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3.4 Das surrealistische Theater

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Das surrealistische Theater als Forschungsgegenstand sah sich lange einem doppelten Dilemma ausgesetzt.

Auf praktischer Seite waren die Texte und Stücke lange Zeit kaum zugänglich, da sie nicht veröffentlicht bzw. gespielt wurden. Viele Stücke waren gar nicht in einem professionellen Rahmen entstanden, sondern waren nur einmalig von Amateuren (oft den Surrealisten selbst) aufgeführt worden. In den letzten Jahrzehnten wurden allerdings viele surrealistische Theatertexte veröffentlicht und Stücke vermehrt aufgeführt. Begonnen hat die wissenschaftliche Rezeption des surrealistischen Theaters mit der Wiederentdeckung des Surrealismus in den 1960er Jahren. Henri Béhar1 hat das surrealistische Theater im Jahr 1967 erstmals in den Fokus der Wissenschaft gerückt und überhaupt erst einmal definiert, welche Stücke unter diesem Begriff subsumiert werden können. Béhars Korpus surrealistischer Theaterstücke wird in diesem Kapitel zur Grundlage genommen. Gloria Orenstein2 wollte 1975 da anknüpfen, wo Béhar aufgehört hatte, nämlich am Theater, das nach 1940 außerhalb von Europa stattgefunden hat und in der surrealistischen Tradition stand. Damit hat Glorenstein in der Avantgardetheaterforschung schon früh eine nicht-eurozentristische Haltung eingenommen. David Zinder hat das surrealistische Theater 1976 aufgewertet als eine Art „missing link“ zwischen dem frühen Avantgardetheater und dem experimentellen Theater der 1960er und 1970er Jahren. Im surrealistischen Theater sei schon alles im Keim enthalten gewesen, was später auf den experimentellen Bühnen Furore gemacht habe. Annabelle Melzers3 Verdienst ist es, im Jahr 1980 den Aufführungkontext der surrealistischen Stücke rekonstruiert zu haben. Jürgen Grimm4 hat 1982 das surrealistische Theater erstmals nach bestimmten Kategorien untersucht. Holger Fock5 widmete sich 1988 ebenfalls dem Theater der Surrealisten und insbesondere dem „Théâtre Alfred Jarry“: die Bedeutung dieses Theaters sah er darin, dass das Theater hier zum ersten Mal vollständig in den Dienst der Poesie gestellt worden sei. Eine vergleichende Studie der avantgardistischen Theaterformen im Futurismus, Dadaismus und Surrealismus hat Sylvia Brandt im Jahr 1995 vorgelegt. Sie beleuchtet das Theater der historischen Avantgarde vor allem vor dem Hintergrund der von den Avantgardisten angestrebten Überführung von Kunst in Lebenspraxis. Das praktische Dilemma des surrealistischen Theaters hat sich also mit der Inventarisierung, Systematisierung, Analyse und Kontextualisierung surrealistischer Theaterstücke durch die Forschung aufgelöst.

Aus avantgardetheoretischer Sicht ist das surrealistische Theater problematisch, weil die Materialität, der Wiederholungs- und Simulationscharakter des Theaters sowie die durch Bühne und Zuschauerraum bestätigte Grenze zwischen Kunst und Leben der Intention der Avantgarde (also der Überführung von Kunst in Lebenspraxis) grundlegend widersprechen. Asholt löst den „gattungsspezifischen Unmöglichkeitscharakter“6 des surrealistischen Theaters, indem er zwischen einem surrealistischen Theater ersten Grades (Ästhetik) und einem surrealistischen Theater zweiten Grades (Gesellschaftsrevolution, Überführung von Kunst in Lebenspraxis) differenziert. Die surrealistischen Theatermacher hatten demnach zwei Möglichkeiten. Erstens die ästhetische Option, d.h. das Verharren in der Institution Theater und deren Weiterentwicklung von innen. Diesen Weg haben die Dramatiker Artaud und Vitrac gewählt, die die dramatische Tradition des surrealistischen Theaters eingeleitet haben. Zweitens die radikal-politische Option, d.h. die Selbstauflösung des Theaters. Die Kunstproduktion wurde eingestellt, da die Idee von der Überführung der Kunst in Lebenspraxis gescheitert war und schon gar nicht an einem Ort wie dem Theater, wo Kunst und Leben so offensichtlich voneinander getrennt sind, realisiert werden konnte. Die Surrealisten um Breton haben diesen Weg eingeschlagen, ihre Theaterstücke sind stark literarisch geprägt und nehmen von den spezifischen Gegebenheiten der Bühne so gut wie keine Notiz, da das Theater hier nicht selbstzweckhaft ist, sondern lediglich als eines von vielen Mitteln der gesamtgesellschaftlichen Revolution dient.

Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte einer surrealistischen Theaterästhetik untersucht. Diese werden später für die Theaterpoeten eine wichtige Rolle spielen.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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