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Kapitel 4 Die Geburt vollenden

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Geboren zu werden heißt, in Beziehungen zu leben. Die Schmerzen unserer Geburt sind ein Teil jeder Begegnung, jedes Augenblicks, in dem sich Blicke berühren. Schon vor der Geburt entwickelt sich eine körperliche, emotionale und spirituelle Interaktion mit unseren Eltern. Die ersten Anziehungskräfte einer neuen Runde persönlicher Geschichte manifestieren sich. Die ersten Impulse einer neuen, „langen Reise“.

Im Kontrakt der Geburt ist der Tod nicht ausgeklammert. Entweder wird das Kind einst den Tod seiner Eltern erleben, oder die Eltern werden ihr Kind verlieren. Eine Mutter sagte an der Seite ihres sterbenden Sohnes einmal, daß dies ihre „letzten und schlimmsten Geburtswehen“ seien. Unser Anfang birgt auch unser Ende. Dies ist die Natur jeder Beziehung zu einem anderen Herzen oder zu diesem flüchtigen Augenblick: nur diese kostbare Gegenwart ist „wirklich“. Alles Übrige ist ein Traum, an den wir uns auf dem Totenbett vage erinnern. Ein Traum, im Entbindungszimmer geboren.

Damit sich dieser Traum erfüllt, müssen wir erwachen. Wir müssen unsere Geburt vollenden, müssen ganz und gar lebendig werden. Verantwortlich für Schmerz und Freude, für die Welt und über sie hinaus.

Manche vertreten die Theorie, daß das Gefühl eines isolierten Selbst zum ersten Mal erwacht, wenn dem Säugling die Brust verweigert wird. Andere meinen, dies würde bereits mit der Geburtserfahrung geschehen. Viele glauben, daß dieser Eindruck des Getrenntseins, des dem anderen gegenüberstehenden Ich mit dem eigenen Territorium verknüpft sei: dem Körper. Und manche denken, daß diese Empfindung entsteht, wenn das Gewahrsein mit dem Bewußtsein verwechselt wird, wenn die schattenhaften Objekte auf der Leinwand mit dem Licht verwechselt werden, das sie erzeugt. Wenn der auf den Mond weisende Finger für das Mondlicht gehalten wird, das ihn sichtbar macht. Doch was auch immer der Ursprung dieser selbst-bewußten, sich selbst beschuldigenden und verherrlichenden Isolierung sein mag, sie wird von neuem in die Möglichkeit hineingeboren, mit dem anderen statt zu dem anderen in Beziehung zu treten. Vielleicht setzt durch jenes erste Gefühl des Getrenntseins von innen heraus ein Erkennen ein, das den Anstoß in Richtung der Einheit auslöst. Das die Sehnsucht steigert, dieses Ich und der andere mögen auf dem Weg zur Einheit Eines werden.

Je tiefer die Anerkennung unserer Isolation, desto stärker die Tendenz, zur Geburt im heilenden Herzen fortzuschreiten.

Geburt bewegt sich nach außen. Um diese Geburt aber zu vollenden, um völlig geboren zu werden, wandern wir nach innen, erkunden die Natur von Körper und Geist, das Wesen des Herzens und der Dinge jenseits von ihm. Je intensiver wir mit jenen außergewöhnlichen geistigen Ebenen, die wir das „Herz“ nennen, verbunden sind, desto eher sind wir in der Lage, unsere Beziehungen in die Weite des Seins zu tragen, die hinter unseren scheinbar individuellen Trivialitäten beginnt.

Wenn uns jene Sehnsucht nach Vollendung bewußt macht, wie unvollendet, wie begrenzt unsere Beziehungen gewesen sind, öffnet sich ein Weg, auf dem sich Geist und Herz dem anderen in einer bewußten, engagierten Partnerschaft zuwenden können. Und wir erkennen allmählich, daß die Art und Weise, in der wir mit Geist und Körper in Beziehung stehen, auch unsere Beziehung zum Leben bestimmt. Der Grad, in dem wir des anderen Schmerz teilnahmsvoll berühren können – aktives Mitempfinden – entscheidet darüber, wie groß unser Spielraum ist, um das Alte hinter uns zu lassen und völlig in das Leben einzutauchen. Es ist diese Berufung zur Achtsamkeit und zur Bejahung inneren Wachstums, die Körper und Geist zu einem Laboratorium statt zu einer Gefängniszelle macht.

Und es gibt noch ein weiteres Geborenwerden, das auf die Geburt folgt. Es ist die „Selbstwerdung“, eine Individuation, die uns Lebensqualitäten und Bewußtseinsebenen erschließt, die wir bislang nicht kannten. Es ist eine Geburt, die sich vollzieht, wenn Körper und Geist, in das Getrenntsein hineingeboren, auf neue Ebenen des Daseins stoßen. Diese tiefere Geburt findet statt, wenn das Geborene das entdeckt, was man im Buddhismus „das Ungeborene“ nennt – jenes, was der Geburt vorangeht und den Tod überschreitet – die unsterbliche Wahrheit seiner wahren Natur.

Unserer Erfahrung nach resultiert ein großer Teil dessen, was sich auf dem Totenbett vollzieht, aus dem Kampf eines Lebens, das ganz geboren werden will. Es scheint tatsächlich, als seien nur wenige vor ihrem Tod ganz und gar geboren worden. Die meisten leben „zur Probe“ und zögern, beide Beine auf den Boden zu stellen. Viele springen herum und stecken mit einem Bein noch im Mutterschoß. Und sie wundern sich, warum Tod und Beziehung sie so belasten. Ihre Standfestigkeit reicht nicht aus, um die Sondierungen, Erkundungen und die Hingabe zuzulassen, die für das Überschreiten der kleinen, überlebten Verstandesmuster notwendig sind, welche das Gleichgewicht des Lebens stören.

Manche Menschen jedoch akzeptieren jene tiefe Sehnsucht nach Vollendung und setzen alles daran, sich zu befreien. Sie weichen vor den Schatten nicht zurück, die der Geist auf das Herz wirft. Und es ist keine leichte Aufgabe, sich selbst „zur Welt zu bringen“. Es bedeutet, die Wesensmerkmale der Aufrichtigkeit, der Geduld, der Wachsamkeit, der Vergebung, der Güte, der Abenteuerlust zu entwickeln und zu einer wirklichen Geburt bereit zu sein, ungeachtet der mit ihr verbundenen Geburtsschmerzen und Ängste, die uns leicht dazu verleiten könnten, auf dem sicheren Territorium familiären Kummers und weitschweifiger Konfusionen zu bleiben. Es bedeutet, die Fähigkeit zu entwickeln, als Teil der Arbeit an sich selbst auch mit dem lange aufgespeicherten Kummer des Liebespartners zu arbeiten. In einer Beziehung zu leben bedeutet, sich auf der Reise ins eigene Innere dem Lebensschmerz des anderen zu öffnen.

Die meisten stoßen, während sie den todesverachtenden Akt der völligen Geburt in Angriff nehmen, auf einen Pfad, der sie zum Herzen, zu einem Potential bedingungsloser Liebe führt. Erst wenn Herz und Geist übereinstimmen, ist unsere Geburt endlich vollendet.

Viele Menschen finden Gefallen an den sogenannten „Risikosportarten“, weil sie sich dabei „so lebendig“ fühlen, wie sie sagen. Um zu überleben, müssen sie präsent sein, und diese wachsende Präsenz schafft ein immer tieferes Gefühl der Lebendigkeit. Doch mit einem an den Füßen befestigten Gummiband von einer Klippe zu springen oder mit einem seidenen „Taschentuch“ über dem Kopf von einem Berg zu segeln, sind nicht die einzigen Methoden, um das Gewahrsein im Augenblick zu zentrieren. Auch die notwendige Präsenz in einer Beziehung verlangt von uns, um des Überlebens willen hellwach zu sein. Sie verankert uns im lebendigen Augenblick und erzeugt die gleiche „extreme Lebendigkeit“, die Bungee-Springer, Gleitschirmflieger und Freikletterer rühmen, wenn sie von der eigentlichen Faszination ihrer Sportart sprechen. Ebenso wie eine Geburt in dieser oft gewalttätigen und kriegerischen Welt beanspruchen die Ungewißheiten einer Beziehung unsere volle Aufmerksamkeit und verlangen, daß wir uns auf den Boden unter unseren Füßen und auf den Raum in unserem Geist konzentrieren.

So wird deutlich, daß der ultimative Risikosport – die Herausforderung des Lebens – in inniger, bewußter und engagierter Partnerschaft besteht. Sie enthüllt unsere tiefsten Sehnsüchte und Ängste ebenso wie unsere elementarste Sorge und Aufmerksamkeit füreinander. Sie offenbart sowohl dasjenige in uns, was bereits geboren wurde, als auch das, was der Vollendung entgegensieht. Sie läßt uns, wenn wir über die Klippe springen und der Schwerkraft trotzen, die Leichtigkeit des Seins erleben, die immer stärker in uns schwingt – ein weit ausgedehntes Gefühl der Präsenz, das wir, wenn wir es bis ins Tiefste ergründen, vielleicht „Gott“ nennen werden.

Als ich elf Jahre alt war, entdeckte ich während eines sommerlichen Ferienaufenthaltes in New England an der Mauer eines Bauernhauses die alte Inschrift: „Gott ist Liebe.“ Sie erschien meinem kleinen, alttestamentlichen Gemüt damals äußerst bizarr. Doch eine bessere Definition ist mir auch nach meiner fünfunddreißigjährigen spirituellen Praxis nicht eingefallen. Dies ist der Gott, den wir suchen: bedingungslose Liebe – die Göttliche Geliebte, die uns innewohnende Unermeßlichkeit. Für viele Menschen aber sind Geist und Herz voneinander getrennt, und jeder sucht Gott auf seine Weise. Für den Geist ist Gott das Höchste Wesen. So sucht der Geist sein „persönliches Optimum“, sein größtes individuelles Potential, sein höchstes Sein. Für das Herz aber ist Gott weniger das Höchste Sein als vielmehr das Sein als höchster Zustand. Daher möchte es das Universale erfahren, seine natürliche, essentielle Natur, der einzig das Wort „Liebe“ gerecht werden kann.

Man sagt, daß wir zwischen zwei Inkarnationen die Möglichkeit hätten, unser „wahres Gesicht“ zu erkennen. (Vielleicht gilt das ja ebenso für die Pause zwischen zwei Beziehungen.) Mag dies nun eine Vision unseres durch periodische, intensive psychologische Arbeit offenbarten Persönlichkeitskerns sein oder die direkte Erfahrung unserer essentiellen Natur infolge fortschreitender spiritueller Erforschung – auf jeden Fall ist es ein Augenblick des Hinausblickens über „das Bekannte“, über unsere winzige Welt. Eine Ahnung, daß etwas von neuem geboren wird. Es sind Geburten, denen wir in der Poesie oft begegnen:

Was war dein Gesicht, bevor du geboren wurdest?

Wenn das Herz in Flammen aufgeht,

hört alle Vergangenheit auf

und der Blitz fährt nieder auf den Ozean

in jeder Zelle.

Und dort, vor allem Anfang,

wo die Doppelhelix

wie eine Stimmgabel angeschlagen wird,

ertönt ein Summen,

im dem das All mitschwingt.

Solcherart ist das Potential, wenn sich zwei Menschen auf ihre Menschlichkeit konzentrieren und ein Dreieck bilden, dessen Scheitelpunkt die lang gesuchte Wahrheit und deren Basis das solide Fundament einer bewußten, engagierten Partnerschaft ist. Dieses Netz trigonometrischer Punkte richtet sich auf die Heilung, für die sie Geburt annahmen. Auf eine Inkarnation des Geistes. Eine Verkörperung des Herzens.

In Liebe umarmen

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