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Kapitel 6 Beziehung als Heilung
ОглавлениеAls Ondrea und ich einander begegneten, hatte sie bereits zwei Krebsoperationen hinter sich. Bei der ersten Operation wurden Zervix und Uterus entfernt. Bei der zweiten exzidierte man Tumore aus ihrer Blase. Es lag auf der Hand, daß unser gemeinsamer Eintritt in das weite Potential emotionaler und spiritueller Heilung, das sich in unserer Zusammenarbeit anzubieten schien, erst einmal bedeuten würde, daß wir uns auf den physischen Körper konzentrieren mußten. Nachdem wir beide also jemanden gefunden hatten, mit dem wir den partnerschaftlichen Weg vollenden konnten, jemanden, der sich verpflichtet hatte, mit uns durch dick und dünn zu gehen, bestand unsere erste Aufgabe darin, unsere tägliche Aufmerksamkeit im Erforschen immer tieferer gemeinsamer Ebenen auf die Heilung des Physischen zu richten. Hier wartete etwas so Kostbares, daß es sich lohnte, unsere gesamte Energie zu investieren: eine heilende Partnerschaft.
In den ersten Jahren war die Heilung des Körpers täglicher Bestandteil unserer Lebensweise. Lang gehütete, halb verstandene Konzepte über das Kranksein, über den Körper und auch über die „Gesundheit“ zerrannen eines nach dem anderen, während uns die zunehmende Einsicht in die wirkliche Tragweite einer Heilung für Ebenen des Lebens öffnete, die der Mutlosigkeit eine Brücke zum Herzen schlugen. Gesundung war das, was uns bekannt und doch zugleich weit entfernt war. Heilung war das Mysterium, das immer Gegenwärtige. Gesundung schien allein auf den Körper beschränkt zu sein, Heilung dagegen fortschreitend, zeitlich unbegrenzt, vieldimensional. Wenn wir unserem Pfad mit dem Herzen folgten, würde, so spürten wir, sich der Körper anschließen. Die Prioritäten jedenfalls waren geklärt. Gewissermaßen suchte Ondrea, suchten wir beide nicht mehr nach einer eigenen, persönlichen Heilung, sondern nach einer Heilung füreinander, für die Erkundung, auf die wir uns eingelassen hatten – und letztlich auch für die fühlenden Wesen, denen sie vielleicht dienen konnte. Indem wir uns gemeinsam der Heilung anvertrauten, für die wir Geburt angenommen hatten, zogen sich Isolation und Angst immer mehr aus der Krankheit zurück. Auf jeder neuen Ebene tieferen Gewahrseins begann auch eine Heilung – das Geheimnis lüftete sich ein wenig, und die unbeschreibliche Eintracht unserer Herzen verband uns immer stärker.
Natürlich durchlebten wir in diesen ersten Jahren auch den Tanz der Körper und Seelen, die einander (und damit auch sich selbst) entdeckten und näherkamen. Belanglose und überlebte Beziehungsformen wurden durchgespielt und fallengelassen. Doch selbst in den Zeiten, in denen unsere Gemüter getrübt waren, bestand jenseits dieser Konfusionen die ewig gegenwärtige, konkrete Verbundenheit und Verpflichtung, die uns immer daran erinnerte, geradewegs auf das Herz der Heilung zuzugehen. Manchmal war es schwer zu entscheiden, ob wir nun Pilger auf einem Pfad oder Clowns in einem Zirkus waren, aber der nächste Schritt war immer der gleiche: in die Liebe hinein loszulassen, Erbarmen und Gewahrsein zu vertiefen, jede mögliche Last von unseren Schultern zu nehmen, Augenblick für Augenblick. Die Bürde leichter zu machen. Zu heilen.
Das Potential einer heilenden Beziehung besteht in ihrem Vermögen, sich vor dem Hintergrund völligen „Nichtwissens“ durch Triangulation auf das Mysterium zuzubewegen. Es umfaßt eine seelische Offenheit, die nicht länger am „Gewußten“ und Unzureichenden haftet – einen Geist, welcher der Wahrheit gegenüber verwundbar ist.
Etwa zwei Jahre nach Beginn dieses Prozesses erfuhr Ondrea von einem sehr engen Freund, einem Fachmann auf dem Gebiet fernöstlicher Medizin, daß sie mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen könne, innerhalb des nächsten halben Jahres zu sterben. Er war ein erfahrener Akupunkteur, dessen Behandlung wir uns zweifellos anvertraut hätten – doch wir wohnten über 1600 Kilometer von ihm entfernt. Er war aufrichtig um Ondreas Wohlergehen bemüht und zeigte mir mit einem Stift die Akupunkturpunkte an ihrem Körper, die seinem Gefühl nach regelmäßig stimuliert werden müßten, damit ihr Körper sich re-orientieren und selbst heilen konnte. Obwohl ich die Akupunktur niemals zuvor praktiziert hatte, schenkte er mir einen Satz Nadeln und sagte: „Das ist zwar nicht ganz die Art, die ich mir wünschen würde, aber wenn man den Ernst der Situation bedenkt, dann habt ihr wirklich nichts zu verlieren. Sei einfach empfindsam und vertraue deinem inneren Gefühl.“
Während des folgenden Jahres setzte ich die Nadeln mindestens dreimal in der Woche in extrem empfindliche Bereiche auf Ondreas Rücken, ihren Knien und ihrem Unterleib. Wir hofften, dies würde Energie in die Bezirke physischer Unausgeglichenheit leiten. Manchmal verliefen diese Sitzungen sehr sanft, und Ondrea fühlte sich auf der Stelle neu belebt. Manchmal zuckte sie aber auch unter Schmerzen zusammen und fühlte sich innerlich wie von einer Stichflamme getroffen, weil ich mich mit den Nadeln ungeschickt anstellte. Es war eine der außergewöhnlichsten Situationen meines ganzen Lebens – ich mußte ausgerechnet dem Menschen Schmerz zufügen, dem ich am meisten wünschte, davon frei zu sein. Es war eine unbeschreibliche Lektion in Hilflosigkeit, die auf der anderen Seite aber unser Vertrauen und unsere Bindung vertiefte.
Wir verließen uns auf der physischen Ebene darauf, was wir auf der mentalen Ebene entdeckt hatten: daß durch Erbarmen und Gewahrsein Heilung in jene Bereiche fließt, aus denen wir uns seit langem furchtsam und ärgerlich zurückgezogen haben. So folgten wir dem Pfad der Anerkennung des Schmerzes, indem wir uns ihm näherten – seinen Gram, seinen verkalkten, äußeren Ring des Denkens und des Widerstandes erforschten und mit liebevoller Güte auf ihn eingingen. Wir ließen den Schmerz von Augenblick zu Augenblick in Achtsamkeit und zeitloser Güte schweben. So wie dieser Prozeß stets die Erleichterung und Heilung mentaler Schmerzen gefördert hatte, so schien er auch die Entspannung und Linderung physischer Beschwerden zu unterstützen. Während wir die Ebenen schmerzender Verklammerungen und ausgedienter Abwehrhaltungen schrittweise freilegten, erlebten wir die Freude, einfach zu sein – gesund oder krank, geheilt oder ungeheilt. Still lauschend, welcher Schritt als nächster sinnvoll sein mochte.
Manchmal mußten wir fast weinen, wenn ich eine Nadel drehen oder eine andere tiefer setzen mußte. Hin und wieder kamen die Kinder ins Schlafzimmer und sahen Ondrea auf dem Bauch liegen, mit einem Dutzend Nadeln im Rücken, die wie Stacheln aufragten. Dann zogen sie ihre Schultern oft bis an die Ohren, als wollten sie die Bestürzung von sich fernhalten, und schlichen wieder hinaus. Es geschah aber auch, daß sie sich trotz ihrer Abneigung gegen alles, was mit Schmerz zu tun hatte, zu uns ins Zimmer setzten und schwatzten – etwas tief in ihrem Inneren vertraute der Liebe, die sich ausgebreitet hatte.
Die Notwendigkeit, völlig loszulassen und dem Prozeß „nichtwissend“ zu vertrauen, wurde zu einer machtvollen Komponente unseres Yogas heilender Partnerschaft. Es war eine wirklich außergewöhnliche Periode.
Nun, da diese Phase von „Himmel und Hölle“ einige Jahre zurückliegt, ist Ondreas Körper vom Krebs und den lebensbedrohenden Giftstoffen befreit. Wir können aus heutiger Sicht nicht sagen, ob es der Akupunktur oder der gemeinsamen, grenzenlosen Liebe zu verdanken war, daß diese Heilung möglich wurde. Vielleicht kam beides zusammen – wurde unterstützt von Ondreas wachsender Fähigkeit, sich selbst das zu schenken, was sie anderen Leidenden in den langen Jahren ihres Dienstes in Krankenhäusern und Pflegeheimen vermittelt hatte.
Fragte man uns jetzt, fünfzehn Jahre nach Ondreas letzter Krebs-Diagnose, wie sie den Krebs aus ihrem Körper verbannt habe, hätte keiner von uns eine Antwort darauf – wir „wissen es nicht“. Aber es scheint eine Kombination unserer Liebe und unserer Bereitschaft gewesen zu sein, ein gütiges Gewahrsein auf die zu heilenden Bereiche zu konzentrieren – wir hatten die Krankheit nicht geächtet oder Zorn auf sie ausgestrahlt, sondern sie in den Reichtum des Augenblicks aufgenommen.
Es gibt eine Denkrichtung, die zunehmend Ansehen gewinnt und das tiefgreifende Potential erforscht, welches eine familiäre und partnerschaftliche Umgebung für die körperliche Heilung bietet. Wenn das Ausstrahlen von Güte und heilendem Gewahrsein auf die eigene Krankheit, auf den eigenen Schmerz schon so wirksam ist, erscheint es naheliegend, daß sich dieses Potential immens verstärken kann, wenn auch andere ihre liebevolle Zuwendung und Anteilnahme auf dieses Ziel richten. Wir können uns vorstellen, wie heilsam es auf vielerlei Ebenen sein müßte, wenn sich die Seelen und Herzen mehrerer Menschen auf einen leidenden Angehörigen oder Freund konzentrieren würden. Es wäre ein gemeinsames Schöpfen aus der Quelle. Sowohl die kleine oder große Familie als auch eine Zweierbeziehung bergen einen bedeutenden Vorrat tiefer, heilender Kräfte.
Als sich unsere Experimente mit der Heilung erweiterten, benutzten wir zum Erproben dieser Techniken gewissermaßen unsere Körper als Laboratorien. Da wir in einem großen Lehmziegelhaus mit Holzöfen lebten, gerieten wir mit den Armen natürlich des öfteren an das glühendheiße Metall, wenn wir Brennstoff nachlegten oder umschichteten. Indem wir uns aber direkt in den Schmerz hineinversetzten, konnten wir das Nachlassen der ersten, schreckhaften Anspannung beobachten. Wir milderten unsere heftigen Reaktionen auf den Schmerz und stellten fest, daß die entstandenen Brandwunden sehr schnell heilten, wenn Vergebung und liebevolle Güte in die oft beißenden und stechenden Empfindungen geleitet wurden. Oft blieb nach einer oder zwei Stunden nur ein roter Fleck, gelegentlich auch eine Blase zurück. Und innerhalb einiger Tage war die Stelle vollkommen abgeheilt. Um dieses Akzeptieren einer normalerweise verabscheuten Empfindung zu testen, ließen wir umgekehrt auch die hartnäckigen Reaktionen angstvollen Zurückschreckens geschehen, indem wir auf unsere Techniken verzichteten. Dabei beobachteten wir, daß die Brandblasen viel ausgeprägter und schmerzhafter waren und mindestens eine Woche zu ihrer Heilung brauchten. Bei diesem Leben im Laboratorium wurde es fast schon zu einem Spiel, der einen Wunde Liebe zu übermitteln und der anderen nicht – um in uns selbst und für uns selbst zu erkennen, was dieser Heilungsvorgang bedeuten mochte.
Es ergaben sich auch weniger subtile Gelegenheiten, um die Effektivität dieses Prozesses zu testen. Wir arbeiteten mit meinem Nierenstein (dem zweiten innerhalb von zehn Jahren), saßen auf unseren Meditationskissen und konzentrierten uns intensiv auf die Empfindungen in meiner Harnröhre, wo der scharfkantige Stein große Beschwerden verursachte. Nach zwei Stunden war er zu einem feinen Pulver zerfallen, das leicht ausgeschieden werden konnte. Hätte ich bei meinem ersten Nierenstein schon etwas von der Möglichkeit geahnt, einem so heftigen Schmerz mit so viel Güte zu begegnen, wäre mir eine sehr harte Lektion über das Verstärken von Schmerzen infolge inneren Widerstandes erspart geblieben. Doch ich vermute, daß gerade diese erste Lehre für die zweite notwendig war.
Wir benutzten die heilende Kraft eines barmherzigen Gewahrseins auch weiterhin mit überraschendem Erfolg, indem wir diese Energie über die Jahre hinweg beispielsweise in einen angebrochenen Knochen, eine Halsentzündung, einen eingeklemmten Nerv oder in verschiedene Schnittwunden und Quetschungen leiteten. Anfangs glaubten wir noch, daß die positiven Resultate „einfach gar nicht wahr“ sein konnten, daß wir auf irgendeine Art von trivialer „Magie“ gestoßen seien. Was wir aber bei fortgesetzter Anwendung dieser Methoden schließlich entdeckten, war die Magie eines tief konzentrierten Gewahrseins und die ehrfurchtgebietende Kraft der Vergebung und Güte, etwas zu durchdringen, was verschlossen, betäubt oder auch wund gewesen war.
Und es gab noch weitere Möglichkeiten. Mit neunzehn Jahren hatte ich erfahren, daß ich an einer „angeborenen Wirbelsäulenschwäche“ litt. Ich hatte mir im College Bandscheibenrisse im Bereich des vierten und fünften Lendenwirbels zugezogen und zwecks einer Notoperation nach Hause zurückkehren müssen. In den folgenden Jahren machten mir Beschwerden im unteren Rücken, denen ich mit Aspirin und Bewegungseinschränkung beizukommen suchte, immer wieder zu schaffen. In meinen Vierzigern kam eine Bandscheibenlockerung im Halswirbelbereich dazu, die erhebliche Schmerzen verursachte und meine Bewegungsfähigkeit weiter herabsetzte. Meine erste Reaktion bestand darin, entzündungshemmende Medikamente zu nehmen und auf Besserung zu hoffen. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht. Mein Arm wurde taub, und Schmerzen strahlten bis in mein rechtes Auge aus.
Während der ersten Monate feilschte ich mit meinen Beschwerden. Mein Widerstand suchte nach Methoden, die mir Erleichterung bringen könnten, aber verhärtet wie ich war, glich das eher dem Versuch, einem rasenden Hund ein Stück Fleisch zuzuwerfen, um sich ihn einige Momente lang vom Leibe zu halten. Meine Beschwerden blieben unverändert. Ich klammerte mich an Praktiken, die meinen Geist ablenken sollten – anstatt das zu erkunden, was die Widerwärtigkeit dieser Erfahrung überhaupt so immens steigerte. Schließlich besuchte ich einen meiner Lehrer, um ihn zu fragen, wie ich den Schmerz loswerden könne. Doch statt sich in meine Fluchtmechanismen hineinziehen zu lassen, sagte er: „Suche nicht nach Erleichterung. Suche nach der Wahrheit!“ Dieser Ratschlag ist zu einer treibenden Kraft unseres Forschens geworden.
Gemeinsam gingen wir daran, die Empfindungen zu erkunden und Vergebung auf den Schmerz auszustrahlen. Indem wir ihm teilnahmsvoll antworteten statt wütend auf ihn zu reagieren, erwachte neues Vertrauen in unsere Heilfähigkeit. Wir bemerkten, wie sich Zweifel und Gefühle des Scheiterns in einem tieferen Glauben an den Prozeß verloren, und die Schmerzen ließen allmählich nach. Auch konnte ich meinen Hals nun leichter bewegen. Neue Röntgenaufnahmen riefen allerdings beim Arzt nur ein Stirnrunzeln hervor. Sein Vorschlag, endlich eine Operation vorzunehmen, verblaßte wieder einmal in der Leere des „Nichtwissens“, in der Aussicht, etwas zu überschreiten, was andere schlichtweg für unheilbar erklärten. Und heute, nach einigen Jahren, verursacht das, was mich damals außer Gefecht zu setzen drohte, nur noch gelegentliche, leichte Beschwerden. Die spinale Degeneration ist offenbar nicht weiter fortgeschritten, und von einem Mangel an Flexibilität oder anderen Symptomen ist die meiste Zeit über nichts mehr zu spüren.
Jedes zunehmende Schmerzgefühl im gemeinsamen Körper/Herzen mahnt uns nun zum Gewahrsein, zur Güte, führt zwei Herzen in einem einzigen Brennpunkt zusammen. Wir können summend im Laboratorium verweilen, uns der Heilung öffnen und den Tanz fortsetzen, der sich langsam dem Göttlichen Geliebten nähert.
Wir alle sind verwundete Heiler/innen auf dem Weg zur Vollendung, die dicht unter der Oberfläche äußerer Verhaftungen den Zugang zu ihrer Ganzheit finden. Das gemeinsame Erkunden der Sorgen und Schmerzen führt uns zu einem Gefühl der Befriedigung und Ganzheit. In diesem Laboratorium wird das Leben zu einem Experiment der Wahrheit.
Im Verlauf einer harmonischen Liebesbeziehung entwickelt sich eine Einstimmung, welche romantische Liebe in eine spirituelle Beziehung verwandelt. Dies erweitert unser Potential für einfühlsame, synchrone Heilung. Auf der Ebene, wo wir im Mysterium verbunden sind – dieser unbekannten Unermeßlichkeit jenseits unseres dürftigen „Wissens“ – gibt es die Möglichkeit subtiler Interaktionen, die Körper, Verstand und Geist der Liebenden erheblich beeinflussen. Wenn sich Herzen berühren, scheinen sich auch andere Ebenen zu öffnen, und es kommt immer wieder zu einem subtilen gegenseitigen Durchdringen des Gewahrseins, zu einer Übereinstimmung des Bewußtseins. Dort, wo Heilung nötig ist, schwindet das Gefühl der Isolation. Es entsteht eine heilende Zusammenarbeit, die sich mit dem gemeinsamen Herzen auf den gemeinsamen Körper konzentriert. Manchmal kann man tatsächlich nicht sagen, von wessen Verstand/Körper bestimmte Gedanken, Gefühle oder Empfindungen ausgegangen sind. Und Interaktionen auf Ebenen, die aufgrund ihrer Subtilität bislang nicht wahrgenommen wurden, werden zu einer gemeinschaftlichen Erfahrung.
Diese Fähigkeit, den Prozeß des Partners unmittelbar zu erleben, schafft eine Bindung, die es uns erlaubt, seinen Verstand/Körper/Geist zu erfahren. Und sie erlaubt es sogar, gesundheitliche Einschränkungen zu erkennen, die diagnostisch noch nicht erkannt, später jedoch von Ärzten bestätigt werden. Dieser Spiegeleffekt, sei er erwünscht oder unerwünscht, ist einfach ein weiterer Aspekt dessen, was der Dichter David Whyte das „Leben unter den Konsequenzen der Liebe“ nannte.
In mancherlei Hinsicht gleicht die Verwirklichung der enormen Potentiale und diffizilen Heilungen tieferer Ebenen in einer bewußten Liebesbeziehung dem, was manchmal mit dem „Aufsetzen der Psycho-Kappe“ bezeichnet wird. In Workshops fragen wir die Teilnehmer, wer von ihnen als erster freiwillig bereit wäre, eine Kappe aufzusetzen, die seine Gedanken im Umkreis von hundert Metern auf alle anderen Menschen ausstrahlen würde. Noch nie hat jemand seine Hand erhoben. Doch eben diese Aufforderung ist Zeichen einer engagierten Partnerschaft. Wie lange werden wir uns sträuben, diese Kappe der Wahrheit aufzusetzen? Wie lange wollen wir es ertragen, uns so unsicher zu fühlen, nur um uns die Illusion der Sicherheit zu bewahren – die nichtigste Regung des kleinen Geistes?
Und wir fragen auch dich sehr behutsam, was dich davon abhält, diese Kappe zu tragen? Hast du Angst davor, daß jemand deine Befangenheit, deine sexuellen Phantasien, deine wütenden Kommentare, deine sorgenvollen Gebete belauschen könnte? Welche Bereiche unseres Lebens glauben wir verdrängen zu müssen, um am Leben zu bleiben? Welches Erbarmen hat diesen geheimen Schmerz, diese Sehnsucht bisher berührt?
Eine derartige Bindung an die tiefsten Ebenen der Partnerschaft, diese Bereitschaft zum Tragen der „Psycho-Kappe“, kommt wohl in der Geschichte eines Freundes zum Ausdruck, der durch Indien reiste. Während einer Pause zwischen zwei Meditationsretreats schlenderte unser nahezu mittelloser Freund durch die Straßen von Benares, als sich ihm ein Bettler näherte, der sehr nachdrücklich forderte: „Gib mir Geld!“ Worauf unser Freund erwiderte: „Das würde ich tun, wenn es möglich wäre, mein Freund, aber ich habe keines.“ Er verneigte sich leicht und wollte seinen Weg fortsetzen. Aber kaum daß er einen Schritt tun konnte, zog ihn der Bettler an seinem Ärmel und sagte abermals: „Gib mir Geld! Gib mir Geld!“ Unser Freund blickte ihm freundlich in die Augen und sagte: „Ich würde dir Geld geben, wenn ich welches hätte. Aber ich habe nichts.“ Und zum Beweis schüttelte er einen leeren Geldbeutel. Als er langsam weiterging, stellte sich ihm der Bettler wieder in den Weg und forderte noch einmal: „Gib mir Geld!“ Unser Freund, von weichem Bauch und offenem Herzen, erwiderte sanft, daß es ihm große Freude bereiten würde, wenn er seine Habe teilen könne, aber nachdem er ein halbes Jahr in Indien meditiert habe, sei ihm nichts weiter geblieben als sein Herz. Und er wünschte dem Mann von ganzer Seele Glück. Der Bettler schwieg für einen Moment und sah ihm tief in die Augen. Dann ließ er seinen Ärmel los und flüsterte lächelnd: „Wenn du Gott in allen Menschen siehst, dann werden alle Menschen Gott in dir sehen.“ Und er verschwand in der Menge. Nichts, was dieser Fremde geäußert hatte – weder Aggression noch Zorn noch unverhüllte Not – konnte das Herz unseres Freundes für diesen gemeinsamen Moment verschließen. Er war einfach präsent. Wenn wir die anderen als Göttliche Geliebte sehen, dann werden sie uns auf die gleiche Weise betrachten. Wenn du jemandem, der sich dir in aufdringlicher Weise nähert und für den du vielleicht überhaupt nichts tun kannst, voller Güte antwortest – wenn nicht einmal Hilflosigkeit deine Liebe und dein Gefühl des Verbundenseins trüben kann – dann wirst du zum Geliebten der Göttlichen Geliebten. Du wirst zur Liebe selbst, zum Mysterium. Es ist wahrhaftig so, wie Rilke schrieb:
„Liebhaben von Mensch zu Mensch: das ist vielleicht das Schwerste, was uns aufgegeben ist, das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist. … Lieben ist zunächst nichts, was aufgehen, hingeben und sich mit einem Zweiten vereinen heißt – es ist ein erhabener Anlaß für den Einzelnen, zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt zu werden, Welt zu werden für sich um eines anderen willen, es ist ein großer, unbescheidener Anspruch an ihn, etwas, was ihn auserwählt und zu Weitem beruft.“