die Hand seiner Tochter anhielt. „Diese verstaubten Rituale sollten langsam der Geschichte angehören“, sagte die Mittzwanzigerin. Ob Mitte Zwanzig oder gar schon Dreißig – so schrecklich alt wollten wir Jungen nicht unbedingt werden. Erst viel später erkannten wir, dass Teile der älteren Generationen genau wie wir tickten und ebenso für etwas ganz und gar Neues eintraten.
(Zwei Jahre später begegnete ich dem „Misch-Ehepärchen“ an einem herbstlichen Feiertag auf der Zeil. Beide waren glücklich und schoben einen Kinderwagen vor sich her. Der Schachzug war geglückt. Sie hatten den Heiratssegen ihrer popligen Verwandtschaft erhalten. Das waren wahrhaft schwarz-braune Zeiten, gelebter Konservatismus, den wir Jugendlichen aufbrechen mussten!)
Dann erzählte ich an jenem Abend im Club, wie umständlich es war, wenn Hanna und ich uns einmal über Nacht treffen wollten. Nun hagelte es Tipps. Wir erfuhren von leerstehenden Hütten, tollen Ecken und Verstecken am Mainufer und in Frankfurts Parks.
Irgendwann am Abend ging es um Nacktheit, Scham, Hygiene und andere Dinge, die damals tatsächlich noch der Rede wert waren. Und das, obwohl hier keine Pubertierenden, sondern Studentinnen, Studenten, Lehrlinge, junge Fabrikarbeiterinnen und Jungarbeiter, Gammler, Provos, Beatniks, Mitglieder der Naturfreundjugend, der Jungsozialisten oder Jungdemokraten diskutierten. Sie alle waren zwischen achtzehn und sechsundzwanzig Jahre alt. Von den älteren Anwälten und Journalisten, die hier ihre Erfahrungen austauschten, mal abgesehen. Sie saßen bei Else am Holz-Tresen, vor sich den billigen Lambrusco oder den original italienischen Chianti, und scherten sich keinen Deut um unsere lächerliche Hygiene-Diskussion.
Zu dieser Zeit war von Amerika bereits die Duftspray-Invasion über das Land gezogen und hatte die deutsche Familie mit Deo-Rollern überrollt. Die deutsche „Bac“-Familie bekämpfte in einer Art Reinlichkeitswahn jeglichen Geruch.
Amendt erklärte uns an jenem Abend, welche Auswirkungen dies habe: „Ob wir die Gerüche unseres Körpers mit Wohlbehagen empfinden oder voller Ekel, hängt sehr vom Erziehungsstil des Elternhauses ab. Ekel wird uns anerzogen genauso wie das sogenannte Schamgefühl. Wo der General kommandiert und Ajax wirbelt, wo Bac duftet und Lenor das Gewissen bearbeitet, haben Kinder und Jugendliche wenig Chancen, sich mit ihren Gerüchen wohlzufühlen. Alles ist nur bäh und ekelig.“
Ich saß neben dem Chef-Provo. Er ließ sich „Spieler“ nennen, und er klatschte jetzt frenetisch und jauchzte. „Spieler“ war der Spitzname unseres „antiautoritären Anführers“, des gammligen Frankfurter Oberprovos. Er stammte aus Nürnberg, war schon fünfundzwanzig Jahre alt, für uns also wirklich alt, klein gebaut mit kantigem Gesicht, relativ kurzen zotteligen Haaren und von Beruf Koch. Und ihn zeichnete ein besonderer Gestank aus. Ich glaube, er hat sich aus Prinzip nie gewaschen. An jenem Abend roch er derart penetrant, dass Hanna davon übel wurde. In der Pause gingen wir zum Luft holen schleunigst nach draußen, und sie flüsterte mir ins Ohr, dass sie tausend Mal lieber den Bac-Duft ertrage als den fürchterlichen Gestank des Frankfurter Chef-Provos.