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Ob Otto auch so ein Typ vom uralten Schlag gewesen war? Weil er mein Vater war, wollte oder konnte ich mir nicht vorstellen, dass er im Krieg einer von den Schwei-nen gewesen war. Und noch etwas konnte ich mir absolut nicht vorstellen. Da klärte mich aber sein Nachttischschränkchen auf, in dessen Schublade ich selbstredend noch nie geschaut hatte. Aber eines Tages, als die Eltern unterwegs waren, suchte ich für meinen unerlaubten, inzwischen jedoch schon halbgeduldeten Abendbesuch eine Taschenlampe. Ich hatte mal aufgeschnappt, dass die im Nachtschränkchen von Vater lag. Als ich danach suchte, fand ich drei Büchlein. Das erste trug den Titel DAS KAMASUTRA. Die Kunst der Sinn- lichkeit.

Das Inhaltsverzeichnis las sich auf den ersten Blick wie eine Menükarte aus einem Kochbuch. Da ging es um die Vorbereitung auf die Liebe, das Berühren und Liebkosen, und natürlich ging es um das Küssen. Weiter ging das Menü mit zig Kamasutra-Stellungen, dann den Ananga-Ranga-Stellungen, was mir sehr nach Verarschung klang, dann kam noch die Duftender-Garten-Stellung bevor das Dessert in eine Nachbetrachtung mit dem Titel Vor und nach der Liebe mündete. Das Schönste aber waren zweifellos die Bilder zu den Liebesstellungen.

Wenn die erregenden Fotos nicht gewesen wären, hätte ich glatt Lyrik aus den Texten gemacht, etwa so:

weit geöffnet ein liebesakt

der in einfacher stellung beginnt der mann liegt oben

beide partner strecken die beine aus entwickelt sich oft ganz von selbst zur weit geöffneten stellung

hierbei hebt die frau

die beine und spreizt sie weit

Ein anderes Gedicht, das ich aus dem eindeutig interpretierbaren Kamasutra-Text umgeformt hätte, würde so gehen:

die hoch gerundete stellung

mit zurückgeworfenem kopf

wölbt die frau den rücken

und hebt ihren körper dem partner entgegen

spreizt die beine weit

und bietet zum eindringen einen winkel d

er eine tiefe penetration gestattet

Gestatten, die Dame? Dann gab‘s da noch die Stellung der Gefährtin des Indra zu sehen. Das konnte nur den Gelenkigsten mit weit überdehnten Sehnen gelingen. Die Stellung ist nach Indrani benannt, der schönen, verführerischen Frau des Hindugottes Indra. In den alten vedischen Schriften war er der König der Götter und gleichzeitig der Regen- und Donnergott. Irgendwann später am Abend, Amy und ich hatten uns super befriedigt, kam meine persönliche Götterdämmerung.

Die vielen Götter, denen unsere Vorfahren gedient hatten, hatten also – Erkenntnis Nummer Eins – einen vorgesetzten König, der über ihnen stand und den ganzen Laden managte. Immer diese Ideologie vom notwendigen Chef, dem Leitbullen, vom Käpt’n, der das Schiff schon schaukelt! Selbst Götter brauchten sowas. Erkenntnis Nummer Zwei: Die Götter-Burschen und Götter-Mädels waren menschlichem Vergnügen nachgegangen und hatten göttlichen Sex. Das fand ich köstlich, und schnell schloss sich der Kreis zur Thematik des Orgasmus-Onkels Jack, der etwas über Religion und Sexualität – Geistige Suche und Orgasmus geschrieben hatte. Da war ich aber auf einen ganz schönen Holzweg geraten. Doch das erkannte ich erst später.

Wenn aber selbst Götter es miteinander trieben – mein Gott! – dann trieben es ja auch meine Eltern! Das hatte ich zwar schon einmal in früherer Erkenntnis begriffen, aber doch immer wieder verdrängt. Den Nachweis, mehr Indiz als Beweis, hatte ich gerade gefunden. Erotikbücher im Nachtschrank von Otto. Da fiel mir das erste Mal so eindringlich wie nie zuvor auf, dass meine Eltern wohl auch Sex miteinander hatten, und dass ich ja der lebende Beweis dafür war. Eine ziemlich komische, wenn nicht gar völlig abwegige bis eklige Vorstellung. Meine Eltern doch nicht!

Doch da waren zu allem Überfluss noch zwei andere Bücher. Sie waren zwar unbebildert, konnten vor Gericht jedoch wahrscheinlich als Indizien vorgelegt werden. Das eine hieß Die Geschlechtsliebe von Dr. med. Karl Treffurth und war aus dem Jahr 1939. Inhalt: Die Fortpflanzung. Die Geschlechtskrankheiten. Die Syphilis. Die Auswirkung der Syphilis auf die Nachkommenschaft. Der Tripper. Dann endlich kam Dr. Treffurth zwei ganze Seiten lang trefflich zur Sache: Die Geschlechtsliebe.

Und schon ging es in buntem Reigen weiter mit Das Rauchen. Die Prostitution. Die Ehe. Die Fruchtbarkeit. Die Geburtenbeschränkung. Die Einkinder-Ehe. Konnte ich da­mit wirklich etwas anfangen? Dann noch das Hammer-Schlusswort, in dem es heißt: „Die Rasse, welche der Pest der Geschlechtskrankheiten nicht Herr zu werden vermag, wird eben sterben oder Gesünderen den Platz räumen müssen. (Adolf Hitler)“.

Das andere Buch war von 1963 und von einem gewissen Dr. Jacques Bardet und hatte den vielsagenden Titel Die tiefsten und intimsten Geheimnisse der Liebeserregung und Lustvollendung in der gesunden, glücklichen und harmonischen Ehe.

Am nächsten Morgen saßen wir beim Frühstück, und ich konnte meinen Eltern kaum in die Augen schauen. Diese Sexmonster! Wie immer roch mein Vater nach „4711 Echt Kölnisch Wasser“ und hatte seine vollen Haare mit Pomade geglättet. Mutter trug ein dezentes Parfum und roch das ganze Jahr über nach Maiglöckchen. Vielleicht war das einmal im Angebot gewesen. Denn Angebote waren inzwischen schick geworden. Die moderne Hausfrau orientierte sich bereits an Sommer- und Winterschlussverkäufen und in der Zwischenzeit eben nach allerlei sonderbaren Sonderangeboten.

„Otto, reich mir bitte mal die Butter“, bat Lollo.

„Im Tausch gegen die Hershey’s gerne“, sagte mein Vater.

Mutter hatte uns wieder mal verschiedene Leckereien aus der PX und ihrem Offiziershaushalt mitgebracht. Ich liebte die ausgefallenen Marmeladen und natürlich eine Tube, aus der man weiße Marshmallow-Creme drücken konnte. Wie lecker war das denn! Nicht mal Negerküsse konnten da mithalten. Diese sich dahinziehende weiße Tubenfüllung war der Hit.

Es war total normal, dass die dunkelhäutigen Amis »Neger« hießen. Auch unsere Lehrer sagten tatsächlich »Neger«. Aber einer meiner ehrenamtlichen „Lehrer“, mein aufmüpfiger Pfadfinderführer, hatte mich inzwischen gelehrt, dass die »Neger« es nicht gerne hören, wenn man sie »Neger« nennt. Doch in meinem Kopf und bei meinen Schaumkuss-Bestellungen am Kiosk gab es im Moment dennoch dafür kein anderes Wort als »Negerkuss«.

„Wird Zeit, dass wir uns auch einen Wagen anschaffen“, sagte Mutter. „Ewig Bahn- und Tramfahren, das muss doch nicht sein. Andere fahren mal ihre Verwandten in Buxtehude besuchen. Aber du kannst mit deinem Motorrad doch keine fünf Personen irgendwo-hin mitnehmen! Außerdem ist das Motorradfahren viel zu gefährlich bei all dem Verkehr!“

Der Verkehr hatte tatsächlich rapide zugenommen. Gab es 1950 nur 2.128 Autobahnkilometer, so hatten sie sich bis 1970 bereits mit 4.110 Kilometer knapp verdoppelt. Entsprechend war die Anzahl der Automobile gestiegen. 1960 gab es rund 4,5 Millionen PKW, fünf Jahre später schon fast die doppelte Anzahl, und 1970 hatte sich die Zahl der Autos auf 14 Millionen verdreifacht. Otto war immer öfter nachhause gekommen und hatte über die rücksichtslosen Autofahrer gewettert. Insbesondere fielen ihm wiederholt die „Vilbeler Was- serbauern“ auf, das waren die Klein-LKW, die das Sprudelwasser und andere Mineralwässer aus den Bad Vilbeler Quellen an die Frankfurter Läden, aber auch an Privathaushalte lieferten.

Mutter ließ nicht locker: „Selbst die Maiers haben jetzt ein Auto!“

Die Maiers waren Aussiedler, so nannte man die Zuwanderer mit deutschen Wurzeln, die aus einem Staat des Ostblocks im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens übergesiedelt waren. Wir kannten die Maiers vom Sportverein. Sie waren vor sieben Jahren bettelarm aus Rumänien in Hessen angekommen. Durch irgendwelche staatlichen Vergünstigungen und Zuschüsse hatten sie es in kürzester Zeit zu einem Häuschen in einem Frankfurter Ortsteil und nun auch zu einem VW-Käfer gebracht. Einen Fernsehapparat hatten sie vor uns. Otto sagte dazu nur: „Ja, ja, die Flichtlinge, denen geht’s gut! Flichtling müsste man sein!“

Günter war aus Berlin zu Besuch. Er sagte: „Geht es uns etwa nicht gut? So einen Beruf wie du hast, da lecken sich andere ja die …“

Vater unterbrach ihn. „Streich dir nicht die Marmelade so dick auf‘s Brötchen. Du wirst immer dicker!“

Eigentlich hatte Günter Recht. Vater hatte einen komfortablen Beamten-Status bei Väterchen Staat mit vielen großen und kleinen Freiheiten. Mit einem gesicherten Monatsgehalt inklusive regelmäßiger Gehalts- steigerungen bloß durchs Älterwerden, inklusive fetter Pension, wenn’s mal soweit war. Er konnte sich seine Arbeitszeit einteilen und statt Baustellen auch mal den Sportplatz besuchen. Die ausgelassenen Baustellen graste er dann am nächsten Tag im Schnelldurchgang auf seinem Motorrad ab.

„Also, das Motorrad passt nicht mehr in die Zeit!“, rief Mutter aus. Mit ihrer thematischen Beharrlichkeit war das Frühstück gelaufen. Vater war leidenschaftlicher Motorradfahrer und würde sich niemals freiwillig von seiner Miele, Baujahr 1959, trennen. Die Firma Miele stellte in den Fünfziger Jahren nicht nur Waschmaschinen, Staubsauger und Geschirrspülmaschinen her, sondern eben auch Mopeds und Motorräder. Das war deutsche Markenqualität nach Ottos Geschmack. Niemals hätte er ein ausländisches Technik-Produkt gekauft. Ich glaube, da steckte noch eine gute Portion von althergebrachtem Nationalismus drin. Andere sagen, das alles sei reine Vertrauenssache. Egal.

Sexy Zeiten - 1968 etc.

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