Читать книгу Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren - Steffen Stern - Страница 44
8. Gewalttaten psychisch gestörter Täter
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Fast schon zum „Normalbild“ eines Schwurgerichtsprozesses gehören Angeklagte mit Persönlichkeitsstörungen[227]. Es bedarf stets genauer Prüfung, ob sich die „Störungen“ noch im Spektrum des Normalpsychologischen bewegen oder ob sie, für sich allein oder aber erst in Verbindung mit anderen Defekten, die Annahme verminderter oder – in seltenen Ausnahmefällen – gar in Gänze ausgeschlossener Schuldfähigkeit rechtfertigen. Solche Tatverdächtigen sind als Mandanten nicht immer leicht zu durchschauen, geschweige denn sicher zu führen. Vor allem bei „Borderline“-Gestörten[228] kann es unter der Anspannung der Hauptverhandlung zu unliebsamen Überraschungen kommen, wenn der Betreffende, weil ihm etwas gegen den Strich geht, die Beherrschung verliert und „aus dem Ruder läuft“. Wenn alles gut geht, bleibt es bei einem heftigen Wutausbruch oder der Beschimpfung und Bedrohung eines Zeugen. Der Mandant riskiert „nur“ die (vorübergehende) Anordnung von Hand- oder Fußfesseln[229]. Viel schwieriger ist es, ein womöglich trotzig aufgetischtes Falschgeständnis wieder aus der Welt zu schaffen.
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Nicht selten haben wir es mit sinnlosen Gewalthandlungen wahnhaft gestörter Täter zu tun, die immens unter den Tatfolgen leiden, ohne sich der eigenen Täterschaft oder einer Schuld bewusst zu sein. Ihre Tat kann sich theoretisch gegen Jedermann richten, Freunde und nahe Angehörige nicht ausgeschlossen. Oft bringen sie grundlos ihre Partnerin um, weil sie einer inneren Stimme folgen oder sich akut bedroht fühlen. Oder es trifft einen wohlmeinenden Geldgeber, dem plötzlich – ohne tatsächliche Anhaltspunkte – finstere Machenschaften unterstellt werden[230].
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Diese Täter können, sobald nach Einschätzung des Sachverständigen § 20 StGB nicht sicher ausschließbar ist[231], mangels Schuldfähigkeit nicht bestraft werden. Über ihr Schicksal wird zumeist im Sicherungsverfahren (§§ 413 ff. StPO) entschieden, wenn die Voraussetzungen für die Anordnung einer Maßregel vorliegen. Im Jahre 2010 haben Staatsanwälte (wegen aller möglichen Straftaten) rund 500-mal Antrag auf Eröffnung eines Sicherungsverfahrens gestellt[232]. Die zum SchwurG eingereichte Antragsschrift der StA steht einer Anklage gleich; die Zulassung erfolgt per Beschluss. Dann findet eine – notfalls auch kontradiktorische – nicht öffentliche Hauptverhandlung statt, die mit den Plädoyers und dem Urteil endet. Dieses kann nur auf Unterbringung oder seine Ablehnung lauten (vgl. § 414 Abs. 2 Satz 4 StPO). Dagegen ist die Revision zum BGH möglich. Einen Freispruch kennt das Sicherungsverfahren nicht[233]. Womöglich ist der Tatverdächtige zugleich verhandlungsunfähig. Dann kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Hauptverhandlung sogar in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführt werden (§ 415 StPO).
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Die Unterbringung gem. § 63 StGB ist einer der denkbar schwersten Eingriffe[234]. Die Verteidigung muss – und sei es im Wege der Revision – gewährleisten, dass die Annahme einer rechtlich erheblichen tatauslösenden Wahnstörung beim Beschuldigten auch tatsächlich gerechtfertigt ist. Dies kann ungeachtet eines insoweit „eindeutigen“ Gutachtens zweifelhaft erscheinen, wie im Fall eines seit einigen Monaten depressiv gestimmten Beschuldigten, der – nicht unerheblich alkoholisiert – eine Bekannte aufgrund eines tags zuvor gefassten Entschlusses aufsuchte, um sie mit einem Beil zu töten. Er hatte sich in sie verliebt und machte sie, die seine Gefühle nicht erwiderte, „in wahnhafter Verkennung der Realität“ für seinen niedergedrückten Zustand verantwortlich. Nachdem er sie mit den Worten „Na du Schlampe, hast du Lust zu sterben?“ angesprochen und ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, ging er mit erhobenem Beil auf sie zu, woraufhin sie in Todesangst flüchtete. Der Beschuldigte folgte ihr noch kurz, gab jedoch sein Vorhaben auf, da er dies „doch nicht übers Herz brachte“.
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Das SchwurG, das ihn gem. § 63 StGB unterbrachte, war – sachverständig beraten – davon ausgegangen, dass beim Beschuldigten eine überdauernde Persönlichkeitsstörung vom schizoid-antisozialen Typ als schwere andere seelische Abartigkeit und zudem im Tatzeitraum eine hierauf gründende wahnhaft-depressive Psychose in der Form eines „sensitiven Beziehungswahns“ als krankhafte seelische Störung bestand. Ob dadurch, wie gem. §§ 21, 63 StGB zu fordern, seine Einsichtsfähigkeit gänzlich fehlte oder nur vermindert war, blieb zweifelhaft. Vom Totschlagsversuch war der Angeklagte jedoch strafbefreiend zurückgetreten[235]. Wegen der verbliebenen Körperverletzung (Faustschlag) und Bedrohung war keine dramatisch hohe Strafe zu befürchten. Für ein echtes Wahnerleben sprach wenig. Der Beschuldigte hatte die Ablehnung der jungen Frau völlig richtig erkannt und dieses – noch nachvollziehbar – als demütigend und herzlos empfunden. Auch dass er sie für seinen unglücklichen Zustand verantwortlich machte, war nicht völlig abwegig. Die weiter angenommene Persönlichkeitsstörung vom schizoid-antisozialen Typ war abzugrenzen gegenüber solchen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die sich noch innerhalb der Bandbreite menschlichen Verhaltens bewegen und Ursache für strafbares Tun sein können, ohne dass sie die Schuldfähigkeit „erheblich“ im Sinne des § 21 StGB berühren[236].