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3. Epocheneinteilung

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Ähnlich wie die allgemeine Geschichte kennt auch die jüdische Geschichte Epochen. Wie diese jedoch genau zu unterteilen sind, war gerade mit Blick auf die Frühen Neuzeit lange umstritten, und bis heute ist die Diskussion darüber noch nicht endgültig zum Ende gekommen. Verlief das jüdische Mittelalter nach Auffassung vieler Historiker zu großen Teilen parallel zur allgemein definierten Epoche, so sind die Dauer und das Ende dieser Zeit lange umstritten gewesen. Klar war nur, dass die Kriterien für die Epocheneinteilung der allgemeinen Geschichte nicht ausschließlich auch für die jüdische Historie gültig sein konnten, sondern noch weitere, interne und gruppenspezifische Veränderungen eine Rolle spielen mussten. Besonders der bedeutende israelische Historiker Jakob Katz (1904 – 1998) bestimmte mit seinen zahlreichen und bahnbrechenden Werken die Sichtweise, dass im Gegensatz zur allgemeinen Epocheneinteilung die Frühe Neuzeit für die jüdische Geschichte überhaupt nicht existiert habe, vielmehr wesentliche Charakteristika des Mittelalters im Judentum über Jahrhunderte weiter Gültigkeit besessen hätten. Demzufolge setzte seine Schule den Epochenwechsel erst für die Zeit der jüdischen Aufklärung an, also nicht früher als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Paradoxerweise fiel aber gerade Katz das Verdienst zu, sich intensiv mit der Zeit zwischen 1500 und 1800 befasst und damit viele Interpretationen für längere Zeit determiniert zu haben. Das nach seiner Ansicht weitgehende Verharren der jüdischen Gesellschaft in ihren mittelalterlichen Traditionen, worauf sich die Negation einer Frühen Neuzeit in der jüdischen Geschichte stützte, blendete jedoch den Umstand aus, dass sich die jüdische Welt sehr wohl in einer Phase des dynamischen Wandels befand. Ein Grund für diesen Wandel ist auch in der Beeinflussung von außen und in der größeren Teilhabe der Juden an den allgemeinen Prozessen zu sehen, die allerdings in der älteren Forschung so noch gar nicht beobachtet bzw. thematisiert wurden. Jedoch hat sich dieser Befund erst durch eine Reihe von Forschungen herauskristallisiert, die Katz und seiner Schule allesamt noch nicht zur Verfügung standen. Heute ist nur noch wenig von der Diskussion über die fragliche Existenz der Frühen Neuzeit in der jüdischen Geschichte geblieben: Es scheint communis opinio geworden zu sein, dass die Epoche mit besonderen Ausformungen auch für die jüdische Geschichte anzusetzen ist.

Kriterien für eine Frühe Neuzeit im Judentum

Ein gewaltiger Einschnitt für die mitteleuropäischen Juden war zunächst die Veränderung in der Siedlungssituation. Durch Vertreibungen aus fast allen Reichsstädten zogen jüdische Menschen entweder in andere Teile Europas oder vermehrt aufs Land. Damit brach die jahrhundertealte Urbanität der Juden zu übergroßen Teilen zusammen, wie auch ihr bisheriges kulturelles und ökonomisches Umfeld. Durch die Verminderung der geistigen Führung (viele kleine Gemeinden hatten keinen Rabbiner mehr) erstarkte die säkulare Leitung in Form der Vorsteher, die meist aus der Oberschicht stammten. Durch gesetzliche Fixierungen wurden Juden und ihre Gemeinschaften mehr und mehr in das absolutistische Herrschaftssystem eingebunden, was sie dazu zwang, sich den administrativen Gepflogenheiten der Umgebung anzupassen und dabei gewisse Gewohnheiten zu übernehmen, wie die stark zunehmende Bürokratisierung auch innerhalb der jüdischen Gruppen in jener Zeit zeigt. Aber auch die Ausformung der religionsgesetzlichen Regeln erreichte eine neue Qualität, da gerade die geänderte Lebenssituation neue Interpretationen erforderte. So blieb zwar der alte Kanon der grundlegenden Texte beinahe unerweitert, jedoch wurden viele so genannte Chiduschim (Erneuerungen der Auslegungen) von Vertretern der religiösen Geisteselite verfasst. Der Buchdruck, der im Laufe des 16. Jahrhunderts durch die Juden angenommen wurde, war für die Anhänger einer Schriftreligion von immenser Bedeutung, vereinfachte er doch stark die massenhafte Herstellung von Werken traditioneller Schriftgelehrtheit und deren Verbreitung. Durch die ökonomische Belebung im Rahmen des frühen Welthandels gab es für eine Reihe von Juden völlig neue wirtschaftliche Perspektiven, verbunden mit einer gewissen ökonomischen Integration in die christliche Geschäftswelt. Vor allem in den Vereinigten Provinzen der Niederlande spielte das eine Rolle, aber auch in Form der Hoffaktoren im Reich. Die zögerliche Öffnung von akademischen Institutionen für Juden schuf für einige von ihnen völlig neue Horizonte, die sie teilweise an ihre Glaubensgenossen weitergaben. Die folgenden Kapitel dieses Buches werden diese Punkte vertiefen und veranschaulichen, dass diese und weitere Faktoren ganz eindeutig einen Bruch mit den mittelalterlichen Gegebenheiten darstellten. Ohne Zweifel ist jedoch die Haskala, die am Ende der Frühen Neuzeit einsetzende jüdische Aufklärung, als Höhepunkt der Veränderungen anzusehen, da sie nicht nur breite Teile des europäischen Judentums in ihren Bann zog, sondern letzten Endes auch auf die konservativeren Teile der jüdischen Gesellschaft übergriff und ihr die eigenen Mittel und Wege in der Auseinandersetzung aufzwang. Ganz ähnlich muss jedoch auch die vormoderne christliche Gesellschaft verstanden werden: Wie die Juden lebten gleichfalls die Christen in der Frühen Neuzeit in der Vormoderne, während ein unumkehrbarer Schub auch hier erst mit der sich verbreitenden Aufklärung einsetzte. Somit ist durch das umfassender Verständnis der innerjüdischen Prozesse jener Epoche und die Einbeziehung des Kontextes der allgemeinen Geschichte recht eindeutig festzustellen, dass die Existenz der frühneuzeitlichen Verhältnisse mit Krisen und neuen Dynamiken ganz eindeutig auch für das Judentum zu konstatieren ist.

Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500-1800

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