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a) Die Vertreibung aus der urbanen Welt und die Suche nach Alternativen
ОглавлениеVertreibungen während der Epochenwende
Die Zeit der Epochenwende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit war in Europa geprägt von Bewegung und Dynamik. Auch innerhalb der jüdischen Minderheit, die im Spätmittelalter überwiegend in Städten lebte, vollzogen sich, meist durch äußere Faktoren begründet, Entwicklungen, die diese Welt nachhaltig veränderten. Am Eindrücklichsten ist das beinahe komplette Verschwinden von Juden aus den freien Reichsstädten und Städten in zahlreichen Territorien durch eine Vertreibungswelle, die das gesamte 15. Jahrhundert und darüber hinaus bis 1519 (Regensburg) andauerte.
Über die Gründe für diese Vertreibungen und Verfolgungen wurde in der Forschung vielfach gesprochen. Sie sind nicht nur rein ökonomischen Charakters gewesen, sondern hatten auch zahlreiche religiöse Ursachen von Seiten der Christen, wie die häufigen Vorwürfe von angeblichen Hostienschändungen oder, im schlimmeren Fall, gar von Ritualmorden. Jedoch scheinen die juristisch oft sehr sorgfältig vorbereiteten Vertreibungen nicht nur im Religiösen oder vorgeblich Religiösen ihre Ursache gehabt zu haben, sondern waren Teil eines wirtschaftlichen Emanzipationsprozesses der städtischen Gesellschaft, wie auch das schiere Interesse am Gewinn des jüdischen Eigentums durch die Obrigkeiten. Der kaiserliche Schutz für seine „Kammerknechte“, der am Ehesten in den freien Reichsstädten hätte funktionieren sollen, versagte in den allermeisten Fällen und erwies sich somit als wertlos. Die letzten urbanen Zentren von Bedeutung, denen dann auch eine längere und teilweise ununterbrochene Lebensdauer beschieden sein sollte, waren innerhalb des Reiches die in Frankfurt a. M., Worms und Friedberg in der Wetterau.
Daneben gab es auch zunehmend Vertreibungen aus kompletten Territorien, so dass in der Zeit um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert eine Reihe von Leerräumen entstanden, in denen Juden für oft längere Zeit garnicht mehr oder nur noch ausnahmsweise leben konnten. Zu nennen wären hier exemplarisch die Ausweisungen aus dem Erzbistum Magdeburg (1493), aus Württemberg, Salzburg, Steiermark und Kärnten (1496 / 97) sowie aus dem Kurfürstentum Sachsen (1536 / 43). In Fällen, in denen die jeweiligen Territorial- oder Landesherren mächtig genug waren, um auch schwächere Nachbargebiete zu beeinflussen, konnte es sogar sein, dass die Wirkung der Ausweisungen noch weit über die entsprechenden Landesgrenzen hinausreichten, wie es etwa im thüringischen Raum nach 1543 zu beobachten war, als die sächsischen Kurfürsten wiederholt auf Grafen und Reichsritter einzuwirken versuchten, damit diese die in ihren Territorien verbliebenen Juden ebenfalls auswiesen. Auch wenn die meisten dieser Vorgänge insgesamt weniger gewaltgeprägt waren als im Hochmittelalter, so zeigt doch besonders der Berliner Hostienschändungsprozess von 1510, an dessen Ende 36 Juden verbrannt wurden, während die anderen aus der Stadt und der Mark Brandenburg ausgewiesen wurden, dass die harte Verfahrensweise gegenüber Juden noch nicht völlig der Vergangenheit angehörte.
Veränderung der jüdischen Siedlungsstruktur als Merkmal der Epochenwende
Der gewaltsame Wandel in der Siedlungssituation war sicher der einschneidendste Prozess mit kollektiver Wirkung für die Juden im Heiligen Römischen Reich. Neben den immer wieder als Faktoren zur Begründung eines Epochenwechsels herangezogenen Veränderungen um 1500 kann ohne weiteres auch diese Entwicklung als weiterer Faktor betrachtet werden, veränderte sie doch erheblich und nachhaltig die städtische Gesellschaft, zu denen die Juden über Jahrhunderte gehört hatten. Seit spätestens 1519 jedoch fehlte in den meisten freien Reichsstädten und zahlreichen Residenzstädten diese Bevölkerungsgruppe. Erst im weiteren Verlauf der Frühen Neuzeit sollten sie nach und nach diesen angestammten Lebensraum wieder zurückgewinnen. Manche Reichsstädte, etwa Köln und Augsburg, verweigerten jedoch den Juden noch bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein das Siedlungsrecht, wie auch ganze Territorien, so zum Beispiel die Steiermark und Kärnten.
Ziele und Zeugnisse der Migration
Wohin wandten sich die Vertriebenen? Mehrere Wege wurden dabei von den Juden beschritten. Ein Teil hat sich während der Ausweisungen im 15. Jahrhundert sicher immer wieder noch bestehenden städtischen Gemeinden angeschlossen, bevor dann die Vertreibung durch die christlichen Stadtbewohner ein weiteres Mal drohte. Andere wandten sich nach Osteuropa und begründeten bzw. erweiterten dort die jüdischen Gemeinden, die in ihrer später erlangten Bedeutung denen im Reich in nichts nachstehen sollten und diese teilweise sogar überflügelten. Ein deutliches Zeugnis dieser Migration ist die jiddische Sprache. In ihrer Grundsubstanz geht sie auf das mittelalterliche Deutsch zurück, das von den Juden ebenso gesprochen wurde, versetzt mit gruppentypischen, oft hebräischen Einsprengseln. Wieder andere zog es nach Norditalien, wovon noch einige jiddische Texte aus dem 16. Jahrhundert zeugen, die dort verfasst wurden. Kleinere Gruppen wählten auch den Weg nach Palästina und begründeten dort die ältesten Gemeinden mit Juden mitteleuropäischer Herkunft (Aschkenasen).
Viele jedoch blieben auch im Reich und versuchten, sich neue Lebensräume zu erschaffen, jetzt aber meist in ländlichen Regionen und in großer Zerstreuung, weshalb sie sich in den Quellen vor allem für die Zeit des 16. Jahrhunderts kaum oder nur sehr schwer nachweisen lassen. Jüngere Forschungen zu jüdischen Regionalgeschichten belegen mehrfach das verstärkte Phänomen der ländlichen Niederlassung, wobei jedoch die direkte Migration aus dem städtischen Raum auf das Land kaum nachweisbar ist. Eine Zwischenstation bei der Übersiedlung von den Städten auf das Land scheint die Gruppe der verbliebenen mittleren Gemeinden in kleineren Städten gewesen sein.
„Atomisierung“ jüdischen Lebens
Auch im Mittelalter gab es bereits nicht wenige ländliche Kleinsiedlungen, deren Zahl aber in der Frühen Neuzeit gegenüber den verbliebenen Stadtgemeinden weiter wuchs. Die jüngere Forschung hat deswegen wiederholt von einer „Atomisierung“ jüdischen Lebens gesprochen. Gerade das 16. Jahrhundert ist mit den zahllosen Niederlassungsversuchen von Juden in Dörfern und Kleinstädten von großer Instabilität geprägt. Oft wurden Schutzbriefe von den Inhabern des Judenregals, also den Landesherren, die allein über Aufnahme oder Ausweisung der Juden entscheiden durften, nur auf wenige Jahre vergeben und es lag in ihrer Willkür, die Gültigkeit zu verlängern oder die Juden mit ihren Familien auszuweisen, ohne sich weiter um deren Schicksal zu kümmern. Als Ergebnis dessen sind lokale jüdische Geschichten des 16. Jahrhunderts zumeist unstet und von kurzer Dauer, wenn sie sich überhaupt nachvollziehen lassen. Nicht selten sind in den Quellen Einzelerwähnungen von einer oder mehreren jüdischen Familien für einen Ort zu finden, ohne dass die Vorgeschichte oder die weitere Entwicklung rekonstruierbar wären.
Bevorzugte neue Siedlungsräume im Reich
Im weiteren Verlauf der Epoche wird deutlich erkennbar, dass Juden selbst in der ländlichen Streusiedlung vor allem versuchten, sich in der Nähe von Städten niederzulassen. Einerseits war ihnen der ständige Aufenthalt dort zumeist untersagt, andererseits konnten sie nicht selten ihren Tagesgeschäften in den Städten nachgehen, also ihrem Brotserwerb im Kleinhandel oder im bescheidenen Geldverleih. Ein Beispiel dafür waren die drei Gemeinden in Pfersee, Kriegshaber und Steppach vor den Toren Augsburgs, oder auch die kurfürstlich-mainzischen „Küchendörfer“ Daberstedt und Hochheim in der unmittelbaren Umgebung Erfurts. Sehr oft siedelten sich Juden in Gebieten mit unklaren Herrschaftsverhältnissen an. Wo immer es einen Marktflecken, ein Dorf oder auch eine umstrittene Enklave gab, über deren Herrschaftsrechte sich zwei oder mehrere Landesherren stritten, wurde dies von Juden schnell erkannt und für Gemeindegründungen instrumentalisiert, nicht selten unter aktiver Teilnahme eines Teils der Obrigkeiten, die über den Judenschutz versuchten, die Wahrnehmung von Herrschaftsrechten zu demonstrieren. Das erfolgreichste Beispiel ist Fürth, um dessen Herrschaftsrechte die Reichsstadt Nürnberg, die Domprobstei Bamberg und die Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach rangen. Alle drei Parteien versuchten durch Gewährung von Rechten für den Markt Fürth ihre Ansprüche zu demonstrieren, und dazu gehörte auch die Verleihung von Schutzbriefen an Juden seit 1528. Diese politische Konkurrenz dauerte an und als Ergebnis bildete sich in Fürth schnell die bedeutendste fränkische Gemeinde jener Zeit.
Nicht alle Gründungen auf Gebieten mit umstrittenen Herrschaftsrechten waren so erfolgreich, jedoch ist dieser Weg ein sehr häufig beobachtbares Phänomen gewesen. Es zeigt vor allem eines: Auch Juden hatten in der Frühen Neuzeit die Spielregeln der christlichen Herrschaftsausübung sehr gut verstanden und wussten, wie die jeweiligen Situationen ausgenutzt werden konnten, um die nicht gerade übermäßig vorhandenen Niederlassungsmöglichkeiten zu nutzen. Aus dieser Situation entstand die für die Frühe Neuzeit typische Form der jüdischen Streusiedlung, die sich nicht unbedingt an Kriterien der sozial und ökonomisch günstigsten Bedingungen orientieren konnte, sondern sehr viel häufiger an der nackten Realisierbarkeit.