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2.6 Avantgardetheater

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Die meisten Avantgardetheorien haben das Theater ausgeklammert, weshalb der Avantgardeforschung ein „anti-performance bias“1 bzw. ein „antiperformative bias“2 vorgeworfen wurde. Zwar findet bereits ab den 1960er Jahren eine Beschäftigung mit einzelnen Strömungen des Avantgardetheaters statt, doch erst ab den 2000er Jahren wird das Avantgardetheater auch in einem avantgardetheoretischen Kontext untersucht. Diese späte Zuwendung mag überraschen, wenn man bedenkt, dass Avantgarde und Theater viele Verbindungslinien aufweisen: man muss „the avant-garde gesture as first and foremost a performative act“3 denken.

Die Parallelen zwischen Avantgarde und Theater sind auffällig, denn hier wie dort lösen sich die traditionellen Kunstkategorien auf. Die Idee des Kunstwerks, das von einem Künstler produziert und von einem Publikum rezipiert wird, ist seit der historischen Avantgarde ins Wanken geraten. Diese Aufweichung der Triade Kunstwerk-Künstler-Rezipient ist am Theater bereits institutionell angelegt.4 Das avantgardistische Kunstwerk und die Theateraufführung stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen autonomer Selbstzweckhaftigkeit und Wirklichkeitsanspruch, zwischen Produkt (Was?) und Prozess (Wie?), zwischen Hoch- und Popkultur, zwischen Materialität/Beständigkeit und Immaterialität/Flüchtigkeit, zwischen Inszenierung und Zufall. Der avantgardistische Künstler und der Theaterregisseur sind zugleich Individuen und Teile eines Kollektivs, Subjekte und Objekte, Organisatoren von Material und das Material selbst. Der avantgardistische Rezipient und der Theaterzuschauer weisen ebenfalls signifikante Gemeinsamkeiten auf, da beide sowohl passiv ein Kunstprodukt konsumieren, aber auch aktiv an seiner Entstehung partizipieren, sie sind Objekte und emanzipierte Subjekte zugleich.

Genau wie der Avantgardebegriff ist auch der Begriff des Avantgardetheaters umstritten. Bereits für Ionesco stand fest: „l‘ avant-garde, en réalité n’existe pas“5. Lemarchand kritisiert im Jahr 1949, dass der Avantgardebegriff aus dem Militärischen stamme, die selbsternannte künstlerische Avantgarde sich aber kaum auf gefährliches Terrain begebe und sich vom bourgeoisen Feind sogar mit Preisen auszeichnen lasse.6 Serreau äußert Skepsis gegenüber einem widersprüchlichen Avantgardebegriff, der „favorise depuis cent ans les pires abus de langage, les plus tenaces équivoques.“7 Und Corvin verweist auf die relative Qualität des Begriffs:

Esthétiquement, la notion d’avant-garde est […] instable: vouloir rester en état permanent de rupture, de dénonciation, ériger, par une exigence supérieure du théâtre, la recherche en principe, n’est-ce pas une position idéaliste impossible à tenir puisqu’elle condamnerait l’avant-garde au silence ou à l’asphyxie faute de public?8

Für Hans-Thies Lehmann ist die Avantgarde gar „ein Konzept, das selbst dem Denken der Moderne entsprang und dringend einer Revision bedarf“9.

Der Begriff des Avantgardetheaters ist in der Forschung dennoch verbreitet, wo er entweder das Theater der frühen und/oder der Nachkriegsavantgarde bezeichnet. Für das französische Avantgardetheater der unmittelbaren Nachkriegszeit haben sich auch die Begriffe nouveau théâtre bzw. théâtre nouveau durchgesetzt, sowie, zumindest für einen Teil dieses Theaters, die Bezeichnung des absurden Theaters. Die Bezeichnung „Avantgardetheater“ wird im Folgenden als Sammelbegriff für Theaterformen verwendet, die mit dem konventionellen Theater ihrer Zeit brachen und eine neue Tradition etablierten. Das Avantgardetheater ist, genau wie die Avantgarde, keine Schule, es setzt sich vielmehr aus unterschiedlichen Strömungen und Tendenzen zusammen, die gemeinsame Verbindungslinien aufweisen. Es kann zwischen drei Filiationen unterschieden werden: dem Theater der historischen Avantgarde, dem nouveau théâtre und dem postdramatischen Theater. Dabei fällt auf, dass die zuvor unternommene Unterscheidung zwischen Avantgarde und Neo-Avantgarde am Theater hinfällig ist: von einem neo-avantgardistischen Theater ist in der Forschung nicht die Rede, denn jede der drei Strömungen hat etwas genuin Neues zum Theater beigetragen, dem das Neo-Präfix nicht gerecht würde. Die einzelnen Strömungen des Avantgardetheaters können folgendermaßen dargestellt werden:


Abb. 11

Das Theater der historischen Avantgarde von Jarry bis zum Surrealismus geriet im Zuge der Wiederentdeckung der historischen Avantgarde Ende der 1960er Jahre zum ersten Mal in den Fokus der Forschung, allen voran bei Béhar (1967), dann bei Orenstein (1970), Matthews (1974), Melzer (1980), Zinder (1980), Grimm (1982), Knapp10 (1985) und Berghaus (2005). Im Kontext avantgardetheoretischer Überlegungen wurde das Avantgardetheater von Corvin11 (1971) und Asholt (2003) beleuchtet, die sich mit der widersprüchlichen Existenz eines dadaistisch-surrealistischen Theaters beschäftigt haben.

Nachdem das nouveau théâtre Ende der 1960er Jahre bereits zum Klassiker geworden war, entdeckte man nun, dass es bereits zuvor ein innovatives und originelles Theater gegeben hatte, in dem schon das ausgeprägt gewesen war, was später die vermeintliche Neuheit des nouveau théâtre ausmachen würde. Der Lettrist Maurice Lemaître bringt es überspitzt auf den Punkt, wenn er kritisiert, dass die Dramatiker des nouveau théâtre, unterstützt von Kritikern und Zuschauern, einen Applaus genössen, der eigentlich dem frühen Avantgardetheater zugestanden habe. Mit der Erstellung einer Liste dadaistisch-surrealistischer Stücke (in einem auf das Jahr 1964 datierten Dokument) wollte er

donner à cette époque presque inconnue du théâtre son vrai nom, faire découvrir ses auteurs, presque tous injoués […] et la rehausser enfin devant ses ersatz contemporains dits 'nouveaux' ou 'absurdes' (Ionesco, Tardieu, Audiberti, Beckett, Vian, Vauthier, Weingarten, Arrabal, etc)12.

Dem Theater der historischen Avantgarde wurde somit erstmals eine ästhetische Eigenexistenz und Originalität zuerkannt.

Der Zweite Weltkrieg stellte für das Avantgardetheater insofern eine Zäsur dar, als sich die äußeren Umstände des avantgardistischen Theaterschaffens nach 1945 verändert hatten. Zwar war auch die Generation der historischen Avantgardekünstler eine kriegsgebeutelte gewesen, jedoch hatte ihre Revolte gegen das Bestehende auch spielerische und utopische Züge, und sie hatte zumindest die Möglichkeit eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft ins Auge gefasst. Die Atmosphäre nach dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch gezeichnet von einem tragischen Grundgefühl, der Absage an den geschichtlichen Fortschritt und einem Gefühl der Isolation und Entfremdung des Einzelnen angesichts eines grausamen Universums und einer indifferenten modernen Welt.

Hatte sich die Theateravantgarde vor 1945 noch durch ihre Gruppenstruktur und der damit verbundenen Marktunabhängigkeit dank eigener Distributionskanäle ausgezeichnet, operieren die avantgardistischen Theaterautoren der Nachkriegszeit allein und unabhängig von den programmatischen Zwängen bestimmter Ismen. Diese Entwicklung erklärt sich unter anderem aus dem Misstrauen gegenüber den teilweise ideologisch aufgeladenen Avantgardebewegungen der Zwischenkriegszeit. Durch ihr individuelles Arbeiten waren die neuen Theatermacher aber auch einem größeren Marktzwang unterworfen.

Die frühe Theateravantgarde war ihrer Zeit voraus, sie war antagonistisch, anti-bourgeois und rebellierte gegen die bestehende Ordnung. Das Publikum sollte durch Schockstrategien und transformative Erlebnisse aus seiner Passivität aufgerüttelt werden. Der Zuschauer wurde so gezwungen, aktiv am Bühnengeschehen zu partizipieren. Im Laufe der Zeit hatte sich das Publikum an die avantgardistischen Schockstrategien gewöhnt und erwartete nun geradezu, in das Geschehen involviert zu werden. Seine aktive Teilnahme entstand nun nicht mehr aus einem Zwang heraus, sondern aus einem Konsens mit den Akteuren.

Die frühen Avantgardisten waren hauptsächlich Literaten, ihr Theater war ein Sprachtheater und stark in der Literatur und Poesie verhaftet. Dies zeigte sich auch auf der Bühne, deren Möglichkeiten weitgehend unerforscht blieben. Bis auf wenige Ausnahmen strebten die Theaterschaffenden der historischen Avantgarde keine Entwicklung einer neuen Theaterästhetik an, und sie verstanden ihre experimentellen Stücke oft nicht einmal als Teil eines Repertoires, sondern als einmalige Ereignisse. Theater war für sie nur ein Mittel unter vielen, um die Gesellschaft von der Kunst her zu revolutionieren. Es galt, die Institution Theater als solche anzugreifen und aufzuheben, was freilich nicht gelingen konnte, da die Institution sich als resistent erwies und Angriffe auf sie vereinnahmte. Die Theaterschaffenden der Nachkriegsavantgarde hatten verstanden, dass die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben unmöglich war, die Revolution der Gesellschaft durch die Kunst war gescheitert. Es war nun möglich, sich wieder auf die Weiterentwicklung des Theaters zu besinnen. Die Dramatiker der neuen Avantgarde hegten ein theaterspezifisches Interesse und machten sich mit den Regeln der Bühne vertraut. Zudem erforschten sie das Theater auch in seiner Differenz zu anderen Genres und Medien. Sie wollten die Institution Theater nicht abschaffen, sondern erkannten sie stillschweigend an. Das Theater war kein Mittel zum Zweck mehr, sondern der Zweck an sich, es war zu einer eigenen und ernst zu nehmenden Kunstform geworden. So schreibt das postdramatische Künstlerkollektiv SheShePop beispielsweise auf seiner Website, es sehe seine Aufgabe „in der Suche nach den gesellschaftlichen Grenzen der Kommunikation – und in deren gezielter und kunstvoller Überschreitung im Schutzraum des Theaters.“13 Und die Gruppe Rimini Protokoll konzentriert sich auf „die Weiterentwicklung der Mittel des Theaters, um ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen“14. Weiterentwicklung des Theaters und Grenzüberschreitung im Schutzraum des Theaters – das strebt die Theateravantgarde nach 1945 an.

Die Rezeption des unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden nouveau théâtre begann Anfang der 1960er Jahre und damit früher als die des historischen Avantgardetheaters. Esslin (1961) etablierte in seiner viel beachteten Studie den umstrittenen Begriff des „absurden“ Theaters. Es folgten u.a. Barthes15 (1961), Pronko16 (1962), Corvin (1963) und Serreau (1966), die den Begriff des nouveau théâtre prägte, Guicharnaud (1967), Daus (1977) und Blüher17 (1982). Ende der 1960er Jahre, nach zwei Jahrzehnten also, waren die Autoren des nouveau théâtre bereits zu Klassikern geworden.

Das nouveau théâtre lässt sich in zwei Orientierungen unterscheiden: das Theater des Absurden (Beckett, Ionesco, Adamov, Genet etc.) und das poetische Theater (Pichette, Vauthier, Audiberti, Schehadé, Obaldia, Weingarten etc.). Während das absurde Theater in der französischen und deutschen Forschung auf eine kontinuierliche Rezeptionsgeschichte zurückblicken kann, kann für das poetische Theater davon nicht ansatzweise die Rede sein. Der Begriff des poetischen Theaters hat sich zwar etabliert18, die Strömung bleibt aber in der Forschung unterrepräsentiert. Das poetische Theater wurde bisher nicht in seiner ästhetischen Eigenexistenz untersucht. Allgemein wurden die Stücke der Theaterpoeten eher als späte Ausläufer des sich erschöpfenden Surrealismus angesehen oder als „minor works“19, die eine vorbereitende Funktion im Hinblick auf das absurde Theater gehabt hatten. Dem poetischen Theater wurde damit jegliches Neuerungspotential abgesprochen, es stand im Schatten des absurden Theaters, das „reléguait au second rang les beaux divertissements de nos poètes“20.

In den 1960er Jahren fand erneut ein Bruch im Avantgardetheater statt. Mit dem postdramatischen und performativen Theater war ein Paradigmenwechsel zu beobachten, der vor allem in der deutschsprachigen Theatertheorie aufgegriffen wurde. Der Begriff des postdramatischen Theaters wurde von Hans-Thies Lehmann (1999) in seinem gleichnamigen und breit rezipierten Buch geprägt. Erika Fischer-Lichte (2004) hat in ihrer Ästhetik des Performativen die „performative Wende“21 am Theater ab den 1960er Jahren beschrieben.

Während sich nach dem Zweiten Weltkrieg die äußeren Bedingungen avantgardistischen Theaterschaffens tiefgreifend verändert hatten, fand mit dem postdramatischen Bruch nun eine innere Transformation des Avantgardetheaters statt. Die Errungenschaften des historischen Avantgardetheaters und des nouveau théâtre wurden insofern relativiert, als diese noch einem dramatischen (also einem literarischen und textbasierten) Theater zugerechnet wurden.22 Die Unterschiede stellen sich folgendermaßen dar.

Während die dramatische Theateravantgarde noch überwiegend ein Sprachtheater machte und von Autoren dominiert wurde, herrscht im postdramatischen Theater die Gleichberechtigung aller Bühnenmittel sowie die Figur des Regisseurs.

Im historischen Avantgardetheater und im nouveau théâtre diente die Bühne zur Abbildung einer bereits existierenden (inneren) Realität. Die postdramatischen Theaterarbeiten sind dagegen „wirklichkeitskonstituierend“23, sie bringen eine noch nicht existente Realität erst hervor.

Das dramatische Avantgardetheater gehörte in der Tendenz noch einem kodierten Theater an, in dem die einzelnen Bühnenelemente auf etwas anderes verwiesen als auf sich selbst. Michael Kirby spricht in diesem Zusammenhang von einer „information structure“24, wo alle Elemente (z.B. Text, Licht, Bewegung etc.) Bedeutung erzeugen und zusammengenommen helfen, das Stück verständlich zu machen. Das postdramatische Theater ist dagegen „selbstreferenziell“25 und basiert auf dem, was Kirby „[c]ompartmented structure“26 genannt hat: die einzelnen Elemente verweisen auf nichts anderes als auf sich selbst und erzeugen weder als Einzelteile noch in ihrer Gesamtheit Bedeutung.

Während die Kategorien Handlung, Zeit, Ort und Figur im Avantgardetheater der ersten Jahrhunderthälfte lediglich aufgeweicht wurden, werden sie in der zweiten Jahrhunderthälfte radikal erschüttert. Der Akteur spielt nun keine Rolle mehr in einer imaginierten Situation, sondern er stellt sich selbst dar in Echtzeit und dort, wo das Geschehen wirklich stattfindet. Kirby hat dies „[n]on-matrixed performing“27 genannt, weil hier die Zeit-Ort-Figur-Matrix nicht mehr respektiert wird.

Im dramatischen Avantgardetheater herrschte keine gleichberechtigte Beziehung zwischen Akteuren und Publikum, die „feedback-Schleife“28, also die Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern, wurde hier von den Akteuren gesteuert und manipuliert. Im Gegensatz dazu waren Akteure und Zuschauer im postdramatischen Theater gleichberechtigt: die Aufführung sollte nun ein gemeinschaftliches Erlebnis für alle Beteiligten sein, die Machtverhältnisse, die zuvor noch geherrscht hatten, waren aufgehoben.

Indem es versucht hat, die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufzuweichen, hat das dramatische Avantgardetheater Kunst und Leben als zwei sich voneinander unterscheidende Sphären wahrgenommen. Mit dem postdramatischen Theater wurde dagegen die Kunst-Leben-Dichotomie in Frage gestellt. Der Happening- und Performancekünstler Allan Kaprow stellte in seinem Manifesto (1966) klar: „Art and life are not simply commingled; the identity of each is uncertain.“29 Performance-Kunst zeige, so Kaprow in Performing Life (1979), „equally the artificial aspects of everyday life and the lifelike qualities of created art“30.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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