Читать книгу Sexy Zeiten - 1968 etc. - Stefan Koenig - Страница 31

*

Оглавление

Am 10. September, zwei Tage vor meinem Geburtstag, unterlag der deutsche Boxeuropameister Karl Mildenberger dem Weltmeister im Schwergewicht Muhammad Ali im Frankfurter Waldstation. Mein Vater hatte sich esrt geärgert, weil er keine Karten mehr bekommen hatte. Jetzt war er froh, dass er die Niederlage seines Lieblingssportlers nicht so hautnah miterleben musste.

Meinen siebzehnten Geburtstag feierte ich als provisorischer Single, nicht mehr mit Hanna im Bunde – und noch nicht mit Amy Hand in Hand. Stattdessen feierte ich zum letzten Mal in meinem Leben, wie ich hoffte, als Teenager mit der Familie in der Drogerie von Tatti und Onna. Tatti war die Schwester meiner Oma väterlicherseits. Für meinen Vater waren Tatti und Onna eine der wenigen verbliebenen verwandtschaftlichen Anlaufstellen seiner Ursprungsfamilie. Die beiden betrieben eine klassische althergebrachte Drogerie, die wie ein Krämerladen eingerichtet war.

Wenn man die Tür zum Laden aufmachte, bimmel-ten fünf Glöckchen anmutig und einladend. Hier roch es nach Seifen, Parfüms, Kräutern und nach vielen süßlich duftenden Köstlichkeiten, die in Bonbongläsern auf der rechten Seite der Theke standen. Honiggläser und Kleinartikel aus dem Pflegebedarf fand man in großen Körben und auf zart geschwungenen Metallständern an den Seiten des Ladentischs. Die Regale waren vollge-stopft mit Toiletten-, Pflege- und medizin-ähnlichen Artikeln.

Braune Apothekengläser enthielten Lösungen, Al-koholika und aromatische Öle. Zwischen dem linken Theken-Ende und dem letzten Drittel des Verkaufstischs befand sich eine hochklappbare Thekenplatte. Tatti begrüßte mich ganz herzlich mit einer Umarmung und einem der gefürchteten Wangenknutscher, der wieder mal kein Ende nahm. Sie gratulierte mir zum Geburtstag und sagte: „Hinten sitzen schon alle und warten auf dich und sind hungrig.“ Dann klappte sie die Thekenplatte hoch und schob mich vor sich her. Es ging drei Holzstufen hoch. Ich freute mich auf meine Geheimschublade und hörte schon das Geplapper und Lachen.

Ich zog einen schweren Vorhang zur Seite – und da saßen alle um einen großen Tisch, auf dem bereits ein dampfender Pott mit Rindswürsten wartete, und alle schnatterten durcheinander. Wie immer hatte jeder seinen Stammplatz eingenommen. Nur keine Veränderung in der Sitzordnung, davon könnte vielleicht das ganze Land zu-sammenstürzen!

Tattis Mann, im blütenweißen Drogeriekittel, klein, untersetzt, mit blitzenden, klugen Augen, kochte Tee und Kaffee. Tante Polly, auch eine Schwester meiner verstorbenen Oma, saß neben ihrer Tochter Lydia und deren Mann, Onkel Franz. Daneben saß meine heimliche Lieblingscousine Marion. Omas dritte Schwester, Gretel, und ihre Tochter Ellen mit meiner Cousine Elke saßen genau vor meiner Geheimschublade, was auf mich wie eine Grenzkontrolle wirkte. Diese Schublade hatte für mich seit meiner Kindheit eine besondere, verlockende Bedeutung.

Elke hatte nur ein Jahr vor mir das trübe Licht unseres braun-schwarzen Mufflandes erblickt, sah aber aus, als wäre sie fünf Jahre älter und war groß wie eine Giraffe. Dann war da noch „Tante“ Paula mit „Onkel“ Adolf, die irgendwie über tausend Ecken mit Papa verwandt waren, aber keiner konnte mir jemals verraten, auf welche Weise. Bei der Begrüßung stellten sich alle so an, als ob sie mich seit Jahren nicht gesehen hätten.

„Ach, bist du groß geworden!“ Und nachdem Onkel Franz das Radio mit der dahinplätschernden Fußball-Übertragung ausgeschaltet hatte, stimmten sie alle das übliche Geburtstagslied an – Zum Geburtstag viel Glück.

„Sitze ich vor deiner Geheimschublade?“, fragte mich Polly, das eitle und sehr vornehme Tantchen.

„Wie immer“, sagte ich, ging zu ihr und gab ihr ein zartes Küsschen auf die Stirn.

Die beiden unteren Schrankschubladen hinter ihrem Stammplatz waren mit allerhand Drogeriepröbchen vollgestopft. Dort durfte ich mich immer mit vier kleinen Fläschchen Sanostol eindecken. Meistens trank ich das sirupartige pappsüße Vitaminpräparat noch vor Ort nacheinander aus. Doch auch andere Pröbchen lagen da zuhauf: Cremes, Parfüms im Puppenstubenformat, abgepackte Bonbons, Bohnerwachsdöschen und Miniseifen.

Ich musste erstmal aufs Klo. Im Flur nahm mich Onkel Franz in den Schwitzkasten: „Na, du junger Poet, haste was für’n heutigen Vortrag mitgebracht?“ Das hatte ich nicht. Aber weil mir gerade das Thema Kriegsdienstverweigerung in den Fingern juckte, hatte ich am Vorabend ein Gedichtlein fabriziert, das ich im Club Voltaire mit Lerryn‘s Gitarrenbegleitung vortragen wollte. Lerryn war in meiner Parallelklasse und stellvertretender Schulsprecher. Außerdem war er engagierter Juso und komponierte seit seinem dreizehnten Lebensjahr Songs zur Gitarre.

„Na gut“, sagte ich zu Onkel Franz. „Ein Gedicht, ein einziges, aber nicht mehr!“

Zurück am Ereignisfeld musste ich wohl oder übel die Arschkarte ziehen und durfte über Los gehen. Und ich legte los.

vorgestern

lag ich noch in windeln

gestern

lernte ich noch

heute

frag ich mich

warum ich gestern noch lernte

denn

voraussichtlich

nach dem lauf der geschichte

wie’s halt so kommen muss

bin ich morgen kanonenfutter

Ich machte eine dichterische Verbeugung vor all den offenen Mündern, aus denen die Ahh’s und Ohh’s in einer Art Kanon hervorquollen und sich schließlich in einem verwandtschaftlich-vertrauten Stöhnen vereinten. Diskutiert wurde nicht. Geklatscht auch nicht, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Man nahm es hin. Ich auch.

Mama und Tante Gretel schenkten den Tee nach.

„Deine Haare sind ja noch länger geworden!“, entrüstete sich Tante Ellen. Ich sah zu meiner Cousine Elke und erhoffte mir Unterstützung, aber die reckte ihren Giraffenhals bloß in die Luft und tat so, als suchte sie verzweifelt etwas. Ich deutete auf sie und sagte zu ihrer Mutter: „In der Jugend wächst das Haar halt viel schneller als im Alter. Das ist wissenschaftlich bewiesen.“

Meine Mutter sah verzweifelt in die Runde und meinte: „Man kann die jungen Leuten von heute leider nicht mehr zu einem flotten Fasson-Schnitt überreden. Wie ordentlich sah das immer bei Stefan aus, als er seinen Seitenscheitel noch hatte.“

„Das sah sehr doof aus, wie bei Max Blödmann“, sagte ich. Den Namen hatte ich mal schnell erfunden. Und dann sagte ich mit bedeutungsschwerem Zungenschlag: „Es kommt doch darauf an, was man im Kopf hat und nicht, welche Frisur man auf dem Kopf trägt.“

„Klug ist er ja“, murmelte Ellen.

Ich ging an die Schubladen hinter Polly und nahm mir die vier erlaubten Fläschchen Sanostol und schüttete sie nacheinander hinunter, mit einer Mimik, wie ich sie von den trinkfesten Onkels kannte, wenn sie einen Klaren kippten. „Das kommt daher!“, sagte ich.

Tante Paula war schon siebzig. Als ich ihr, der allseits bekannten Kaffeetante, Kaffee anbot, wehrte sie erschrocken ab.

„Mein Herz macht nicht mehr mit!“, sagte sie mit dem unterschwelligen Vorwurf, weil ich sie so lange nicht gesehen hatte und wohl nicht wusste, wie es um ihr Herz beschaffen war. „Oder hast du Muckefuck?“, wandte sie sich an Tatti.

Unten klingelte die Ladentür. Es war Viertel nach Sechs, und erst um halb Sieben schloss die Drogerie.

„Geh du mal schnell“, sagte Tatti zu Onna, der flüchtig einen Senffleck vom eben noch blütenreinen Drogeriekittel wegzurubbeln versuchte.

Wir hatten hier schon oft nachmittags gefeiert; da halfen dann alle nacheinander aus, wenn Kundschaft in den Laden kam. Ich durfte noch nicht bedienen.

„Vielleicht nächstes Jahr, wenn du erwachsener geworden bist“, sagte Onna.

Wenn mein Bruder Günter von Berlin nach Frankfurt kam, um Urlaub von der geteilten Stadt zu machen, konnte er jederzeit in der Drogerie aufschlagen, um Seifen und Rasierschaum abzustauben. Er durfte auch Kunden bedienen, denn das hatte er schon in seiner Schülerzeit gemacht. Ich hingegen hatte solchen Eifer nicht an den Tag gelegt. Ich hatte lieber Vater beim Kirschen pflücken und Mutter beim Einmachen und beim Abwasch geholfen.

Die Drogerie war für Tatti und Onna ein Dukatenkacker, für mich eine wahre Fundgrube. Und sie führte auch Muckefuck, ein typisches Nachkriegs- und Behelfsprodukt, weil richtiger Kaffee unerschwinglich war. Er kostete 16,56 DM das Kilo – bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst von 1.156,00 DM – das würde nach heutigen Maßstäben Kaffeekosten in Höhe von exorbitanten 8,47 EUR bedeuten, bei einem lachhaften Durchschnittsverdienst von 591,00 EUR. Da war Muckefuck die billigere Alternative. Er wurde aus gemälzter Gerste oder geröstetem Roggen hergestellt. Kinder durften ihn trinken, weil er kein aufputschendes Koffein enthielt. Mir schmeckte er, wenn viel Milch dabei war. Tatti holte schnell eine Packung Muckefuck und setzte für Tante Paula den Blümchenkaffee auf. Paula fasste sich theatralisch ans Herz und schnaufte erleichtert durch.

Am Abend zog ich Bilanz. Die Familienfeier hatte sich gelohnt. Von Onna und Tatti hatte ich eine nagelneue Reiseschreibmaschine gekriegt. Das war mein größtes Geschenk, auf das ich mächtig stolz war. Ich fiel ihnen überglücklich um den Hals. Von Tante Greta, Ellen und Cousine Elke hatte ich eine Agfa Optima 500 mit integriertem Blitzlicht bekommen. Das war auch super. Tante Lydia, Onkel Franz und Polly schenkten mir ein Taschen-Stativ – auch im Namen von Lydias Tochter Marion, meiner Lieblingscousine, die eine Ausbildung in Italien machte, aber heute hier sein konnte.

Ich bekam noch einen Farbfilm und einen Rasierapparat, mit dem ich allerdings nichts anfangen konnte, denn meine paar Fläumchen wollte ich zu einem männlichen Bart züchten und nicht wegrasieren. Und Rasierwasser war wohl auch gerade im Angebot, denn davon bekam ich gleich zwei Flaschen.

Zu Hause hatten mir die Eltern mein Geschenk traditionsgemäß auf den Frühstückstisch gelegt. Noch bevor ich mein Brötchen schmierte, riss ich das Paket wie ein Kleinkind auf. Darin war Schreibmaschinenpapier, ein Schreibset, das Buch „Im Westen nichts Neues“ und eine Tafel Schokolade. Ulla hatte meinen Geburtstag wieder einmal vergessen, obwohl ich ihren nie vergaß. Günter hatte mir zu meinem Geburtstag einen Brief aus Berlin geschickt.

Liebes Brüderchen!

Als erstes gratuliere ich dir zu deinem siebzehnten Geburtstag. Allmählich holst du mich ja ein. Obwohl der Abstand schrumpft, ist verwunderlich, dass trotzdem noch sieben Jahre zwischen uns liegen. Bald wirst du gewiss allein nach Westberlin kommen dürfen, um mich zu besuchen. WB ist eine prima Stadt. Viel los hier. Letztes Wochenende war ich in der stadtbekannten Disco, dem Big Eden. Da habe ich auch den Besitzer getroffen. Der heißt Rolf Eden und ist ein echter Playboy mit großen ameri- kanischen Schlitten und vielen jungen Weibern, die ihn umschwärmen. Möchte nicht wissen, wie viele der an einem Abend vernascht. Aber darf ich dir das in deinem jungen unschuldigen Alter überhaupt berichten?

Seit Sommeranfang bin ich bei der Springerdruckerei beschäftigt, und bevor du mich wieder fragst, was ich da mache: immer noch dasselbe. Als Schriftsetzer bekomme ich fast zehn Prozent mehr Lohn als bei der vorigen Firma. Ich krieg hier immer das Neueste mit. Die BILD ist zwar für Blöde gemacht, aber hin und wieder bringt sie auch mal gute Sachen, wie die Sache mit den Starfightern, die dauernd vom Himmel fallen. Ich glaube, bis jetzt sind es schon über zweihundert Tote. Da ist die BILD ja voll gegen Strauß, den sie sonst in den Himmel hebt. Na ja, was soll’s. Wir ändern die Politik sowieso nicht.

Habe hier kürzlich Carola, eine Studentin, zur Aushilfe gehabt. Süßes Mädchen. Hat mir von ihrem Chemie-Studium erzählt. Das wäre nix für mich. Ihre Professorin ist eine Frau Becke. Die ist sogar Rektorin und deutschlandweit bekannt. Ich wusste noch gar nicht, dass bis Februar dieses Jahres noch niemals eine Frau zur Rektorin einer Universität gewählt worden war. Ja, die Zeiten ändern sich.

Anbei habe ich dir einen Zehner gelegt. Vielleicht kannst du damit auch was Vernünftigeres anfangen als ewig nur zu sparen, wie es uns die Eltern raten. Man muss auch mal Geld zum Le- ben ausgeben und nicht für das dumme Sparschwein. Was macht dein Tanzunterricht? Wann startest du?

Bis demnächst

Dein Bruderherz Günter

Sexy Zeiten - 1968 etc.

Подняться наверх