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Kapitel 2 Den Göttlichen Geliebten erkennen
ОглавлениеVor einigen Jahren bat man uns, einen Vortrag über Heilung zu halten, dessen Termin, wie sich herausstellte, auf den Valentinstag fiel. Als wir aus der Stille unseres Refugiums in den Bergen in die Betriebsamkeit der „großen Stadt“ eingetaucht waren und den Vortragsraum erreichten, waren wir tief beeindruckt von der Aufmerksamkeit und Herzlichkeit, die unter den eintreffenden Zuhörern zu beobachten war. Viele Paare waren einander behilflich. Wer allein war, wurde von denen, die jüngst einen Angehörigen oder Gefährten verloren hatten, zu einem Sitz geführt. Wir sahen die müden, fast durchscheinenden Gesichter vertrauter Patienten, alter Freunde und Kollegen und anderer, die von Krankheit gezeichnet oder in ihren Sorgen ergraut waren. Viele waren wiedergekommen und hatten ihre Familie mitgebracht, ihre Freunde und Partner. Es waren Männer und Frauen ganz unterschiedlichen Gepräges – Teenager und Achtzigjährige, Hausmeister und Ärzte, Autoverkäufer und Poeten; sie waren schwarz, braun, gelb und weiß, es gab Schwule und Heteros, Gesunde und Kranke, Liebende und Geliebte – und sie alle hatten sich einem gemeinsamen Prozeß verpflichtet. Überall raunten die Stimmen, überall war Liebe. Fünfhundert Menschen hatten sich versammelt, um in dieser wunderschönen, alten, steinernen Kirche nach der Heilung zu forschen.
Ihre wachen Gesichter und der außergewöhnliche, fast weihevolle Tag, den wir bereits erlebt hatten, überwältigten uns mit Gefühlen liebevoller Güte.
Und wir dachten daran, wie perfekt sich dieser Tag dazu eignen würde, über die menschliche Güte und vielleicht sogar über jenes Wort zu sprechen, das wir insgeheim so sehr liebten, aber noch nie öffentlich verwendet hatten: der Göttliche Geliebte. Ein Wort, welches das heilige Herz mit einer tiefen Würdigung unseres innersten Wesens vereinigt. Ein Wort, das eine kontinuierliche Stärkung der spirituellen Praxis bewirkt, die aus unserer Beziehung entstand – und das unsere Praxis, die Arbeit an uns selbst zum innersten Kern unserer Verbundenheit macht.
Einige Male fragten wir uns, ob wir nun über Heilung sprechen mußten oder einfach von der Göttlichen Geliebten erzählen konnten – bis wir erkannten, daß diese Frage gegenstandslos war. Es gab keinen Unterschied. Wenn sich die Heilung immer weiter vertieft, erwächst daraus ein klareres Gefühl des Seins. Aus diesem Seinsgefühl heraus kristallisiert sich die Fähigkeit, „präsent zu sein“. Sind wir präsent, gelangen wir in „die Gegenwart“ – in den Raum, von dem der Prozeß getragen wird: der Göttliche Geliebte.
Wir halten den Begriff des/der „Göttlichen Geliebten“ aus mehreren Gründen für recht zweckmäßig. Zum einen besteht eine deutliche Parallele zwischen der Verwandtschaft des Herzens mit einer solchen Vorstellung und dem Hingezogensein des Persönlichen zum Universalen, zum anderen spiegelt sich darin natürlich unsere Praxis wider, dem Liebespartner als dem/der Göttlichen Geliebten zu begegnen.
Es ist ein Begriff, der in vielen spirituellen Traditionen zu finden ist und insbesondere in der Sufi-Tradition oft herangezogen wird, deren mystischer, devotionaler Aspekt die „verborgenen Geheimnisse“ zu ergründen und unmittelbar zu erfahren sucht, was man „den Göttlichen Geliebten“ nennt. In den vielleicht bedeutendsten Zeugnissen devotionaler Poesie, nämlich den außergewöhnlichen Dichtungen von Rumi, Kabir, Miribai und Rabia ist es einzig die Göttliche Geliebte, nach der gesucht wird. Dieser Geliebte ist der Kontext, in den die Verwundeten und Verängstigten eintreten können, diese ewig unverletzte und unverletzliche Unermeßlichkeit, die ihren Schmerz umarmt und in Güte verwandelt. Und alle, die ihr wahres Selbst suchen – seien sie nun Sufis oder Buddhisten, Christen oder Juden, Dschainas, Indianer oder Agnostiker – finden in der Göttlichen Geliebten die ewig erfahrbare Weite unseres wahren Herzens, unserer Urnatur. Jeder entdeckt hier den Zugang zur Freiheit, zur göttlichen Kraft, die unseren See der Tränen in den Ozean des Mitempfindens verwandelt.
Der Göttliche Geliebte ist weder eine Person noch ein Ort. Er ist die Erfahrung tieferer und tiefster Ebenen des Seins, letztlich der Istheit selbst – der Grenzenlosigkeit deiner eigenen erhabenen Natur, deren Entzücken, deren absolute Unermeßlichkeit das Wort „Liebe“ zum Ausdruck bringt. Es geschieht nicht um des Begriffes, sondern um der Erfahrung willen, daß wir den Terminus der „Göttlichen Geliebten“ verwenden. Die Erfahrung dieser Urgewalt, der auch die Bezeichnung „göttlich“ nicht gerecht werden kann, ist die Erfahrung bedingungsloser Liebe. Sie ist absolutes Offensein, unbegrenztes Erbarmen und Mitempfinden. Wir gebrauchen dieses Konzept nicht, um die unnennbare Weite des Seins – unsere höchste Freude – zu benennen, sondern um die inneren Wunder und Heilungen anzuerkennen und als unser Geburtsrecht in Anspruch zu nehmen.
Als wir am Abend jenes Valentinstages zu sprechen begannen, ging mit den Worten „der Göttliche Geliebte“ ein Seufzen über unsere Lippen – eine sanfte Verneigung vor den im Raum Versammelten und vor jenem Raum in uns allen, der nur Liebe und grenzenloses Sein ist.
Und wir vereinten uns mit den Teilnehmern zu einer Erkundung der Ganzheit. Jener Ganzheit, die unsere Unvollkommenheit trägt, der tiefen Quelle des Seins, die jenseits aller Konzeptionen liegt und deren Atem reine Liebe ist – und welche wir auf unserer verzweifelten Suche nach etwas, das ihre Unermeßlichkeit umfassen kann, die Göttliche Geliebte nennen. Doch dieser Geliebte ist nicht etwas, das wir kennen, sondern das, was wir sind. Es ist nicht etwas, worüber du nachdenken kannst. Es ist das, worin die Gedanken schweben, und zugleich das, was alles Denken übersteigt. Es ist das Herz des Seins, wo reines Gewahrsein und reine Liebe nicht voneinander zu unterscheiden sind. Dein/e Geliebte/r ist ein Gedanke, aber der Göttliche Geliebte ist der Raum, in dem jener geliebte Gedanke schwebt.
Dieses Gefühl der Präsenz, des Nur-Seins führt uns, wenn wir es erkunden, zur Erfahrung der Göttlichen Geliebten. Zuweilen geht das Herz in Flammen auf, und der Geist ist sanft und klar. Gewöhnlich aber ist es einfach eine schlichte Weiträumigkeit und Gelassenheit, welche die Gedanken in der Güte und im Gewahrsein schweben läßt und das evolutionäre Streben in jedem Wesen erkennt, dem sie begegnet.
Der gottestrunkene Dichter Kabir flüstert uns zu, daß der Göttliche Geliebte „der Atem innerhalb des Atems“ sei. Daß dein Herz gleich der Sonne immer erstrahle. Doch wie bei der Sonne wird auch die Wärme des Herzens von jedem flüchtigen Schatten verdeckt. Es genügt eine langsam ziehende Wolke oder ein ungebetener Gedanke, um ihre Wahrnehmung zu verhindern. Indessen scheint die Sonne ohne jede Mühe, und auch wir brauchen nichts zu tun, um die Göttliche Geliebte zu erwecken. Der Geliebte ist einfach. Tatsächlich entdecken wir den Geliebten bei unserem Forschen im Zentrum dieses unbeschreiblichen Gefühls des Nur-Seins, der lstheit völlig spontan – als aus sich selbst heraus strahlend, als die Gegenwart innerhalb der Gegenwart. Um der Göttlichen Geliebten zu begegnen, brauchen wir uns nur sanft von allem zu lösen, was nicht liebt, was bewertet und von alten Eindrücken und überlebten Verhaftungen des Geistes ausgebrütet wurde. Alles wird dann in der natürlichen Weite Heilung finden, die jenseits unserer erworbenen Konditionierung beginnt.
Doch sind wir so benebelt von den vermeintlichen Identitäten unserer oberflächlichen Konditionierung, daß wir nur sehr wenig von dem erkennen, was wir aus unserer Tiefe heraus tatsächlich mit dem anderen teilen können.
Ein unglückliches Beispiel für das profunde Unwissen über unser wahres Selbst liefern uns die Geschichten der Nahtod-Erfahrungen, die heute recht verbreitet sind. Oft hören wir von Erlebnissen, in denen Leute ihren Körper verlassen, von oben her auf ihn herabblicken können und sich durch einen Kanal oder Tunnel bewegen, wonach sie schließlich in ein gewaltiges Gefühl der Präsenz, in ein großes Licht eintreten. Viele von denen, die so etwas erlebten und in ihren Körper zurückkehrten, berichten davon, daß sie Jesus oder Buddha begegnet seien, daß sie Maria oder Gaia (die Erdgöttin) erfahren hätten. Vor einigen Jahren erzählten Kinder, die eine Nahtoderfahrung gemacht hatten, sie hätten Mr. Spock getroffen. Heute ist es Donatello von den Mutant Ninja Turtles, der in ihren Geschichten auftaucht. Es sind Verkörperungen der Allmacht, der gewaltigen Stärke. Aber der Inhaber göttlicher Kräfte oder großer Weisheit wird immer wieder als ein anderer oder etwas anderes personifiziert. Es ist interessant, wie wenige zurückkehren und berichten, daß sie dieses gewaltige Licht, dieses erfüllende Gefühl von endlosem Sein, von heiliger Soheit als ihr eigenes wahres Wesen erkannt hätten: „Ich selbst war es, ich war der Göttliche Geliebte.“ Die meisten hingegen, ihres eigenen erhabenen Wesens entfremdet, erzählen nach ihrer Rückkehr, daß sie einer Gottheit begegnet seien, denn sie hätten diesen Frieden und diese Klarheit niemals als ihr eigenes leuchtendes Zentrum begreifen können, als das Licht ihres grenzenlosen Bewußtseins, gebündelt zu einem einzigen strahlenden Glanz – als ihr eigenes wahres Wesen, das nicht länger eingegrenzt war und von Natur aus auch niemals einzugrenzen ist.
Normalerweise gleicht unser Bewußtsein dem Licht eines durchschnittlichen Tages. Es ist ziellos und diffus, es beleuchtet nur die freiliegende Oberfläche, auf die es zufällig fällt – einen Baum, einen Felsen, eine Person, ein Wort, einen Duft, einen Geschmack, einen Sinnesreiz. Dieses schwache Licht wirft merkliche Schatten, läßt aber kaum die Einzelheiten des Objektes erkennen, die es bescheint. Indessen ist es selbst an den kältesten Wintertagen möglich, dieses Licht mit einem Vergrößerungsglas zu sammeln, so daß ein blendender Lichtpunkt entsteht, der alles, was er trifft, entzünden kann. Selbst das diffuse Licht des allerkältesten Tages wird, wenn es in einem einzigen Punkt fokussiert wird, zur „Flamme des Gewahrseins“ und vermag die dunklen Winkel und das strahlende Tor zu erleuchten. Ebenso wie dieses weit zerstreute, ungebündelte Licht gleitet das Bewußtsein gewöhnlich von Objekt zu Objekt, ohne seine eigene Präsenz richtig zu erfahren. Sobald dieses Licht aber fokussiert wird, sobald das Gewahrsein empfänglich und konzentriert ist, klärt es den Weg zum Herzen. Dies ist das Licht, das wir vor uns erblicken, wenn wir uns nach dem Tod unserem wahren Herzen nähern. Es ist die Göttliche Geliebte. Es ist das, was wir wirklich sind, wenn wir das Licht nicht mehr in seine prismatischen Komponenten zerlegen wollen, um leuchtende „Komplementärfarben“ für die fahle Maske unseres kleinen Geistes zu gewinnen.
So wie es nur wenige Menschen gibt, die ihr eigenes Wesen als den Göttlichen Geliebten erkennen, so sind es auf der anderen Seite viele, die des Wesens nicht gewahr sind, das ihnen am Frühstückstisch gegenübersitzt. Nur wenige sind dem Herzen so tief verbunden, daß keine Achtlosigkeit das Erkennen ihres wahren Wesens oder gar des innersten Wesen ihres Liebespartners trübt. Die meisten leben ihr Leben ohne nennenswertes Bewußtsein der Unermeßlichkeit, die in der gemeinsamen Weiträumigkeit des Seins zur Verfügung steht – jener grenzenlosen Ruhe, die tiefer reicht als jeder Gedanke und uns immer miteinander verbindet – in der wir in Wechselbeziehung treten und unsere Heilung auf Ebenen fördern können, die uns zuvor verschlossen waren.
Vielleicht ertragen wir es einfach nicht, klar zu erkennen, wieviel wir versäumen. Vielleicht können wir einfach nicht glauben, daß wir wirklich die Göttliche Geliebte sind. In gewisser Weise vermute ich, daß eine geistige Stimme uns sagt, wir seien dieser Verantwortung nicht gewachsen. Wir haben uns wohl allzusehr an unseren Schmerz gewöhnt, haben unser Wohlergehen schon allzulange gegen vertrautes und definierbares Leid eingetauscht.