Читать книгу Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500-1800 - Stefan Litt - Страница 26
a) Das innerjüdische Rechtssystem und seine Position in der christlichen Umwelt
ОглавлениеRabbinische Gerichte
Basierend auf dem reichen Werk der Halacha und der vielfältigen Auslegungen der Gebote und Religionsgesetze entwickelte sich schon seit der Antike eine eigenständige jüdische Rechtsprechung. Die besten Kenner dieses Rechts waren und sind approbierte Rabbiner, deren Aufgabe in den Gemeinden nicht etwa die Seelsorge gewesen wäre, sondern die Auslegung und Lehre der Halacha, sowie Rechtssprechung in innerjüdischen Fällen. Durch die traditionell gewährte Autonomie auch in Rechtsfragen konnten Rabbiner und rabbinische Gerichte (Beit Din) in Gemeinden, die die Ausgaben für einen solchen Gelehrten übernehmen konnten, als innerjüdische Rechtsinstanz fungieren. Üblicherweise saß der Rabbiner dem Gericht vor, das noch aus weiteren Beisitzern (Dajanim) gebildet wurde, die keine Approbation als Rabbiner haben mussten, aber oft in der Halacha versiert waren. Angesehene und gut funktionierende Gerichte verliehen den Gemeinden, in denen sie sich befanden, immer eine gewisse Reputation, die durch eine frequentierte Jeschiwa, der normalerweise der Rabbiner vorstand, noch gesteigert werden konnte.
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Beit Din (hebr.)
Jüdisches Gericht, meist gebildet aus dem Ortsrabbiner (Aw Beit Din = „Vater“ des Gerichts) und weiteren Richtern oder Beisitzern (Dajanim). Häufig war die Anzahl der involvierten Personen ungerade, um so eindeutige Voten erreichen zu können, für den Fall, dass keine Einstimmigkeit im Urteil erzielt wurde. Große Gemeinden konnten mehrere Kammern innerhalb des Gerichtshofes haben, kleinere hingegen oft keine bzw. nur das Gericht, welches aus den Gemeindeältesten gebildet wurde.
Kleiner und großer Bann
Verhandelt wurden zuallererst natürlich Übertretungen der Religionsgesetze, aber auch in zivilrechtlichen Auseinandersetzungen wie Finanzen, Familienrecht, sowie Erbschaftsfragen waren die rabbinischen Gerichte zuständig. Körperliche Strafen als Konsequenz eines richterlichen Beschlusses vom rabbinischen Gericht sind immer wieder bezeugt, scheinen aber nicht häufig gewesen zu sein. Andere Strafmittel, die den Gerichten zur Verfügung standen, waren der kleine und der große Bann. In der Regel wurde der kleine Bann, auch Ausrufung (Hachrasa) genannt, häufig als Druckmittel verwandt, um einen renitenten Juden zur Einlenkung zu zwingen. Der kleine Bann bedeutete einen begrenzten Ausschluss aus dem Gemeindeleben, während der große Bann (Cherem), vergleichbar mit der Exkommunikation, die völlige Trennung des Gebannten bedeutete, also Ausschluss aus der religiösen Gemeinschaft, Verweigerung von Dienstleistungen im Rahmen der Gemeinde wie Erwerb von rituell reinen Nahrungsmitteln, Besuch der Gemeindeinstitutionen und Verbot jeglicher sozialer Kontakte mit dem Gebannten. Diese Strafe konnte in den meisten Gemeinden nicht vom Rabbiner allein verhängt werden, sondern nur in Abstimmung mit den Vorstehern. Es sind auch Fälle bekannt, in denen die Vorsteher den Bann ohne Hinzuziehung des Rabbiners verhängen konnten.
In einer Welt wie der frühmodernen bedeutete der Ausschluss aus der Identität gebenden Gemeinschaft in den meisten Fällen den Verlust der Überlebensfähigkeit, da man keiner Gruppe mehr zugeordnet werden konnte. Daher wurde der Bann nicht oft angewandt, sondern eher angedroht und blieb bei Verhängung meist nicht lange in Kraft. Andere Strafmittel waren der Verlust religiöser Funktionen und Ehrenämter in der Synagoge, Verlust der Wählbarkeit in Gemeindeämter sowie der Zeugenfähigkeit vor Gericht. Zeugnisse der vielen rabbinischen Gerichte sind die Gerichtsprotokollbücher und Akten der einzelnen Höfe wie sie z. B. für Frankfurt a. M. oder Prag überliefert sind. In der Forschung wurden sie bis heute noch nicht hinreichend beachtet oder gar ausgewertet.
Anrufung christlicher Gerichte
In Gemeinschaften, in denen es kein Gericht gab, waren die Juden gezwungen, entweder weite Reisen zum nächsten Rabbiner auf sich zu nehmen, oder aber die christlichen Rechtsinstanzen zu bemühen, was von Seiten der Rabbiner immer wieder verurteilt wurde, da ihre Rechtsautorität darunter natürlich leiden musste. Dennoch ist das Phänomen wiederholt nachgewiesen worden. Juristische Auseinandersetzungen zwischen Christen und Juden konnten so gut wie nie vor einem jüdischen Gericht verhandelt werden, da sich Christen diesem kaum gestellt haben und dazu nicht gezwungen werden konnten. Derartige Fälle kamen fast ausschließlich vor die zuständigen christlichen Gerichte.
Aus innergemeindlichen Überlieferungen geht immer wieder hervor, dass es Auseinandersetzungen um die gerichtlichen Kompetenzen zwischen der weltlichen Gemeindeführung und den Rabbinern geben konnte. Die Vorsteher der Gemeinden beanspruchten vielerorts ebenfalls solche Kompetenzen und übten diese auch dort aus, wo es keinen Gemeinderabbiner gab. Im niederländischen Den Haag gab es in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Fall, dass einer der Vorsteher auch über eine Approbation als Rabbiner verfügte, aber nicht als solcher angestellt war. Die Gemeinde verzichtete zu dieser Zeit auf die Anstellung eines Rabbiners, während das gelehrte Gemeindemitglied nicht nur als Vorsteher tätig war, sondern auch noch die juristische Funktion übernahm. In jedem Fall wird klar, dass es eine moderne Gewaltentrennung nach heutigen Maßstäben vielerorts nicht gegeben hat.
Appellationsgerichte
Die Anrufung der Gerichte war nicht eindeutig lokal gebunden, so dass es oft geschah, dass Juden sich das Gericht suchten, das für die eigene Position im Streitfall günstig erschien. Um diesem Übel Abhilfe zu verschaffen, gab es Versuche von Seiten der Rabbiner, die Gerichtsinstanzen zu klären. Einer dieser Versuche bestand in der Versammlung von Gemeindeführern und Rabbinern des Reiches 1603 in Frankfurt a. M., wo quasi als Regionalinstanzen und Appellationsgerichte die von Frankfurt a. M., Worms, Fulda, Friedberg und Günzburg eingerichtet werden sollten. Daneben wurde bei dieser Gelegenheit auch noch einmal die alleinige Kompetenz der rabbinischen Gerichte in innerjüdischen Fällen festgelegt, was darauf verweist, dass immer wieder christliche Gerichte durch Juden angerufen wurden. Durch die Denunzierung der Versammlung und ihrer Beschlüsse bei den kaiserlichen Behörden durch einen von der Frankfurter Gemeinde ausgeschlossenen Intriganten und der anschließenden Untersuchung der Geschehnisse durch eine kaiserliche Kommission wurde dieser Versuch jedoch schnell Makulatur. Allerdings wurden auch Streitfälle größeren Ausmaßes an auswärtige Gerichtshöfe gegeben, um so durch die Entfernung und personelle Trennung ein höheres Maß an Objektivität zu erreichen. So wurde ein Fall über die Frage von Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Gemeindeführung in Frankfurt a. M. 1617 an die rabbinischen Gerichte in Fulda, Hildesheim und Metz zur Entscheidung weitergegeben, obwohl in Frankfurt ein angesehenes Beit Din ansässig war. In Polen gab es neben den lokalen Rabbinatsgerichten innerhalb der landesweiten Organisation im „Rat der vier Länder“ weitere regionale und sogar zentrale juristische Instanzen.
Christliche Akzeptanz jüdischer Rechtsprechung
Im Rahmen der den Juden zugestandenen Autonomie wurden Rabbiner und ihre Gerichte sowie deren Entscheidungen von den christlichen Landesherren und Beamten weitgehend akzeptiert. Innerhalb des Reiches wurden diese oft von den Territorialgewalten formell nach der Wahl anerkannt oder sogar eingesetzt. Geschah die Einsetzung einer Person, deren Befähigung zum Amt einigen zweifelhaft erschien, konnten darüber Konflikte entbrennen. 1754 kam es im niederländischen Leeuwarden sogar dazu, dass das christliche Stadtgericht über den Verbleib eines Rabbiners im Amt entscheiden musste, da einige Mitglieder der Gemeinde seine Approbation aus Emden für zweifelhaft hielten.
Bestimmte Aufgaben mussten Rabbiner im Reich offiziell auch im Auftrag der christlichen Behörden erledigen, wozu die Abwicklung von Erbangelegenheiten sowie Eheschließungen und Scheidungen gehörten. Wenn hingegen in anderen zivilrechtlichen Dingen eine Entscheidung getroffen wurde und die unterlegene Seite dagegen bei einem christlichen Gericht klagte, kam es vor, dass die Entscheidungen des Rabbinatsgerichts kassiert wurden. Derartige Vorkommnisse bildeten Zündstoff für Auseinandersetzungen innerhalb der jüdischen Gemeinde, da die Anrufung nichtjüdischer Instanzen eigentlich untersagt war.