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3 Das surrealistische Theater 3.1 Der Surrealismus

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Das poetische Theater, das Gegenstand dieser Arbeit ist, steht in einer avantgardistischen Tradition und führt, das wird sich zeigen, das Theater des Surrealismus fort. Im Folgenden sollen der Surrealismus und sein Theater kurz skizziert werden, um später wichtige Verbindungslinien zwischen surrealistischem und poetischem Theater identifizieren zu können. Nach einem kurzen Abriss über den Surrealismus – eine vertiefte Auseinandersetzung ist z.B. bei Carrouges1 (1950), Nadeau (1964), Bréchon (1971), Durozoi2 (1997) und Murat (2013) zu finden – sollen die Stellung des Theaters im Surrealismus und die Theatralität der surrealistischen Bewegung beleuchtet werden. Unter Bezugnahme auf Schriften von Surrealisten oder Personen im Umkreis des Surrealismus sowie auf das von Henri Béhar formulierte Korpus surrealistischer Theaterstücke werden die wichtigsten Aspekte des surrealistischen Theaters, die später für das poetische Theater von Relevanz sein werden, zusammengefasst.

Als Gründungsdatum des Surrealismus gilt das Jahr 1924, in dem das Manifeste du surréalisme veröffentlicht wurde. Die surrealistische Gruppe hatte sich von den Dadaisten um Tristan Tzara losgesagt, da ihre Provokationen und Schockstrategien ins Leere gelaufen waren.3

Der Surrealismusbegriff war Jahre zuvor schon von Guillaume Apollinaire verwendet worden: im Programm zum Ballett Parade vom Mai 1917 hatte er die gelungene Vereinigung verschiedener Künste und Disziplinen als „une sorte de sur-réalisme“4 bezeichnet und darin die Ankündigung eines neuen Geistes gesehen. Im Vorwort zu seinem ebenfalls im Jahr 1917 aufgeführten Stück Les mamelles de Tirésias, das er als „drame surréaliste“ bezeichnet hat, liefert Apollinaire eine Definition des Surrealismus: „Quand l’homme a voulu imiter la marche, il a créé la roue qui ne ressemble pas à une jambe. Il a fait ainsi du surréalisme sans le savoir.“5 Die Realität dient als Ausgangspunkt für die Kunst, wird aber von dieser nicht photographisch als tranche de vie wiedergegeben, sondern als eine die objektiv wahrnehmbare Realität transzendierende Wirklichkeit.

Ein Anhänger des Apollinaireschen Surrealismus war Ivan Goll, der die Realität ebenfalls als Grundlage jeder Schöpfung betrachtete. In seinem Manifeste du surréalisme, das nur einige Tage vor dem seines Rivalen Breton veröffentlicht wurde, heißt es: „La réalité est la base de tout grand art. […] Tout ce que l’artiste crée a son point de départ dans la nature.“ Goll definiert den Surrealismus als „transposition de la réalité dans un plan supérieur (artistique)“6. Der Surrealismus ist Goll zufolge das, was übrigbleibt, wenn der Oberflächenrealismus durchdrungen wird und das Wahre an den Tag tritt. Im Vorwort zu seinem Stück Mathusalem (1920) ist zu lesen: „Le surréalisme est la plus forte négation du réalisme. Il fait apparaître la réalité sous le masque de l‘apparence, favorisant ainsi la vérité même de l’être.“7

Das Material des Künstlers ist die ganze Welt, so hat Pierre Albert-Birot, der ebenfalls den Surrealismus Apollinaires vertrat, es in seiner Erklärung zum „théâtre nunique“ von 1916 geschrieben: „Le monde entier est son atelier, le monde entier est son cabinet de travail, le monde entier est son modèle et il ne peut avoir que des aspirations à ce que l’on pourrait appeler le mondialisme ou l’universalisme.“8 Der Surrealismusbegriff ist also in den intellektuellen Pariser Kreisen schon in Gebrauch, bevor André Breton ihn für sich beansprucht. Der Apollinairesche Surrealismus strebt die Vereinigung verschiedener Künste an, er nimmt die Realität zum Ausgangspunkt und die Welt zum Materiallieferanten, er will nicht imitieren, sondern das ganze Leben auf die Bühne bringen.

In seinem Manifeste du surréalisme gibt Breton an, den Surrealismusbegriff von Apollinaire zu dessen Ehren übernommen zu haben, weist allerdings auch darauf hin, dass das Wort sich erst mit ihm, Breton, und seiner Gruppe durchgesetzt habe. Breton definiert den Surrealismus in einer Art Enzyklopädieeintrag als

[a]utomatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer, soit verbalement, soit par écrit, soit de toute autre manière, le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l’absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale.9

Mit Breton schlägt der Surrealismus eine neue Richtung ein. Der Begriff bezeichnet nun das wahre Denken, das sich frei von Vernunft, Ästhetik- und Moralvorstellungen entfaltet. Der Bretonsche Surrealismus verweilt nicht im Bereich der Kunst, sondern arbeitet an der „résolution des principaux problèmes de la vie“10 und wird damit zu einer Wissenschaft der Lebensbewältigung, die nun auch dem bisher unbeachteten Bereich des Unbewussten, der Träume und Mythen einen wichtigen Platz einräumt. Im Manifeste soll die gesellschaftliche Veränderung noch über den Geist des Individuums vollzogen werden, Konzepte wie Familie, Vaterland, Religion, Arbeit und Ehre, die im Krieg so viele Opfer gefordert hatten, wurden gegen die Begriffe Poesie, Liebe und Freiheit eingetauscht.

Die im Jahr 1919 von Breton, Aragon und Soupault gegründete Zeitschrift Littérature war das Organ der vorsurrealistischen Gruppe. Der ironisch gemeinte Titel basiert auf einem Zitat Verlaines aus dem Gedicht L’Art poétique („Et tout le reste est littérature“), verweist aber dennoch auf die literarischen Wurzeln des Surrealismus.

Im Jahr 1924 wurde Littérature dann von der Zeitschrift La Révolution surréaliste abgelöst, ein Titel, der auf eine zunehmend anti-literarische, anti-künstlerische Tendenz innerhalb der surrealistischen Bewegung verweist. Ab Mitte der 1920er Jahre stellt sich für die Surrealisten immer dringlicher die Frage nach einem politischen Engagement, das sie schließlich 1927 mit ihrem Eintritt in die Kommunistische Partei verwirklichen. In Au grand jour (1927) heben sie die Konkordanz zwischen Surrealismus und Kommunismus hervor und verurteilen die ehemaligen Weggefährten Soupault und Artaud aufgrund ihrer „poursuite isolée de la stupide aventure littéraire“11. Die Surrealisten befinden sich in einer schwierigen Phase zwischen Selbstauflösung innerhalb der Kommunistischen Partei und Rückkehr in ihre wirkungslose, weil selbstgenügsame und ästhetizistische, Ausgangsphase. Trotz dieser Schwierigkeiten blühte die Produktion surrealistischer Texte in dieser Zeit.

La révolution surréaliste wurde 1930 von einer neuen Zeitschrift, Le surréalisme au service de la révolution, abgelöst. Im selben Jahr veröffentlichte Breton das Second manifeste du surréalisme, in dem der Surrealismus auf einen strengeren Kurs eingenordet und von Elementen, die der surrealistischen Sache nicht dienlich waren, befreit werden sollte. Hierzu gehören auch die Abrechnung Bretons mit ehemaligen Gruppenmitgliedern (Soupault, Vitrac, Artaud, Desnos, Duchamp, Ribemont-Dessaignes und Picabia) sowie eine deutlich politische Ausrichtung des Surrealismus. Es geht nun nicht mehr nur um eine geistige Revolution (wie noch im ersten Manifest), sondern um die soziale Frage, der sich die Surrealisten stellen müssen. Doch auch selbstkritische Tendenzen werden laut, es regt sich das Bedürfnis nach einer Infragestellung der Ziele und Motive des Surrealismus. Breton macht deutlich, dass der Surrealismus sich noch in der Vorbereitungsphase befinde und dass die Entfaltung seiner Wirkung auf die Zukunft ausgerichtet sei. Seinen Kunstcharakter hat der Surrealismus komplett verloren, er sei, so Breton, weder Kunst noch Anti-Kunst, sondern er „plonge ses racines dans la vie“12. Ein wichtiges Projekt der Surrealisten bleibt weiterhin die Erkundung der verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz und die Erforschung jenes „point de l’esprit d’où la vie et la mort, le réel et l’imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l’incommunicable, le haut et le bas cessent d’être perçus contradictoirement.“13 Die Zusammensetzung der surrealistischen Gruppe änderte sich stets: manche Mitglieder gingen (wie Aragon, der mit der Gruppe brach, um sich der kommunistischen Sache zu widmen), andere kamen (wie Salvador Dalí, der den Surrealismus um weitere Techniken zur Erkundung des menschlichen Geistes bereicherte).

Dass die revolutionäre Kraft ihren Zenit überschritten hat, wird deutlich, als die Zeitschrift Le Surréalisme au service de la Révolution im Jahr 1933 eingestellt wird. Spätestens anlässlich des „Congrès des écrivains pour la défense de la culture“ (1935 in Paris), an dem die Teilnahme der Surrealisten von den Kommunisten stark sabotiert wird – die Eindrücke des Kongresses wurden in Du temps que les surréalistes avaient raison (1935) verarbeitet –, spätestens da glauben die Surrealisten nicht mehr an eine Versöhnung surrealistischer und kommunistischer Intentionen.

Die Konsekrierung des Surrealismus als künstlerische Bewegung nimmt somit ihren Lauf. Zahlreiche Surrealisten emigrieren in die USA, darunter auch Breton, der im Jahr 1940 nach New York geht. Nach dem Krieg hatten sich die Zeiten geändert, die Jugend hatte in Camus und Sartre, die sich im Krieg engagiert hatten, neue Helden gefunden. Überhaupt hatte der grausame Krieg die Wirkkraft des Surrealismus mit seinen unerfüllt gebliebenen Ambitionen in Frage gestellt. So ist der historische Surrealismus, der zwar erst im Jahr 1969 offiziell als beendet gilt, (spätestens) nach dem Krieg obsolet geworden. Er hatte sein Versprechen nicht halten können, „la transformation totale de la vie“14 war ausgeblieben, und trotz seiner anti-künstlerischen Haltung hatte er nur noch mehr Kunst produziert. Man muss wohl Jean Schuster zustimmen, wenn er in seinem Artikel Le quatrième chant in Le Monde vom 4. Oktober 1969 zwischen einem „surréalisme 'historique'“ und einem „surréalisme 'éternel'“ unterscheidet. Mit der Ikonizität seiner verbalen und graphischen Bilderwelt hat der Surrealismus als eines der „meilleurs produits d’exportation“15 Frankreichs die Sehgewohnheiten der Menschen grundlegend verändert und ist mit seiner traumhaften Bildsprache längst in das kollektive Bewusstsein der Massen getreten.

Der Surrealismus sah sich demnach schon zu seinen Hochzeiten mit seinen eigenen Aporien konfrontiert. Musste man bei der Transformation des Lebens zuerst beim Individuum ansetzen oder bei der Gesellschaft? Konnte man das Leben von der Kunst her verändern oder war dies nur durch politisches Engagement möglich? Dieser im Surrealismus und in der Avantgarde im Großen angelegte Widerspruch manifestiert sich im Kleinen am Theater, das ja ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Kunst und Leben steht.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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