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Als Nachzügler in der Familie hatte ich recht alte Eltern. Meine Mutter meinte, dass ich mit meinen verrückten Weltverbesserungs-Ideen und pubertären Anwandlungen irgendwann mal ihr Sargnagel sei. Um sie zu beruhigen, schenkte ich ihr zu ihrem 50. Geburtstag ein handgeschriebenes Gedichtbändchen und einen Gutschein für vier Wochen Unkraut im Vorgarten zupfen. Das Gedichtbändchen begann mit meinem Erstling in Sachen poetischer Mutter-Sohn-Beziehung, und das natürlich in revolutionärer Kleinschreibung:

oh liebe! liebe mutter! ich rufe es in der tram

ich schreibe es mit farbe auf die bahn ich werbe mit flugblättern in der stadt ich rufe es in die kinovorschau hinein ich lass vom zeppelin

beschriftete luftballons aufsteigen ich besetze fernsehstationen

und verkünde es in der tagesschau

Sie liebt mich

Sie tut alles für mich

ich schreibe es in schulaufsätzen ich rechne es in mathe vor

ich behaupte es sei ein chemischer beweis

ich setze einen physikversuch beim pauker durch ich lese es des nachts mit geschlossenen augen

Sie liebt mich

Sie tut alles für mich

ich spüre es bei ihrer umarmung ich schmecke es in ihrem essen ich höre es aus ihrem mund

ich rieche es an ihrem arbeitsschweiß ich merke es an ihrer herzenswärme

Sie liebt mich

Sie tut alles für mich

Die im Moment noch wichtigere Frau in meinem Leben aber war Amy. Sie tat wirklich alles für mich. Das tat mir sehr gut. Mein Orgasmus war sichtbar, spürbar, riechbar. Doch wie sah es bei meiner Wohltäterin aus? Wie stand‘s mit Amy‘s Orgasmus? Ich war bisher davon ausgegangen, dass Orgasmen zu haben eine natürliche Körperfunktion ist, ähnlich etwa dem Niesen, und dass dies, wie viele Körperfunktionen, eine Art von Reflexhandlung ist. In das Geheimnis des weiblichen Orgasmus war ich noch nicht eingedrungen, ebenso wenig wie in eine Vagina. Da stand mir noch eine große Abenteuerreise bevor.

Vorerst begnügte ich mich mit erotischer Lyrik, um Amy am Laufen zu halten, denn sie liebte offenbar nicht nur mich, sondern auch meine Gedichte. So schrieb ich auch ihr der Gerechtigkeit halber ein Gedicht, das ich aus Gründen zweckmäßiger Einfachheit etwas abwandelte – was mir meine Mutter gewiss verziehen haben würde, wenn sie es jemals erfahren hätte. An einem Wochenend-Abend erwartete ich Amy in meinem Souterrain-Zimmer, in das ich inzwischen mutig – und strategisch gut vorbereitet – meine Gäste ein- und auszuschleusen verstand.

Auch Spieler, der stinkende Oberprovo, übernachtete einmal bei mir, weil er anderswo keine Unterkunft gefunden hatte. Es war inzwischen mit einem kurzfristigen Kälteeinbruch von minus drei Grad zu kalt, um draußen zu pennen. Am nächsten Morgen lüftete ich so oft ich unten war. Dennoch fiel meiner Mutter der penetrante Gestank noch zwei Tage später auf, und ich musste ihren Fragen mit tausenderlei Slaloms rhetorisch ausweichen. Tote Maus vorm Fenster, vergammeltes Obst unterm Bett, verschimmeltes Brot in der Nachttischschublade, alles musste zur Erklärung herhalten. Hier lernte ich das perfekte schriftstellerische Lügen. Ein unabdingbares Instrument für ein so junges Talent wie mich. Davon war übrigens mein Deutschlehrer nicht unbedingt überzeugt.

Amy und ich stöberten am Abend in unserem Neuerwerb herum. Oh mein Gott, das ließ sich komplizierter an, als wir dachten. Da hieß es zum Beispiel gleich auf Seite 13: „Die Atmung ist die grundlegende Funktion deines Körpers. Ohne sie versagen alle anderen Systeme des Körpers.“

Mein Zapperlottchen, was für eine grandiose Neuigkeit! Das wussten wir doch, du meine Güte! Aber was hatte das mit Amys und meinem Orgasmus zu tun?

Ach, hier kam die grundlegende Erkenntnis: „Die Atmung ist die erste innere, der Selbsterhaltung dienende Tätigkeit, die dein Körper vollzieht, wenn du in diese Welt eintrittst. Dennoch nimmst du diese wichtige Tätigkeit wahrscheinlich als gegeben hin.“ Natürlich nahmen wir das als gegeben hin. Sollten wir die Luft alle fünf Minuten für zwei Minuten anhalten, um uns der tieferen Bedeutung des Atmens bewusst zu werden?

Dann hieß es, in unterstrichener Kursivschrift:

„Dieses Buch setzt voraus, dass du nie über Atmung und Sex im Zusammenhang nachgedacht hast und dass du niemals die zentrale Rolle erkannt hast, die der Atem in deinem Liebesleben spielt.“

Wir lasen noch ein wenig weiter, bis wir zu den Themen Der Scheidendruck und Der japanische Hodenzug kamen. Nun wurden wir endlich praktisch und Amy hantierte laut Gebrauchsanweisung an meinem Sack rum: „Nimm einen Hoden in jede Hand und ziehe sie sanft nach unten, einmal für jedes Jahr deines Lebens. Ziehe nach unten, halte fest, bis du bis drei gezählt hast und lass dann los.“ Amy zog siebzehn Mal. Das war korrekt.

Jetzt machten wir das, wozu wir gerade aufgelegt waren, wir knutschten uns, alberten rum, machten uns über unsere Lehrer lustig und fummelten noch eine Weile. Amy las ich nun leise bei Kerzenschein mein Liebesgedicht vor. Im Schlafzimmer über uns stöhnte wieder einmal die lüsterne Frau Winkelmann. Das war der passende Soundtrack für mein Liebeslyrik-Plagiat:

oh geliebte!

ich ruf es an unserem brunnen

ich schreib es mit farbe

auf die ruine der alten oper

ich werb mit schildern in der stadt

ich ruf es in die ufa-wochenschau hinein

ich lass vom zeppelin flugblätter abwerfen

ich besetze fernsehstationen

und verkünd es in der abendschau

ich liebe dich

ich tue alles für dich

ich schreib es zwischen die zeilen meiner hausaufgaben

ich berechne es im dreisatz

ich beweis es in reagenzgläsern

ich schreib es heimlich an die klassentafel

ich träume nachts davon und werde feucht

ich liebe dich

ich tue alles für dich

ich spüre es bei deiner zärtlichen umarmung ich schmecke es bei deinem kuss

ich höre es aus deinen sanften worten

ich rieche es an deinem aufregenden körper ich seh es in deinen wunderschönen augen

du liebst mich

du tust alles für mich

Amy und ich verbrachten noch eine romantische Nacht bei Kerzengeflacker und O-Saft. Aber morgens um halb Fünf war für Amy die Nacht zu Ende. Dann schlich sie sich durch den Hintereingang aus unserem Haus, musste fünfzehn Minuten nachhause laufen, um sich heimlich in ihr Zimmer zum Restschlaf einzuschleichen. Ihre Schwester wusste Bescheid und hielt zu ihr.

„Mach ihr bloß kein Kind!“, hatte sie mir mal beiläufig gesagt. Aber es klang gar nicht beiläufig, sondern echt besorgt. Beide Mädels wussten von ihrer Mutter, was es bedeutete, zu früh und alleinerziehend ein „uneheliches“ Kind in die Welt zu setzen. Es bedeutete nicht nur ein Leben in Armut, sondern auch eine fühlbare Ächtung von Mutter und Kind durch Verwandte, Nachbarn, Vorgesetzte. Nichts war schlimmer für das gute alte Bürgertum als eine unverheiratete Frau mit einem unehelichen Balg.

Sexy Zeiten - 1968 etc.

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