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Kapitel 3 Erwachende Möglichkeiten
ОглавлениеViele Menschen leiden unter der Altersschwäche ihrer Beziehung. Der Geist ist von seinen Anstrengungen völlig erschöpft. Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Abneigung gegen neue Erfahrungen (Widerstand) haben Verwirrung in uns hinterlassen, obgleich wir nach wie vor unser Verständnis beteuern.
Viele sind ausgebrannt und entmutigt. Das Herz trägt die Narben alter Wunden. Der Geist hat sich fest verschlossen. Der Körper verkümmert in hartleibigem Mißtrauen. Doch das Gefühl des Verlustes und des Verlorenseins erweckt schließlich doch unsere Aufmerksamkeit, und wir erkennen, daß uns niemand anders glücklich machen kann als wir selbst. Allmählich sind wir bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wir entwickeln mehr und mehr die Fähigkeit, zu antworten statt zu reagieren. Wir konzentrieren uns auf unseren Widerstand und werden gewahr, daß eine Beziehung Arbeit an uns selbst bedeutet. Was ein Freund einmal „diese ganze Beziehungs-Katastrophe“ nannte, integrieren wir in das gütige Herz und in den forschenden Geist, so daß sich bei der nächsten Gelegenheit nicht nochmals das alte Spiel wiederholt.
Und wir verschreiben uns einer „lebendigen Zweiheit“, einer geweihten Partnerbeziehung, einer Beziehung zum Bewußtsein, in der die Kraft einer bewußten Beziehung klar wahrgenommen wird. Wir arbeiten an uns selbst – gemeinsam.
Auf dem Friedhof all unserer früheren, unglücklichen Beziehungen – die uns Stück für Stück gelehrt haben, was glückliches Verbundensein bedeutet – haben wir an jener anderen Person gearbeitet. Wir schmähten sie, wenn sie nicht dem entsprach, was wir zähneknirschend bei uns selbst vermißten. Wir drangsalierten den anderen und zugleich uns selbst im Schatten unseres unbereinigten Kummers.
Endlich aber hören wir damit auf, eine Beziehung herzustellen – wir lassen sie einfach zu. Wir beginnen die Chancen und Möglichkeiten zu erahnen, die wir in den Momenten verpaßten, als wir unser Herz dem Leid des anderen verschlossen, als es uns wichtiger erschien, „recht“ zu haben als weitherzig zu sein. Es waren Momente unverarbeiteten Kummers, in deren allzu lautem Tonfall jede Liebe unterging. Weil wir erkennen, daß unklare Absichten unbefriedigende Resultate produzieren, gehen wir dem schmerzhaften Kreislauf von Unversöhnlichkeit und Groll auf den Grund. Wir erkunden die unerledigten Geschäfte, die passive Aggression und die aggressive Passivität, die fortwährend die Trennlinie zwischen mir und dem anderen markiert – die Angst um unser bedrohtes Selbstbild. Die ständige Verdrängung der Gegenwart durch die Schatten der Vergangenheit. Das Bedürfnis, begehrt zu werden, das sich knirschend an dem Begehren reibt, bedürfnislos zu sein. Streitigkeiten. Machtspiele. Der Widerwille gegen jedes Nachgeben.
Das Gräberfeld der Beziehungen zu durchforsten, so spüren wir, „funktionierte“ nicht. Wir erwachen wie aus einem ständig wiederkehrenden Traum, und unsere Beziehung wandelt sich zu der „Arbeit, die zu tun ist“, um Buddhas Worte zu gebrauchen.
Dies bedeutet, dort loszulassen, wo unsere Grenzen beginnen – uns aus dem sicheren Territorium hinaus in das Unerforschte und oft tief Verneinte zu wagen. Es bedeutet, eine Liebe noch größer zu machen als unsere Angst davor, uns als ungeliebt und unliebenswert zu entblößen. Die Liebe stärker zu machen als unsere Angst vor Schmerz.
Wenn wir uns für Praktiken entscheiden, die den Geist klären und das Herz offenbaren – wie Achtsamkeit, Vergebung und liebevolle Güte – dann kann das, was einmal unentwirrbar erschien, zum eigentlichen Kern unserer Beziehung werden. Mag in solchen Momenten auch nur eine minimale Bewegung, eine geringe Linderung unseres Kummers möglich sein, so wird doch schon der winzigste Schritt als große Bewegung belohnt. Bereits unsere Absicht birgt ein bedeutendes heilendes Potential. Die bloße Bereitschaft, nicht zu leiden oder dem anderen Schmerz zuzufügen, weitet sich zu einem Raum, der Heilung und Frieden ermöglicht. Zu einem Freiraum, in dem auch unser Liebespartner loslassen kann. Indem wir dem eigenen Kummer in unserem Herzen Raum geben, öffnen wir unser Herz auch für den Kummer des anderen.
Unsere schrittweise Annäherung an den Göttlichen Geliebten erinnert uns stets daran, daß wir alle im selben Boot sitzen. Wie sagt doch Kabir:
Der Geliebte ist in dir, und er ist auch in mir;
du weißt, daß sich der Sproß im Samen verbirgt.
Wir alle mühen uns ab, doch niemand hat es weit gebracht.
Laß ab von deinem Hochmut und sieh dich im Inneren um.
Der blaue Himmel öffnet sich weiter und weiter,
das stete Gefühl des Scheiterns versiegt,
der Schaden, den ich mir und anderen zufügte, verblaßt,
und Millionen Sonnen treten in ihrem Licht hervor,
wenn ich unerschütterlich in jener Welt ruhe.
Ich höre Glocken klingen, die niemand läutete,
die „Liebe“ birgt eine Freude, die all unser Wissen übersteigt.
Regen fällt herab, obwohl der Himmel frei von Wolken ist.
Ich sehe Flüsse aus reinem Licht.
Alle Räume des Universums sind durchdrungen von einer einzigen Liebe.
Wie schwer ist es doch, diese Freude in all unseren Körpern zu fühlen!
Die auf ihren Verstand hoffen, gehen fehl.
Der Hochmut des Verstandes hat uns von jener Liebe getrennt.
Allein mit dem Wort „Verstand“ fühlst du dich meilenweit entfernt.
Kabir erinnert uns noch einmal daran, daß jedes Liebesverhältnis eine Beziehung zur Göttlichen Geliebten ist. Er beendet sein Gedicht, indem er sagt, daß diese Arbeit „von zwei Seelen kündet, die einander begegnen“ – jenseits des Lebens und sogar jenseits des Todes. Daß eine Beziehung einfach die Begegnung eines Seins mit einem anderen in reiner Istheit bedeutet. Daß unsere Weigerung, entschlossen zu erkunden, was diese Begegnung beschränkt, uns zutiefst unglücklich macht. Und daß wir unsere Ganzheit in einem barmherzigen Gewahrsein finden, das an nichts haftet und nichts beurteilt – in einer reinen Präsenz, die den natürlichen Strom liebevoller Güte durch nichts behindert.