Читать книгу Sexy Zeiten - 1968 etc. - Stefan Koenig - Страница 40

*

Оглавление

Mein Vater hatte mich mit Vierzehn problemlos zur JU gehen lassen, obwohl er nicht viel von den „verschlagenen CDU-Katholiken in der Union“ hielt. Auch meine Mutter hatte nichts gegen meine Mitgliedschaft eingewandt, das hätte auch total ihrer libertär-schwäbischen Einstellung widersprochen. Ich hatte beiden „vergessen“ zu sagen, dass ich aus dem Verein ausgetreten war.

Diese Vergesslichkeit bescherte mir immerhin einen zusätzlichen freien Abend in der Woche, an dem ich mich im Club Voltaire mit wirklich philosophischen und tiefschürfenden Fragen auseinandersetzen konnte. Fragen zum Beispiel, die der Bedeutung des G-Punkts bei der Befreiung von der sexuellen Unterdrückung durch die bourgeoise Gesellschaft gewidmet waren. Oder Fragen zur Rolle der Lyrik im Befreiungskampf Lateinamerikas gegen die amerikanischen Bananenkonzerne.

Ich brauchte diese Widersprüche und Diskussionen. Nur der ausformulierte Gedanke im Wettstreit mit anderen Gedanken war für mich von Bedeutung. Vom Einheitsgestammel vorgefertigter Parteireden hielt ich nichts mehr. Die Zeit war abgelaufen. Ich war fast erwachsen geworden.

Vielleicht wäre ich an jenem Nachmittag gegenüber meinen Ex-Verbündeten verbindlicher gewesen, hätte versucht, sie zu überzeugen, wenn ich nicht gerade zuvor in der Schule ein Referat zum Vietnamkrieg gehalten hätte. Da hatten mir sogar mal unsere vier konservativen Superschleimer und auch die beiden Klassenstreber respektvoll applaudiert: „Die Vereinigten Staaten verteidigen in Südvietnam einen Staat, der nicht mehr existiert, und ein Volk, das sich nicht mehr verteidigen will. Jahrelang immer mehr von Krise zu Krise taumelnd, scheint Südvietnam in Anarchie zu versinken. Für die Verteidigung dieses Gebildes hat Amerika ein rotierendes Expeditionskorps mit mehr als 500.000 GIs eingesetzt. Diesem Truppenaufgebot stehen 1,5 Millionen südvietnamesische Soldaten zur Seite. Viele von ihnen liefen im Lauf der Jahre zu den Viet Minh über, den nordvietnamesisch unterstützen Partisanen. Tägliche Kosten für die US-Interventionsmacht: 70 Millionen Mark. Jährlicher Blutzoll: 20 Gefallene pro Tag. Insgesamt wurden bisher über 2.700 Amerikaner allein in Südvietnam getötet, und es wurden während der jahrelangen Kämpfe bislang über 120.000 GIs verwundet.“

Am Ende des Krieges sollten es über 300.000 Verwundete sein; ohne die Zahl der psychisch traumatisierten Soldaten, die mit lebenslangen Albträumen und Psychopharmaka leben mussten.

Stiehler, unser Sozialkundelehrer, ein 40-jähriger Sozialdemokrat, der schon ziemlich früh aus der Ostzone geflüchtet war, wiegelte ab: „Gegen Totalitarismus muss man auch bereit sein, Waffengewalt einzusetzen.“

Da war mir der Kragen geplatzt, denn ich hatte einen ganz und gar anderen Totalitarismus im Sinn, als dieser SPD-Cowboy. Dem traute ich nicht mehr über den Weg, nachdem mir Heiner Halberstadt im Club Voltaire einmal erzählt hatte, dass im SPD-Unterbezirk Frankfurt die konservativsten und miesesten Ratten aus den Reihen der DDR-Übersiedler kämen. Die würden jeden Ansatz zu einer friedlichen Koexistenz zwischen den beiden deutschen Staaten torpedieren. Diese Worte und ihre Bedeutung gingen mir damals zwar am Allerwertesten vorbei, hatten aber doch irgendwo mein Gedächtnis erreicht.

„Ich möchte hier mal auf einen anderen Aspekt des Totalitarismus zu sprechen kommen“, sagte ich, als ich nach Stiehlers Einwurf mein Referat vor der Klasse fortsetzte: „Im fernen Südostasien, weitab des amerikanischen und europäischen Kontinents, verteidigt unser christlicher Westen eine Sache, die wir Freiheit nennen, während andere dies als totalen Massenmord und Massentotschlag bezeichnen. Einige im Westen meinen, es handele sich um einen notwendigen Krieg, um ein unvermeidliches Engagement mit absehbaren Modalitäten.“

Ich legte dar, dass das „Engagement“ bereits 1965 die systematische Zerstörung von weiten Teilen Vietnams bedeutete. Was war das anderes, als die Rhetorik von Hitlers und Goebbels Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Hier wurde die Totalitäts-Rhetorik zu neuer schauerlicher Realität. US-Flieger, ganz normale christlich geprägte Familienväter, hatten allein im ersten Kriegsjahr 63.000 Tonnen Bomben auf Nordvietnam geworfen – die zwanzigfache Menge des barbarischen britischen Luftangriffs auf Dresden 1945.

Die „gewissen Modalitäten“ waren schon 1965 der Einsatz von Dioxin und Napalm. Dioxin war das schrecklichste, das tödlichste Nervengift im Waffenarsenal der US-Kriegführung. Es wurde als agent orange verschossen und verursachte millionenfache schwere Hauterkrankungen, wie die Clorakne sowie Entzündungen im Nervensystem, wie Gefühllosigkeit, Erblindung, das Zittern von Händen und Füßen, und rief hunderttausende Fehlgeburten, missgebildete Kinder und Krebs hervor. Es zerstörte tausende Quadratkilometer Flora und ließ in der Tierwelt Schäden wie beim Menschen zurück.

Später, 1968, stand fest, dass über drei Millionen Menschen unmittelbar durch agent orange starben oder lebensbedrohlich erkrankten. Dann wurde bekannt, dass weitere 4,4 Millionen den Folgen erlagen oder lebenslange gesundheitliche Schäden erlitten. Diese Informationen prägten das Denken und Gewissen von uns Jungspunden, die wir nicht mehr im Seligschlummerland leben wollten. Wir wünschten uns keine liebedienerische Regierung, die das Morden gutheißt.

Wir wünschten uns einen Aufstand des Gewissens. Aber die Alten wären nicht die braunschwarzen Alten gewesen, wenn sie ein Gewissen gehabt hätten. Sie hatten den selbstverschuldeten Weltkrieg hinter sich. Was kümmerte sie jetzt noch die Welt der Anderen? In der eigenen Welt aber, in der die Alten das Sagen hatten, mitten in Westdeutschland, wurde jene Chemikalie für die amerikanischen Streitkräfte hergestellt, die zu derartiger Massenvernichtung in Südostasien Voraussetzung war: Dioxin.

Laut der US-Arzneimittelbehörde FDA ist Dioxin hunderttausend bis eine Million Mal so erbschädigend wie Contergan. Noch zwanzig Jahre später wurden in Vietnam schwer missgebildete Kinder geboren, 50.000 allein zwischen 1975 und 1985: Unterleiber mit Beinen ohne Rumpf, andere Babys hatten keine Beine oder Arme oder wurden mit offenem Rücken oder gewaltigen Hasenscharten im Gesicht geboren.

Hergestellt wurde dieses Mördergift in Michigan und – in Deutschland. 47.000 Tonnen dieses Produktes für einen „effizienten“ Giftkrieg wurden zwischen 1962 und 1966 von den US-Streitkräften über Vietnam und Laos versprüht. Was ich plötzlich bei meinen Recherchen zu dem Referat verspürt hatte, war unleugbar Hass. Hass, den ich stets ablehnte. Doch es war unverkennbar Hass auf die deutsche Firma C. H. Boehringer, die damit über Jahre hinweg auch noch saftige Gewinne einfuhr. Damit begann für mich die große Mitschuld der deutschen Pharmaindustrie und der Bundesregierung am Tod von mehreren Millionen Menschen. Es war bestürzend. Aber Stiehler redete weiter daher, als handele es sich um Übertreibungen und überhaupt sei alles nur ein Betriebsunfall. Seitdem waren auch die alten Sozis bei mir unten durch, obwohl ich die Jungsozialisten als ehrliche Typen kennen lernte.

Sexy Zeiten - 1968 etc.

Подняться наверх