Читать книгу In Liebe umarmen - Stephen Levine - Страница 15

Kapitel 7 Auf dem Friedhof des Göttlichen Geliebten

Оглавление

Beim Verfassen eines Buches wie diesem, das sich mit dem außergewöhnlichen Heilungspotential und den erstaunlichen psychologischen und spirituellen Einsichten beschäftigt, die das Ergebnis einer bewußten, engagierten Beziehung sind, ist es wichtig, diesen Prozeß nicht zu idealisieren. Auf dem Papier mag dies alles sehr schön aussehen – seine Verwirklichung aber ist eine wahre Lebensaufgabe. Es ist ein 24-Stunden-Training der Selbstoffenbarung, der Erforschung, der Einsicht, der Befreiung und der Heilung. Niemand ist darin perfekt. Jeder bringt sich so gut wie möglich ein, mit der Klarheit und Hingabe, die er in diesem Augenblick aufbringen kann. Ist man in diesem Augenblick präsent, ist man auch dort, wo Heilung und Göttliche Geliebte zu finden sind.

Manchmal erscheint es so, als sei eine solche Praxis der gemeinsamen Erkundung des spirituellen Wesens einer Liebesbeziehung die Aufgabe, derentwegen wir auf die Welt gekommen sind. Man ahnt, daß die verstreichende Zeit dabei keine Rolle spielt, wenn der Pfad erst einmal beschritten und der Blick in zunehmender Ruhe auf das Licht gerichtet wurde. Mit dem Erscheinen neuer Entfaltungsmöglichkeiten entsteht das Gefühl, sehr viel leichter mit allem zurechtzukommen.

Zu anderen Zeiten wachen wir vielleicht morgens auf, verspüren eine unmotivierte Sorge und blicken uns verwirrt im Zimmer um. Ist von unserer Praxis nichts mehr zu spüren? Was ist aus unserer Weitherzigkeit, aus unserem Selbstvertrauen geworden? Wir liegen da, fühlen uns hilflos und enttäuscht – wie konnten wir nur glauben, daß so etwas funktionieren würde?!

Diese Momente, in denen es nicht recht laufen will, sind es, da du auf eine schwere Probe gestellt wirst. Zweifel, Schamgefühle, Erschöpfung, Wut und Bewertung lassen den Eingang zum Herzen veröden, verringern die Kraft zur Klarheit und Anteilnahme. Von unserer Furcht geschwächt, klammern wir uns an Gewohntes, an unser ursprüngliches Leid. Wir greifen zurück auf die vertraute Hölle. Wir destillieren Leid aus unserem Schmerz. Wir verkriechen uns in unseren Wunden.

Solche Augenblicke eines verschlossenen und vom Kummer verschleierten Herzens bedeuten für viele den Ruin einer Beziehung. Andere jedoch, die ihren Schmerz überschreiten wollen, um das eigentliche Leben zu entdecken, betrachten die Schwierigkeiten einer Partnerschaft nicht als Fluch, sondern als Segen. Sie sehen eine Gelegenheit, den anderen als sich selbst zu erkennen – und zu begreifen, daß jene Dualität keineswegs so real und definierbar ist, wie der rationale Geist behauptet. Sie entdecken, daß sich das Herz öffnet, wenn wir die Ursache seines Verschlossenseins erkunden, und sie erfahren, um Thomas Mertons Worte zu gebrauchen, daß wir „die wahre Liebe und das wahre Gebet erst dann erlernen, wenn wir des Betens nicht mehr fähig sind und das Herz zu einem Stein geworden ist.“

Manche beklagen, daß es die Mißverständnisse, das Auf und Ab der Gefühle, die ständig wechselnden Grenzen auf unseren privaten Landkarten, die Balance zwischen Zuwendung und Eigeninteressen, die schmorenden Überreste mißlungener Interaktionen seien, was „den Tod einer Beziehung“ herbeiführe. Und sie üben sich in Skepsis und dumpfer Hilflosigkeit. Doch für das engagierte Herz, das über den Geist des Leidens hinausgelangen will, bietet sich gerade hier Gelegenheit, Kaltherzigkeit und individuellen Kummer bewußt loszulassen. Hier wartet ein reifes Feld der Erkundung, ein Tor zu neuem Leben.

Kürzlich erhob einer der Teilnehmer eines Workshops die Hand und sagte, er wolle über etwas sprechen, was er den „Friedhof“ seiner früheren, gescheiterten Beziehungen nannte. Er erzählte mit einer gewissen Verlegenheit, daß er bereits fünfmal verheiratet gewesen sei und sich gerade bewußt werde, an diesen Scheidungen „wohl nicht ganz unschuldig“ gewesen zu sein. Er habe auf die „auf dem Schlachtfeld liegengebliebenen Skelette“ seiner einstigen Partnerschaften zurückgeblickt und mit Schaudern die bodenlose Unbewußtheit erkannt, mit der er in jede menschliche Interaktion hineingegangen sei. Schließlich war sein Schmerz so groß, daß er ihn nicht länger ignorieren konnte. Er fühlte nun, daß sein verschlossenes Herz kein geeigneter Navigator auf dem Weg zur Heilung und zum Glück war, nach dem er immer so verzweifelt gesucht hatte. Seine nächste Beziehung wird wahrscheinlich seine erste sein.

Wir sind in den Jahren unserer spirituellen Wanderschaft vielen außergewöhnlichen Frauen und Männern begegnet, aber es war niemand dabei, der sagen konnte, daß ihm „Beziehungsprobleme“ vollkommen unbekannt seien. Um bedingungslos lieben zu können, müssen wir über Bedingungen und Bedingtsein hinausgehen. Dann erneuert sich unsere Liebe in jedem Augenblick und ist so lebendig, daß wir sie eine unbedingte Liebe nennen können – eine Liebe, die von früheren Enttäuschungen unbeeinflußt bleibt. Eine mühelose Äußerung des „präsenten Herzens“.

Die Probleme einer Beziehung als Mittel zur Vertiefung der Verbindung zwischen Herz und Geist, zwischen mir und dem anderen, zwischen dem Liebespartner und dem Göttlichen Geliebten zu gebrauchen, umfaßt das Bemühen, den gegenwärtigen Moment Teilchen für Teilchen, Molekül für Molekül, Sekunde für Sekunde zu erforschen – so wie er ist. Dabei erkennen wir jenseits von Ablehnung und Furcht, was uns verschließt, aber ebenso, was unser Offensein bewahrt. Und es entwickelt sich eine Aufrichtigkeit, die so stark sein kann, daß sie uns hin und wieder verletzt. Wir müssen bereit sein, in die Liebe hineinzusterben und den Geist vollständig dem Herzen auszuliefern.

Ein solches „Sterben“ des Geistes im Herzen, jenseits der scheinbaren Trennlinien des Selbst, wird wundervoll in William Bucks bemerkenswerter Übersetzung des Ramayana illustriert, jener klassischen heiligen Schrift der Hindus, in der vom Dämonenkönig Ravana erzählt wird, der Ramas Braut Sita entführt (Rama ist der spirituelle Prinz). Der Schattenkönig hat sich der Geliebten bemächtigt. Die Geschichte schildert ausführlich Ramas Heldentaten und seinen unaufhaltsamen Tatendrang, das Licht – Sita, die Braut des Herzens – wiederzugewinnen, was es auch kosten möge. Nach ausgedehnten Kämpfen und zahllosen Opfern stehen sich der heilige Rama und der frevelhafte Ravana in einer erbitterten Schlacht gegenüber. Nach gewaltiger Anstrengung gelingt es dem Licht, den Schatten zu durchdringen. Ravana wird getötet.

Am nächsten Tag überbringt einer der Untertanen des besiegten Dämonen Rama eine Nachricht, den sogenannten „Stein-Brief“. Rama erbricht den Brief und liest, was Ravana ihm am Vorabend seines Todes geschrieben hat. Ravana preist Ramas außergewöhnliche Hingabe an die heiligen Welten des Lichtes und der Heilung. Und er schreibt weiter, daß er sich zwar an den Schattenreichen ergötzt und sogar die Macht über die wilden Tiere des Geistes erlangt habe, aber nicht in der Lage gewesen sei, die Unermeßlichkeit des Herzens zu erleben. Er glaube, daß er in den zutiefst unbefriedigenden Sphären der Herrschaft und Macht sein Möglichstes getan, daß er seine Aufgabe nun erfüllt habe und nur noch darauf warte, „von Gott getötet zu werden“. Er verkündet, daß seine eigentliche Absicht beim Raub der Geliebten Ramas und im Ausfechten der hitzigen Schlachten darin bestanden habe, getötet zu werden und so durch den Göttlichen Geliebten, durch dieses gewaltige Licht von seinen finsteren Verlangen befreit zu werden. Ravana verkörpert die Hindernisse auf dem Weg zum Herzen. Es ist jener Teil von uns, der nach Heilung ruft und einzig danach verlangt, in der Umarmung des Heiligen zu vergehen.

Es sollte hier nicht unerwähnt bleiben, daß die Vorstellung, „von Gott getötet zu werden“ – ein gern benutztes Bild in Teilen der spirituellen Literatur – zwar in bestimmten romantischen Gefilden von Herz und Geist Resonanz hervorruft, dennoch aber irreführend sein kann. Die dahinterstehende Idee vertritt nicht etwa eine Konspiration des Leidens, die darauf zielt, „das Ego zu töten“ und oft zu einer Art spiritueller Verstopfung führt. Sie dient indes der Erinnerung an die Macht des Göttlichen Geliebten zur Heilung des Ungeliebten. Vielleicht werden wir eines Tages den Versuch aufgeben, bestimmte Seiten in uns zu eliminieren und entdecken, was es bedeutet, tatsächlich eine Ganzheit zu sein. Wir mögen gewahr werden, daß wir dem in uns, was verwirrt ist und seine Existenz ständig beweisen will, mit Güte begegnen können. Daß zur Ausrottung des persönlichen Selbst eine Alternative besteht: eine Heilung, eine Integration dieser schmerzhaften Einbildung in ein freudigeres Ganzes. Wir töten das Ego nicht, sondern bieten ihm den Frieden an, bringen es ganz und gar der Göttlichen Geliebten dar. Und für dieses Geschenk bietet uns der Geliebte eine Rose, mit der wir den Körper unserer Leiden und uralten Verklammerungen auflösen können, um uns daran zu erinnern, wer wir wirklich sind, wenn wir uns von Zorn, Angst und Selbstverachtung lösen. Wenn wir uns jenseits unseres Kummers dem Herzen nähern, das keinen „anderen“ kennt, sondern nur sich selbst – wohin es den Blick auch wendet.

Dies sind der Tanz und das Wissen um den Gebrauch der Partnerschaft zur Befreiung des Herzens.

In der alten chinesischen Schrift gibt es für „Herz“ und „Geist“ nur ein einziges Ideogramm. Die Partnerbeziehung ist der Pfad, auf dem wir diese Wahrheit nicht nur erkennen, sondern direkt erfahren.

Verständnis reicht nicht aus. Es kann nur ein Anfang sein. Erst Partnerschaft führt unser Verständnis auf den festen Boden des Seins.

In Liebe umarmen

Подняться наверх