Читать книгу Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500-1800 - Stefan Litt - Страница 22
b) Polen
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Kosakenaufstand unter Chemlnicki in Polen und der Ukraine mit einer ungekannten Pogromwelle, dabei tausende jüdische Opfer
1655 – 60
Erster Nordischer Krieg zwischen Schweden und Polen, Russland und anderen Staaten, bei dem die Kriegsschauplätze in Polen und Litauen lagen und die jüdischen Gemeinden erneut in Mitleidenschaft zogen
Die meisten der an das Reich grenzenden jüdischen Siedlungsräume standen in enger kultureller und sozialer Bindung zu denen innerhalb der Grenzen. Besonders deutlich wird dies an dem gemeinsamen aschkenasischen Kulturraum, zu dem neben den Gemeinden innerhalb des Reiches auch die meisten anderen in Mitteleuropa gehörten. Für den deutschen Sprachraum mit seiner jüdischen Bevölkerung sind an erster Stelle die engen Bindungen zu den Juden Polens zu nennen. Die Juden, die dort lebten, waren zumeist Nachfahren von Flüchtlingen aus den mittelalterlichen reichsstädtischen Gemeinden, die von den polnischen Königen unter sehr vorteilhaften Bedingungen aufgenommen wurden. Über die folgenden Jahrhunderte blieben zahlreiche Bindungen zwischen den Juden dieser Landschaften erhalten, die im Verlauf der Frühen Neuzeit wiederholt an Intensität gewannen.
Jüdische Landwirtschaft und Handwerkszünfte in Polen
Verglichen mit den oft ungünstigen Lebensbedingungen von Juden innerhalb des Reiches waren die in Polen lebenden jüdischen Menschen sehr viel besser gestellt. Dies betraf vor allem ihre beruflichen Möglichkeiten, da hier geringere Beschränkungen bei der Ausübung von Handwerken vorlagen und sogar der Erwerb von Grund und Boden nicht nur in Städten, sondern auch auf dem Land erlaubt war, wodurch Juden in Polen Landwirtschaft betreiben konnten. In großen jüdischen Gemeinden gab es sogar jüdische Handwerkszünfte. Die Texte der wiederholt bestätigten mittelalterlichen Privilegien für die Juden im Königreich Polen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Rechtsgrundlage bildeten, zeigen, dass die Juden den Christen wirtschaftlich de facto gleichgestellt waren.
Polnische Großgemeinden
Auf der Grundlage dieser verhältnismäßig günstigen Bedingungen entwickelte sich in Polen und den zugehörigen Gebieten ein dichtes Netz von zahlreichen Gemeinden, von denen die bedeutendsten in Krakau (ab 1494 im benachbarten Kazimierz, um 1570 ca. 2000 Juden, 1775: 3500), Lemberg (1550 mehr als 900, 1764: 6142, 1800: 18.302 Juden), Lublin (1602: ca. 2000, 1787: 4321 Juden), Vilna (um 1650 ca. 3000, 1690: mehr als 2000 – hier gab es Feuersbrünste und sogar Vertreibung) und Posen (während der gesamten Frühen Neuzeit um die 3000 Juden) waren. Parallel zu den Vertreibungen aus den deutschen Reichsstädten im 15. Jahrhundert fanden solche zwar auch in Polen statt, jedoch nie so vollständig, dass sie komplett das Bild der typischen Siedlung verändert hätten.
Im Weiteren kam die jüdische Gemeinschaft hier schnell zu einer Blüte, die vor allem das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts umfasste. Bei der Erschließung der östlichen Reichsteile, vor allem der Ukraine, spielten Juden oft eine führende Rolle und gründeten dort zahlreiche Ortschaften, in denen sie meist die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Schätzungen gehen davon aus, dass um 1500 in Polen 18.000 Juden lebten und weitere 6000 im zugehörigen Litauen, während es 1648 schon an die 500.000 gewesen sein sollen. Neben Litauen waren die wichtigsten Siedlungsgebiete Rotreußen, Klein- und Großpolen.
Schtetl
Diese Blüte drückte sich nicht nur durch eine zahlenmäßig deutlich wahrnehmbare jüdische Bevölkerung aus (nicht wenige Ortschaften waren beinahe vollständig von Juden bewohnt, die so genannten Schtetls), sondern auch durch einen hohen Grad jüdischer Bildung und Organisiertheit, die für viele andere Gemeinschaften in Mitteleuropa unerreichbares Vorbild und Anziehungspunkt waren.
Pogrom im Chmelnicki-Kosakenaufstand
In ihrer Eigenschaft als Finanziers, Pächtern von Steuern und Gütern der polnischen Adeligen besonders in den östlichen Teilen des polnischen Reiches gelangten die Juden in eine soziale Mittelstellung zwischen der Ober- und der Unterschicht, in der sie außerdem durch ihre besondere religiöse Position auffielen. Bedingt durch Aufstände der Unterschicht und der sich mit ihr verbündenden Kosaken vom Unterlauf des Dnjepr im Jahr 1648 / 49 ergoss sich eine bislang in Polen unbekannte Welle der Gewalt über die jüdischen Bewohner im östlichen Reichsteil und in der Ukraine. Die Kosaken unter dem berüchtigten Hetman (Führer) Bogdan Chmelnicki zogen sengend, mordend und plündernd durch die Orte und hinterließen auf ihrem Weg weit über 100.000 getötete Juden.
Einsetzende Ost-West-Migration
Damit war die Katastrophe jedoch noch nicht zu Ende, denn mit den Auswirkungen des Ersten Nordischen Krieges (1655 – 1660) zwischen Schweden und einer Koalition aus Polen, Russland, den niederländischen Generalstaaten, Österreich und Dänemark litten auch die jüdischen Bewohner der zumeist polnischen Kriegsschauplätze. Diese einschneidenden Ereignisse beendeten die Blüte des polnischen Judentums und lösten eine Welle der Migration aus Polen aus, die sich in viele Richtungen ausbreitete. Sie zogen wieder nach Westen, in die erstarkenden Gemeinden des Reiches, aber auch noch weiter, bis in die Republik der Vereinigten Niederlande, wo sich in Amsterdam in der Mitte des 17. Jahrhunderts sogar zeitweise eine eigene polnische Gemeinde bildete. Diese unfreiwilligen Wellen der Migration von West nach Ost und später in umgekehrter Richtung verdeutlichen erneut, dass der zentraleuropäische Raum für die meisten Juden eine kulturelle Entität darstellte, eben die des aschkenasischen Kulturraumes.
Innerhalb des verbliebenen, zahlenmäßig immer noch bedeutenden polnischen Judentums setzte auch hier ein allmählicher Wandel ein, der zu einer gewissen Verländlichung der sonst stark städtisch geprägten Gruppe führte. Selbst die Bevölkerungsverluste wurden wieder ausgeglichen, so dass um 1764 bereits 750.000 Juden für das Königreich Polen angenommen werden, was – verglichen mit den einigen zehntausend jüdischen Menschen innerhalb der Reichsgrenzen – sehr viel bedeutender war. Dennoch war das „Goldene Zeitalter“ vergangen und setzte sich jetzt andernorts fort, vor allem in den liberalen Vereinigten Provinzen der Niederlande.