Читать книгу Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus - Susanne Becker - Страница 29
3.3 Theatralität des Surrealismus
ОглавлениеAuch wenn Breton eine Abneigung gegen das Theater hegte, ist der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und Theaterstücke manifestierte.
Der öffentliche Raum wurde den Surrealisten zur Bühne: das Café, die Straße, der Flohmarkt nehmen eine zentrale Rolle in der surrealistischen Poetik ein. Dies waren die wahren Schauplätze der surrealistischen Gruppe, deren Mitglieder hier zugleich Akteure und Zuschauer waren. Man traf sich, diskutierte, philosophierte, spielte, träumte, trank und stritt, gleichzeitig war man auch passiver Beobachter des städtischen Treibens. Der Surrealismus prägte einen ganz neuen urbanen Typen, den des Flaneurs, Tagträumers, Dandys und Taugenichts, der sich in den Straßen von Paris treiben lässt und offen für wunderbare Begegnungen ist. Die Surrealisten eroberten sich einen Platz im öffentlichen Leben, wovon die – wenn auch nur kurze – Existenz des Bureau central de recherches surréalistes vom Oktober 1924 bis Januar 1925 zeugt. Diese von Artaud geleitete Institution fungierte als Kontaktstelle zwischen der Surrealistengruppe und der Öffentlichkeit, welche aufgerufen war, sich am „reclassement de la vie“1 zu beteiligen. Die Theatralisierung des öffentlichen Lebens ist charakteristisch für den Surrealismus:
Every tendency of the nineteenth and twentieth centuries has been toward definition and atomization, toward the establishment of art as one thing and life as another, and toward the distinction of the arts one from another. In its nostalgic effort to return to a past when the boundaries were not so clear, Surrealism constantly sought to make art of life and to make of life an art. […] Be that as it may, the conflation of art and life, the leitmotiv of transformation, and the element of frivolous play which typifies both Dada and Surrealism bring both the works and the lives of their participants close to the condition of theatre.2
Es war gerade diese Entgrenzung des Theaters, die für die Surrealisten „das Theater als abgetrennten, artifiziellen Kunstbereich überflüssig“3 gemacht hat.
Auch die Bewunderung der Surrealisten für Figuren mit einem Hang zur Selbstinszenierung ist bezeichnend für den theatralen Geist des Surrealismus. Hier sind vor allem Alfred Jarry und Jacques Vaché zu nennen, die sowohl in Bretons surrealistischer „Ahnengalerie“ im Manifeste als auch im surrealistischen Stück Comme il fait beau! (1923 veröffentlicht) von Breton, Desnos und Péret erwähnt werden. Jarry lebte ein Leben im Einklang mit seiner Kunstfigur Père Ubu und praktizierte damit die von den Surrealisten geforderte Irruption der Kunst in das Leben. Breton, der Jarry nie kennengelernt hatte, widmete ihm einen Artikel („Alfred Jarry“, 1918), in dem er anekdotisch demonstrierte, wie sehr Jarry sich die Figur des Ubu Roi einverleibt hatte. Den schillernden Jacques Vaché hatte Breton in seiner Funktion als Assistenzarzt Anfang 1916 am Zentrum für Neurologie in Nantes kennengelernt, wo Vaché aufgrund einer Verletzung behandelt wurde. Breton war beeindruckt von Vachés Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Konventionen und von der Art und Weise, wie dieser die Trennung zwischen Kunst und Realität überwand. In seinen Lettres de guerre manifestiert sich Vachés Geringschätzung gegenüber Künstlern und Kunst. Seine Konzeption des „Umour“ als „un SENS […] de l’inutilité théâtrale (et sans joie) de tout“4 prägte Breton nachhaltig. Vaché soll zur Uraufführung von Apollinaires Les mamelles de Tirésias mit einem Revolver gekommen und bereit dazu gewesen sein, von der Waffe Gebrauch zu machen. Dieses Bild einer in die Menge schießenden Person wurde von den Surrealisten später noch oft bemüht.
Das Spiel ist Theater in Reinform. Die Surrealisten spielten gern und viel. Das Spiel war für sie nicht nur Zeitvertreib und Zerstreuung, sondern auch ein Mittel zur Selbst- und Weltkenntnis und damit eine ernsthafte Angelegenheit. Das Spiel schuf Komplizität innerhalb der eingeschworenen Surrealistengruppe und grenzte sie gleichzeitig zur Außenwelt ab. Im Spiel ist man sowohl als einzelner Spieler als auch als Gruppe involviert. Es zapft die Imagination an, unterliegt gleichzeitig aber auch gewissen Regeln. Der Zufall spielt eine große Rolle, doch die Spieler werden auch durch Spielregeln gelenkt. Das Spiel findet damit in einem Bereich zwischen Imagination und Realität, Zufall und Logik, Individuum und Gruppe, Innen und Außen, Willkür und Planung statt. Dies zeigt sich beispielsweise im folgenden surrealistischen Spiel:
Vous vous asseyez autour d’une table. Chacun de vous écrit sans regarder sur son voisin une phrase hypothétique commençant par SI ou par QUAND d’une part, d’autre part une proposition au conditionnel ou au futur sans lien avec la phrase précédente. Puis les joueurs, sans choisir, ajustent deux à deux les résultats obtenus.
So entstanden Konditionalsätze wie Bretons „Si la Marseillaise n’existait pas“, der mit Aragons „Les prairies se croiseraient les jambes“5 weitergeführt wurde. Da sich das Spiel in einer Zone zwischen Vernunft und Imagination abspielt und das Imaginäre erkundet, ohne dabei den Bezug zur Realität mit ihren Regeln und Konventionen ganz zu verlieren, war es besonders attraktiv für die Surrealisten, die ja nie in einer Parallelwelt operierten, sondern immer den Austausch zwischen der realen und der imaginären Sphäre suchten. Das Theater eignet sich wie kaum eine andere Kunstform, um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen. Das Spiel im Spiel oder Verweise auf die Spielsituation sind häufig angewandte Techniken in den surrealistischen Theaterstücken.
Trotz der Abneigung vieler Surrealisten gegen das Theater konnten sie sich durchaus punktuell für das Theater begeistern. In Nadja (1928) gibt Breton zwar zu, „peu de goût pour les planches“ zu haben, äußert sich gleichzeitig aber in passionierter Weise über Pierre Palaus Les Détraquées, das er im „Théâtre des Deux-Masques“ gesehen hatte und das „reste et restera longtemps la seule œuvre dramatique (j’entends: faite uniquement pour la scène) dont je veuille me souvenir.“6 Im selben Werk lobt Breton das Pariser „Théâtre Moderne“ und findet: „on ne peut mieux à mon idéal“7. In Le paysan de Paris (1926) hatte Aragon dasselbe Theater beschrieben als „le seul qui nous présente une dramaturgie sans truquage, et vraiment moderne“8 und als ein Theater, das allein die Liebe zum Ziel habe. Aragon hatte außerdem im Vorwort zu Le Libertinage (1924) angegeben, er habe bereits in jungen Jahren mit dem Schreiben begonnen: Auslöser sei der Besuch von zwei Theaterstücken gewesen, und sein erstes Werk sei… ein Theaterstück gewesen.9 Mehrere Jahrzehnte später, im Jahr 1971, schwärmte Aragon in einem offenen Brief an den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Breton von Robert Wilsons Stück Le Regard du Sourd:
il est ce que nous autres, de qui le surréalisme est né, nous avons rêvé qu’il surgisse après nous, au-delà de nous, et j’imagine l’exaltation que tu aurais montrée à presque chaque instant de ce chef-d’œuvre de la surprise, où l’art de l’homme dépasse à chaque respiration du silence l’art supposé du Créateur. Peut-être aurais-tu dit de ce produit de l’avenir comme tu le fis des magiciens passés, des Nuits d’Young, de Swift, de Sade, de Chateaubriand, de Constant, de Hugo, de Desbordes-Valmore, d’Aloysius Bertrand, d’Alphonse Rabbe, etc., qu’ils étaient non point surréalistes, mais surréalistes dans quelque chose, aussi bien Edgar Allan Poe que Baudelaire, ou Rimbaud, Mallarmé, Jarry […] mais je veux trop dire pour en venir à jurer Dieu que tu aurais écrit que Bob Wilson est, serait, sera (il aurait fallu le futur) surréaliste par le silence, bien qu’on puisse aussi le prétendre de tous les peintres, mais Wilson c’est le mariage du geste et du silence, du mouvement et de l’inouï.10
Glaubt man außerdem Ionesco, so begeisterten Philippe Soupault und seine surrealistischen Freunde sich sehr für das Theater des absurden Dramatikers: „Quand, en 1952-53, lui, Breton et Benjamin Péret ont vu mes pièces, ils m’ont dit en effet: 'Voilà ce que nous voulions faire!'“11
Die vermeintlich ambivalente Haltung der Surrealisten zum Theater lässt sich dadurch erklären, dass sie die Materialität und den Zeichencharakter des Theaters ablehnten, die Entgrenzung des Theaters hin zum Leben aber begrüßten und anstrebten.