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Kapitel 10 Ich und der Andere
ОглавлениеMit dem Eintritt in eine Partnerschaft gelangen wir in einen der energiereichsten Bereiche des Geistes – in die heilige/unheilige Sphäre von mir und anderem. Dies andere bildet unsere Entfremdung. Und mit mir, so zeigt es sich, verhält es sich ebenso.
Die Synapse zwischen mir und anderem ist bevölkert von mythischen Schlangen und vertrauten Dämonen. Sie markiert die Distanz zwischen Herz und Verstand.
Im Verlauf einer Beziehung muß dieses verwilderte Terrain erkundet werden. Dabei sollte klar sein, daß auf derselben Ebene, wo unser Gefühl eines isolierten Selbst angesiedelt ist, auch ein kollektiver Kummer, eine Urangst wohnt: jemand könnte entdecken, daß wir in Wirklichkeit überhaupt nicht existieren.
Das Ich erschafft das Andere bereits in der Infrastruktur der Wahrnehmung. Diese ermüdende Befangenheit verflüchtigt sich nicht von selbst. Wir müssen sie behutsam bis an ihre Wurzeln ergründen, andernfalls wirken die Posen, die sie verschleiern sollen, verstärkend auf ihre Tendenz, unsere/n Liebste/n – und auch uns selbst – als Anderen zu sehen. Das Erforschen dieses Gefühls der Isolation als ein schmerzhaftes, gleichzeitig aber auch natürliches Geistesphänomen (dem Element eines Entfaltungsprozesses) liefert uns den Schlüssel für eine bewußte Beziehung zu uns selbst und zum menschlichen Herzen. Wenn wir jenes Selbstgefühl ohne Selbstbewußtheit erforschen, wenn wir uns eingestehen, wie lange wir uns selbst schon als Anderen betrachten, dann lösen sich Ich und der Andere in einer mystischen Vereinigung auf.
Wo es nichts anderes gibt, läßt sich das Ich nicht mehr von der Göttlichen Geliebten trennen. Es ist nun das Ego des leeren Raumes. Es ist der Körper der Sternensysteme. Mag der Verstand auch weiterhin seine separatistischen Vorstellungen und Neigungen produzieren – es tritt kaum der Wunsch auf, seine plumpen Reizmittel und schnörkelhaften Lichteffekte zu beachten. Die emotionale „Ich-und-der-Andere“-Trance wird gestoppt und abgelöst von einer Kontinuität des Herzens, die über den Verstand hinausgeht, um die Ganzheit des Lebens zu entdecken.
Wenn wir der „Ich-und-der-Andere“-Verschwörung ein Ende setzen, steigt eine Ahnung des Mysteriums auf. Indem wir uns nicht länger auf den Anderen berufen, um unser Ich zu definieren, nähern wir uns jenem Aspekt des Geistes, den wir (je nach Stimmung) Ego, Narziß oder Selbst nennen. Wer, so fragst du dich, ist denn dieses in die Schatten des kleinen Geistes gekauerte Etwas, das seine Trivialität behütet und seine Sorgen bis zum bitteren Leid verteidigt? Wer ist es, der sich fragt, was er ist – und stets stolpert, wenn er sich selbst „auf Händen tragen“ will?
Wer ist es, der sich selbst in der Beziehung zum Geschenk macht?
Bevor wir völlig verstehen können, was der Andere ist, müssen wir erforschen, was Ich bedeutet. Wir müssen untersuchen, worauf wir uns beziehen, wenn wir sagen „Ich bin“.
Wir entspannen uns, beobachten diesen inneren Dialog, den wir Ich nennen, und finden heraus, daß es sich um einen fortlaufenden Kommentar des Verstandes über sich selbst zu handeln scheint. Um einen sich ständig entfaltenden Bewußtseinsstrom, der sich aus Gedanken, Gefühlen und Empfindungen zusammensetzt, aus Erinnerungen an und Vorstellungen über den, der all diese Gedanken denkt. Wir untersuchen die ständig wechselnden Inhalte des Geistes und erkennen, daß nichts von dem, was wir Ich nennen, lange Bestand hat. Daß alles Erfahrene in einem Zustand stetiger Wandlung ist. Daß dieses sogenannte Ich, dieses Bewußtsein, ein Prozeß ist. Wie sollte es beim Anderen anders sein?! Wir stellen fest, daß jeder Gedanke, jede Emotion, jede Erfahrung, die ihren Anfang nimmt, auch ein Ende hat. Daß jeder Augenblick des Vergnügens, jeder Augenblick des Schmerzes, jede Sinneserfahrung, jeder Gedanke und jedes Gefühl unbeständig war. Was Wunder, daß unser Selbstbild oft keinen Platz findet und keinen festen Boden unter den Füßen hat. Wenn wir versuchen, der ewig wechselnden Entfaltung Stabilität zu verleihen, macht uns das starr und unsicher.
Wenn ich dich fragen würde, worauf sich dieses Ich bin bezieht, hätte der Verstand ein Dutzend zeitlicher Identitäten auf Lager: ich bin dies, ich bin das – ich bin ein Tischler, ich bin eine Mutter, ich bin ein spiritueller Mensch, ich bin eine Frau, ich bin ein Held, ich bin ein Vater. Doch sobald unser essentielles Ich bin mit irgendetwas verknüpft wird, spüren wir, daß wir nur die halbe Wahrheit sagen und fast einer leichten Klaustrophobie verfallen. Alles „Dies und Das“, an dem wir haften, sind unsere zerbeulten Modelle korrekten Benehmens, die Sackgassen unseres Geistes. Sobald wir irgendetwas mit unserer essentiellen Binheit verknüpfen, geben wir den unermeßlichen Fluß des Seins für etwas auf, das wir festhalten und gerade noch unter Kontrolle halten können. Doch alles, was wir mit Ich bin verbinden, ist unbeständig, und unsere Verhaftung daran ist die Wurzel unseres fortwährenden Leidens. Alles, was unsere wahre, mit Ich bin verbundene Identität verschleiert, verstärkt den Kummer und Schrecken von Tod und Verlust ebenso wie unsere Angst vor dem Erleben einer Partnerschaft.
Während wir die Frage „Wer bin ich?“ immer umfassender zu beantworten suchen und bereits ein Dutzend Möglichkeiten auf dem Tisch ausgebreitet haben, finden wir nichts, was von einer Konditionierung oder Veränderung unbeeinflußt wäre – nichts, was so dauerhaft wäre, daß wir uns „daran festhalten“ könnten. Also blicken wir noch tiefer und durchstöbern Gedanken auf Gedanken, Gefühl auf Gefühl, Empfindung auf Empfindung, immer auf der Suche nach etwas, das so dauerhaft und stabil ist, daß wir uns damit identifizieren können und einen echten Beweis für unsere Existenz erhalten.
Wenn wir erforschen, worauf sich Ich bin bezieht, ahnen wir schließlich, daß das Gesuchte vielleicht gar nicht in diesem winzigen Ich zu finden ist, sondern vielmehr in der Unermeßlichkeit des Seins, in der Binheit selbst. Daß Ich dem Persönlichen angehört, Binheit aber das Universale ist. Wollten wir tatsächlich „korrekte Grammatik“ üben, könnten wir sagen, daß sich das Ich auf das „persönlich Unbeständige“ und bin auf das „universal Unermeßliche“ bezieht.
Alle Erfahrungen des Lebens sind nicht von Dauer gewesen – eine einzige ausgenommen. Von dem Augenblick an, wo du deines Gewahrseins gewahr wurdest – sei dies im Mutterleib, an der Mutterbrust oder erst vorgestern gewesen – hat es eine einzige, unaufhörliche Erfahrung gegeben: die Erfahrung bloßen Seins. Es ist jene Erfahrung, die übrigbleibt, wenn wir Ruhe in uns entstehen lassen und uns von allen anderen Erfahrungen lösen. Inmitten dieser leuchtenden Gegenwart schwebend ahnen wir, daß wir mehr sind als jenes ewig wandelbare Ich. Indem wir die Gedanken loslassen, welche diese Gegenwart definieren wollen – und die Gefühle, die Besitz von ihr ergreifen wollen – tauchen wir direkt in diese konstante Erfahrung ein, die im Zentrum einer jeden Körperzelle vibriert. Wir erkunden dieses Gefühl der Gegenwart, aus dem die Vermutung unserer Existenz entspringt.
Würde ich dich aber um eine entsprechende Definition, um eine Antwort auf die Frage bitten, wer du letzten Endes bist, könntest du wahrscheinlich keine Antwort geben. Aus den Tiefen dieser namenlosen Soheit, aus der Mitte des „Summens der Kontinuität“ käme einfach nur „Ah“ – der sanfte Ausruf der gestaltlosen Essenz, die sich in der Form wiederfindet. Dieser tiefe Atemstoß auf der Suche nach einem Namen für das, was Körper und Geist beseelt und zugleich übersteigt, endet in tiefer Irritation.
Nimmt Ah Geburt an? Nimmt es Tod an? Oder ist es der Ozean, in dem diese Wellen geboren werden? Und in dem sie wieder versinken?
Dieses Ah, dieses grundlegende Gefühl der Gegenwart ist die einzige Erfahrung des Lebens, die sich nicht gewandelt hat. Es ist der Raum, in dem die Wandlungen schweben. Das Ah unserer universalen Binheit ist die einzige Konstante inmitten der Unwägbarkeiten des Lebens.
Jedes Menschen Ich ist anders, aber die Binheit ist bei allen dieselbe. Die Erfahrung der Binheit, des reinen Seins, wandelt sich tatsächlich niemals. Es spielt keine Rolle, ob du drei, dreiunddreißig oder dreiundachtzig Jahre alt bist. Und die Erfahrung der Binheit war bei allen Menschen – vom Hunnenkönig Attila bis zu Mutter Teresa – immer absolut identisch. Es war immer nur Ah, nur absolutes Sein.
Und so erkennen wir bei unserer immer tiefer dringenden Frage „Wer bin ich?“, daß alles Vergängliche, das wir mit dem Ich verknüpfen, nicht zu unserer dauerhaften Befreiung führen kann. Daß wir nur in der Binheit frei sind. Hier, in diesem Zentrum der Erfahrung, wo das Bewußtsein entsteht, ertönt das Summen unendlichen Seins.
Wir setzen unsere Erkundung dieses Gefühls ewiger Soheit fort und begegnen dem Leben selbst, das leuchtend im Zentrum vibriert. Und wir betreten das, was keinen Anfang und kein Ende hat: die Unsterblichkeit unserer absoluten Natur, unsere essentielle Binheit. Das Ah unbegrenzten Seins, das wir in Ermangelung eines anschaulicheren Begriffes den Göttlichen Geliebten nennen.
Aber selbst mit dem Namen Ah nähern wir uns bereits einem heiligen Krieg. Das Benennen des Namenlosen spricht die Tendenz des kleinen Geistes an, beim „Verstehen“ haltzumachen. Doch Verständnis reicht nicht aus. Es ist nur der Anfang. Die Vorstellung von der Göttlichen Geliebten gleicht einer Luftblase, die in seinem endlosen Ozean schwimmt.
Wenn uns bewußt wird, daß alles außer unserer wahren Natur vergänglich ist, daß wir die Binheit in ihrer leidvollen Verkleidung sind, lösen wir uns ein wenig von unserem Leid, von unserem stets behüteten Ich, von unserer defensiven Kleinlichkeit. Wenn wir uns der Binheit ergeben, wenn wir im Sein ruhen, öffnen wir uns dem Göttlichen Geliebten, unserer gemeinsamen Soheit, und sehen, wie jedes Gefühl von Trennung im Untrennbaren zerrinnt.
Wir hören vom „Kampf der Geschlechter“ oder von Menschen, die „mit der Welt auf Kriegsfuß“ stehen, aber alle Geplänkel werden einzig zwischen mir und dem Anderen ausgefochten. Der Andere ist der Ausgangspunkt jeder Grausamkeit, jedes Fanatismus, jedes Krieges. Um jemandem schaden zu können, um ihn belügen, bestehlen oder gar töten zu können, mußt du ihn erst einmal als Anderen betrachten – entweder ist er von anderer Rasse, von anderem Geschlecht, von anderer politischer Meinung, hat eine andere ethnische Zugehörigkeit, eine andere Moral, eine andere Religion oder eine andere Persönlichkeit. Wenn der kleine Geist das Mißtrauen gegen sich selbst auf jemand anderen projiziert, fällt es ihm leicht, jene Person als nicht gleich wahrzunehmen: als Nicht-Familie, Nicht-Freund, Nicht-Partner, Nicht-Mensch, nicht-fühlendes Geschöpf.
Und wir verstehen, daß unsere Beziehung zu einem anderen Menschen im Grunde die Beziehung zum Selbst ist: ein weiterer Aspekt der Binheit Insofern wir den anderen beurteilen, beurteilen wir auch uns selbst. Jesus moralisierte nicht etwa, als er sagte: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.“ Er wußte, daß der urteilende Geist keinen Unterschied zwischen „mir“ und dem „anderen“ kennt. Sein Urteil trifft alles, was nicht in sein Selbstbild paßt.
Die Erkundung der Binheit setzt dem heiligen Krieg zwischen mir und dem anderen ein Ende. Sie steht wie Arjuna in der Bhagavad Gita zwischen streitenden Stämmen, welche die Wehrhaftigkeit und Taktik der Gegenseite abzuschätzen suchen. Sie erkennt den Krieg als die unerledigten Geschäfte unseres unerforschten Kummers. Sie beendet den Krieg, indem sie die aus der grundsätzlichen Trennung zwischen mir und dem anderen resultierende Angst ergründet. Sie weiß: Wenn du „ich“ sagst und wenn ich „ich“ sage, dann werden die Flaggen entrollt, die Trompeten schmettern und die Waffen klirren. Sie weiß auch: Wenn wir gemeinsam in der Binheit ruhen, dann sind wir der Friede. Welche Distanz dann auch zwischen Individuen bestehen mag, sie wird ausgefüllt von Güte und von der Sorge um das Wohlergehen des anderen. Wir versuchen nicht länger, unseren „Freiraum zu wahren“, sondern tauchen in die namenlose Soheit ein, die der Atem der Göttlichen Geliebten ist.
Im Zen-Buddhismus hält der Lehrer vielleicht zwei Gegenstände hoch – zum Beispiel eine Glocke und ein Buch – und fragt den Schüler: „Sind diese Dinge dasselbe oder verschieden voneinander?“ Wenn der Schüler antwortet „dasselbe“, liegt er falsch. Wenn er sagt „verschieden“, irrt er ebenso. Ein alter Zen-Meister sagte: „Solche Unterscheidungen entfernen Himmel und Hölle unendlich weit voneinander.“ Oft besteht die angemessene Antwort einfach darin, die Glocke zu läuten oder im Buch zu lesen. Sie sind das, was sie sind! Beide besitzen ihr eigenes inneres Wesen, das sich in äußerlich unterschiedlicher Weise manifestiert. Jeder Mensch ist die Buddha-Natur auf einem Kostümball. Jeder ist anfällig für Definitionen. Jeder ist in exakt der gleichen Weise der Andere.
Also mag der Zen-Meister fragen: „Sind Ich und Anderer dasselbe oder verschieden?“ Sage nichts! Antworte nicht allzu voreilig! Antwortest du aus dem Ich und sagst „verschieden“, sagst du nicht die volle Wahrheit. Antwortest du aus der Binheit und sagst „dasselbe“, unterliegst du ebenfalls einem Irrtum. Die Antwort besteht natürlich darin, die Antwort nicht zu äußern, sondern zu sein. Sie besteht darin, der psychologischen Arbeit („verschieden“) ebenso wie der spirituellen Erforschung („dasselbe“) nachzugehen, um zu einer ganzheitlichen Beziehung zu gelangen. Rama Krishna sagt, eines der Dinge, die Gott zum Lachen brächten, wären zwei zankende Liebende, die meinten, sie hätten nichts miteinander gemein. Sind sie dasselbe oder verschieden? Sie sind dasselbe in ihrem Disput über Unterschiede. Dieselben Unterschiede!
Und es gibt keinen Bereich, wo diese selben Unterschiede klarer beobachtet werden könnten als in Meinungsverschiedenheiten über persönliche Wahrnehmungen. Nichts verschlimmert das Gefühl von mir und anderem mehr und erschafft eine tiefere emotionale Trance als zwei Leute, die sich nicht darüber einigen können, was während einer gemeinsamen Erfahrung geschehen ist. Sich über unterschiedliche Betrachtungsweisen zu streiten, bedeutet, blind zu sein. Darüber zu diskutieren, was jeder herausgehört hat, macht taub. Sich über Gefühle zu zanken, bedeutet, empfindungslos zu sein. Wenn es zu individuellen Wahrnehmungen kommt, ist dem kleinen Geist eine Verständigung oft fast unmöglich. Wer hat recht? Wenn man sich uneins ist, keiner von beiden – und beide gleichermaßen, wenn sie sich achselzuckend dem „großen Nichtwissen“ überlassen.
Es ist exakt dieses aufrichtige, gelassene „Ich weiß es nicht“, das der Zen-Meister zu stimulieren versucht, wenn er fragt: „Dasselbe oder verschieden?“ Es ist die über das Konzeptualisieren hinausgehende Offenheit für die Wahrheit – so wie sie sich präsentiert. In diesem „Ich weiß es nicht“, in der Wahrnehmung des großen Geistes, schweben Ich und der Andere in Binheit.
Bei der mystischen Hochzeit, der wahren Vereinigung wahrer Herzen, fragt man das Paar nicht: „Willst du diese Person…?“ Statt dessen wird es gefragt: „Dasselbe oder verschieden?“ Und man überläßt euch den Rest des Lebens, um zu antworten – um die Dualität zu beenden, die den Verstand vom Herzen, zwei Herzen voneinander und mich vom anderen trennt. Ich und der Andere verschmelzen auf dem gemeinsamen Grund des Seins, in der Gleichgestimmtheit und Harmonie, die hier erwacht.
Was ist der denkende Geist, wenn er im Herzen versinkt: Dasselbe oder verschieden?