Читать книгу Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus - Susanne Becker - Страница 36
3.4.6 Collage
ОглавлениеPeter Bürger hat die Collage zum „Grundprinzip avantgardistischer Kunst“1 erklärt. Der Begriff der Collage/Montage stammt aus der Industrie, wo er auf die Zusammenführung von vorgefertigten Einzelteilen zu einem gebrauchsfähigen Objekt verweist. Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Begriff in die Künste übergetreten und hat dort seinen Durchbruch mit der historischen Avantgarde erfahren, allen voran mit den Kubisten Braque und Picasso. In diesem Kontext bezeichnet die Collage die Übernahme von bereits existierendem Material in die Kunst (Malerei, Literatur, Theater etc.) auf solche Art und Weise, dass seine ursprüngliche Verwendung sowie sein Wesensunterschied zu den vom Künstler selbst angefertigten Elementen noch erkennbar bleiben.
Die Collage ist eine Reaktion auf die moderne Welt, in der das Nebeneinander disparater Objekte, Ideen und Wahrheiten alltäglich geworden war. Hugo von Hofmannsthal hat dieser Sensibilität in seinem berühmten fiktiven Brief von 1902 Ausdruck verliehen, in dem Philipp Lord Chandos an Francis Bacon schreibt, um die lange Pause in seinem kreativen Schaffen zu entschuldigen. In dem Brief berichtet er von seiner Unfähigkeit, „über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.“2 War die Realität für Lord Chandos einst noch mit Sicherheit erfassbar gewesen, ist sie für ihn nun trügerisch und fragmenthaft geworden: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen.“3 Der Brief greift das im auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorherrschende Gefühl auf, dass die Wirklichkeit nicht mehr zu bewältigen ist. Die Collage ist so heterogen und fragmenthaft wie die moderne Welt, die nicht mehr als einheitliches Ganzes abgebildet werden kann. Indem die Wirklichkeit hier nicht mehr einfach nur imitiert, sondern direkt in das Kunstwerk übernommen wird, erteilt die Collage dem Ästhetizismus eine Absage. Sie ist, so Aragon, „porte de sortie de l’art pour l’art“4 sowie „la reconnaissance par le peintre de l’inimitable, et le point de départ d’une organisation de la peinture à partir de ce que le peintre renonce à imiter“5. Die Auflösung der Wirklichkeit reicht so weit, dass auch das eigene Ich keine sichere Realität mehr ist. Die Aufweichung der Identität ist ein Leitmotiv in vielen surrealistischen Stücken. So kann die Identität einer Figur unklar sein oder eine Figur kann mehrere Identitäten auf einmal besitzen, wie z.B. Pierre/Frédéric/Sprecher in Au pied du mur, Dovic/Lloyd George in Les mystères de l‘amour, der Maler/M. Parchemin in Le Peintre (1922 veröffentlicht) oder der geisterhafte Gérard in La place de l’étoile.
Die Beziehung zwischen Kunst und Nicht-Kunst wird in der Collage hinterfragt: einerseits wird das collagierte Material zu Kunst aufgewertet, andererseits wird das Kunstwerk durch die Übernahme von alltäglichen Gegenständen abgewertet. Die Collage negiert damit auch die Idee des genialen Schöpfers, denn der Künstler wird nun zum Organisator von Material, und es zählen nicht mehr seine individuellen technischen und kreativen Fähigkeiten, sondern seine „personnalité du choix“6. Auch das collagierte Kunstwerk verliert seine Organizität und Aura, als ein aus Alltäglichem zusammengesetztes Gebilde negiert es die Kunst selbst. Die Surrealisten haben das Banale in die Kunst eingeführt, die scheinbar triviale Realität bot sich ihnen als unendlicher Quell poetischer Schöpfung an. In den surrealistischen Stücken bricht die Realität auf die Bühne und irritiert den Zuschauer, der sich auf die Bühnenillusion eingelassen hat. So werden oft am Aufführungsprozess zwar beteiligte, aber für den Zuschauer normalerweise unsichtbare Akteure gezeigt, wie z.B. Bühnentechniker, Souffleure, Autoren, Regisseure, Zuschauer und Schauspieler. Auch real existierende Personen wie Théodore Fraenkel in L’Armoire à glace un beau soir (1922/23 verfasst) und Musidora in Le trésor des jésuites sollen auftreten. Gesellschaft und Kunst, Politik und Theater vermischen sich in den surrealistischen Stücken.7
In der Collage findet eine Juxtaposition disparater Realitäten statt, die aus ihren alten Zusammenhängen herausgerissen wurden und nun neue Beziehungen zueinander knüpfen. Die Affinität der Surrealisten zur Collage ist unter anderem auf Lautréamont und Pierre Reverdy zurückzuführen, die die Grundlagen der surrealistischen Bildtheorie geliefert haben. In Les chants de Maldoror (1869) schrieb Lautréamont, das Aufeinandertreffen zwei entfernter Realitäten sei „beau […] comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie!“8 Die Nähmaschine und der Regenschirm sind häufig auftretende Motive in den surrealistischen Stücken, wie z.B. in S’il vous plaît, Victor ou les enfants au pouvoir oder Le désir attrapé par la queue (1941 verfasst). Analog zu Lautréamonts Bildkonzeption schrieb Reverdy einige Jahrzehnte später in der Literaturzeitschrift Nord-Sud (1918):
L’Image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l’image sera forte – plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.9
Im Zentrum steht die poetisch reine Emotion, die eben nicht durch die bloße Imitation der Realität erzeugt werde, sondern durch die Annäherung zwei entfernter Realitäten. Der Rezipient empfinde Freude und Überraschung angesichts des auf diese Weise entstandenen Bildes. Ein Jahr zuvor hatte Apollinaire die Überraschung bereits als wichtiges Element des esprit nouveau definiert: „C’est […] par la place importante qu’il fait à la suprise que l’esprit nouveau se distingue de tous les mouvements artistiques et littéraires qui l‘ont précédé.“10 Beim Aufeinandertreffen von zwei disparaten Realitäten entsteht ein neues Bild, dessen „lumière“11 eine transformative Kraft besitzt. Collage und surrealistische Bildtheorie stehen sich also sehr nah, denn hier wie dort treffen zwei an und für sich vertraute, aber voneinander entfernte Realitäten aufeinander und erzeugen in ihrer ungewöhnlichen Kombination überraschende Bilder, die eine desorientierende und transformative Wirkung auf den Rezipienten haben. Die Juxtaposition soll uns, so Breton, jegliches Referenzsystem entziehen und uns „dépayser en notre propre souvenir“12.
Hervorzuheben ist, dass hier zwei Realitäten, „sans sortir d’un champ de notre expérience“, aufeinandertreffen: die Realität ist immer der Ausgangspunkt, denn „[u]n paysage où rien n’entre de terrestre n’est pas à la portée de notre imagination“13. Die Neuheit der surrealistischen Kunst liegt also nicht in der Verwendung eines komplett neuen Materials, sondern in der freien Kombinatorik des bereits Existierenden.
Aufgrund seiner Multidisziplinarität ist das Theater prädestiniert für die Collage. Aragon hat die Collage mit dem Theater verglichen, da in beiden disparate Elemente in einen Rahmen bzw. auf eine Bühne geworfen werden: „le drame est ce conflit des éléments disparates quand ils sont réunis dans un cadre réel où leur propre réalité se dépayse.“14 In den surrealistischen Stücken ist die Collage stark präsent. Als Konstruktionsprinzip unterliegt sie beispielsweise dem im Kollektiv verfassten Stück Comme il fait beau!, für das Péret die Haupthandlung lieferte, während Desnos für die Wortspiele und die Ode an Silexame verantwortlich war. Breton hat schließlich mit Desnos zusammen die poetischen Einheiten assembliert, von ihm stammt auch das Lied der Koralle. Das Stück kulminiert in der Erscheinung Silexames, der mit seinem Gabelkopf, seinem Körper aus Muscheln und den mit Blättern bedeckten Armen selbst einem Wesen aus einer Max-Ernst-Collage gleicht. Häufig werden auch Elemente aus anderen Kunstformen und Lebensbereichen in die surrealistischen Stücke hineinmontiert. So werden beispielsweise Techniken des Kinos auf die surrealistische Bühne übertragen, wie z.B. die Montage (rapide Abfolge von voneinander unabhängigen Szenen in Poison, schnelle räumliche Sprünge in Au pied du mur), stummfilmähnliche Sequenzen (das „drame sans paroles“ Poison, mehrere Passagen in der Stummfilmhommage Le trésor des jésuites, die Ermordung von Lénore in L’armoire à glace un beau soir), Slow-Motion und Freeze Frames (in Victor ou les enfants au pouvoir und Le trésor des jésuites). Die Zeitung als Medium, das Raum und Zeit transzendiert und disparates Material wie in einer Collage präsentiert, fand großen Anreiz unter den Surrealisten: die Freiheit des Poeten „ne peut pas être moins grande que celle d’un journal quotidien qui traite dans une seule feuille des matières les plus diverses, parcourt des pays les plus éloignés“15, schrieb Apollinaire. In einigen surrealistischen Theaterstücken werden Zeitungsnachrichten entweder in den Theatertext collagiert (in Victor ou les enfants au pouvoir liest Charles seiner Frau authentische Artikel aus dem Matin vom 12. September 1909 vor) oder sind Vorlage für Bühnengeschehnisse (in Le trésor des jésuites basiert die Ermordungsszene von M. de Pérédès auf einer wahren Begebenheit). Die surrealistischen Theaterautoren collagierten auch gerne Fragmente aus der Literatur bzw. Fachliteratur in ihre Stücke (in Victor ou les enfants au pouvoir hat Vitrac Auszüge aus dem Larousse, der Ilias und einem Gedicht von Victor de Laprade in den Theatertext übernommen, und in Comme il fait beau! befinden sich Passagen aus Gebrauchsanweisungen für Medikamente). Auch Reklame kommt als Collageelement in den surrealistischen Stücken vor: in Vous m’oublierez verkündet Machine à coudre beispielsweise einen Werbeslogan über Pigeon-Lampen, den man damals in vielen Zeitungen lesen konnte.
Die Collage entspricht der Schnelllebigkeit und Zerstreutheit des modernen Lebens, das sich nicht mehr in seinen Sinnzusammenhängen nachvollziehen lässt. Die Wirklichkeit entzieht sich jedem Ordnungsversuch. Die radikale Juxtaposition von Realitätsfetzen verlangt von den Zuschauern eine Anpassung ihrer Sehgewohnheiten an eine urbane, rapide, multisensorielle Umgebung. Der Autor ist nun nicht mehr Schöpfer eines organischen Ganzen, sondern Dirigent seines Materials, das er so zusammenfügt, dass die Übergänge erkennbar bleiben. Eine Synthese der Einzelteile bleibt aus, sie stehen für sich allein und verweisen nicht auf ein sinnstiftendes Ganzes.