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3.4.5 Mythos Moderne

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Mythen sind die Versuche einer Gemeinschaft, Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden. Sie sind im kollektiven Bewusstsein der Menschen verankert. Die Phänomene der Welt werden hier nicht auf wissenschaftlich-abstrakte, sondern auf emotionale Weise erklärt. Mythen haftet von Natur aus etwas Theatralisches an, da sowohl der Mythos als auch das Theater eine komplexe Realität in einem konkreten oder imaginären Raum durch Materialisierung veranschaulichen. Während die Wissenschaft die Welt mithilfe von Kognition und Sinneswahrnehmungen erklärt, erlauben Mythen einen alternativen Zugang zur Realität, d.h. vor allem über die Emotion, die Imagination und den Traum. Für die Avantgarde war es nun an der Zeit, neue Mythen zu schaffen: „les fables s’étant pour la plupart réalisées et au delà, c’est au poëte d’en imaginer de nouvelles que les inventeurs puissent à leur tour réaliser“1, forderte bereits Apollinaire.

In der seinem Le paysan de Paris vorangestellten Préface à une mythologie moderne plädiert Aragon gegen die „[f]ausse dualité de l’homme“2 und kritisiert das überkommene dichotomische Denken des Menschen: „Et que m’importe le blanc ou le noir? Ils sont du domaine de la mort.“3 Der Aragonsche Mythos koinzidiert mit dem „merveilleux quotidien“4, auf dessen Suche sich die Surrealisten vor allem im urbanen Paris begeben. Der Surrealismus ist außerhalb eines Pariser Kontexts kaum denkbar: in einem Stadtführer über das Paris der Surrealisten erklärte Béhar, „que le surréalisme est un phénomène majoritairement parisien.“5 Die meisten surrealistischen Stücke spielen in Paris oder nehmen Bezug auf Paris und seine Quais, Straßen und Boulevards, seine Stadtviertel, Monumente und Bauwerke, seine Parks, Cafés und Kaufhäuser. In Vous m’oublierez liefert Machine à coudre sogar ein kleines Panorama der Pariser Viertel:

Le quartier Montparnasse a conservé sa physionomie paisible, avec ses artistes, ses philosophes dont les cheveux gris extravaguent sous le chapeau de forme haute. Au quartier Latin on rencontre encore parfois des rêveurs amoureux de beaux livres et de belles estampes. Montmartre est toujours aussi bruyant et la rue de Rivoli avec les Magasins du Louvre, est redevenue le quartier des touristes, des nouveaux riches en quête de luxe, et des lunes de miel classiques. (138f.)

Zur Kulisse des urbanen Pariser Lebens gehören auch ikonische Gebrauchs- und Luxusgegenstände, die die Bedürfnisse der modernen Franzosen sichtbar machen und die für das damalige Publikum Wiedererkennungswert hatten. Die surrealistischen Werbelandschaften lesen sich wie Topographien des Verlangens, sie sind Ausdruck des modernen Mythos der Großstadt Paris. In einem Brief an Simone Kahn erklärte Breton, das Stück S’il vous plaît habe „la prétention de poser le problème de la séduction“ und habe im zweiten Akt die „séduction commerciale = réclame“6 zum Thema. In der Reklame manifestiert sich die zunehmende Irruption des Ökonomischen in den Lebensraum des Menschen. Die Werbung ist die Antwort auf ein inneres Begehren des satten Städters, die Werbeplakate repräsentieren seine noch nicht formulierten Wünsche, schüren seine Sehnsüchte und verführen ihn mit dem Versprechen auf ein besseres und komfortableres Leben. So ist in den surrealistischen Stücken beispielsweise die Rede von Pigeon-Lampen und der Seifenmarke Cadum (Vous m’oublierez), von Hosenträgern der Marke Lido, Babynahrung von Nestlé, Pirelli-Reifen, Fahrrädern der Marke La Française und von der Schuhcreme Lion Noir (Au pied du mur, das 1924 veröffentlicht wurde), von Sèvres-Vasen, Baccarat-Gläsern und einem Stärkungsmittel der Marke Lefranc (Victor ou les enfants au pouvoir, uraufgeführt im Jahr 1928), von einem Ofen der Marke Salamandre (Les mystères de l’amour, veröffentlicht im Jahr 1924) und Phonographen (La place de l’étoile).

Ein surrealistischer Prototyp ist der Flaneur, der sich dem geschäftigen Arbeitsleben entzieht und, für alle Eventualitäten offen, durch die Straßen streift auf der Suche nach wunderbaren Begegnungen. So lobt der Detektiv Létoile in S’il vous plaît die Faulheit als eine Tugend:

On meurt jeune maintenant. La faute en est aux conditions de l’existence qui ont changé. Nous nous surmenons; la vie trop active épuise nos forces. Faisons donc entendre d’autres sons de cloches, ceux-ci joyeux et réconfortants, ce que nous appellerons le joyeux carillon de la paresse, c’est-à-dire l’inutilité des efforts. (118)

Die Surrealisten waren auf der Suche nach neuen Mythen, die es vermochten, den veränderten Geist einer modernen Welt zu erfassen. Dieses Bestreben war eng verbunden mit einer Suche nach dem „merveilleux“ im urbanen Alltag der Surrealisten, der genug Stoff für eine neue Mythenbildung bot. In den surrealistischen Theaterstücken spielt deshalb die Stadt Paris mit ihren Flaneuren, Reklamen, Luxusprodukten und öffentlichen Räumen, die zu Orten für wunderbare Begegnungen wurden, eine große Rolle. Letztendlich ist der Surrealismus, so Asholt7, selbst zum modernen Mythos geworden, indem er versucht hat, die permanente Revolutionskunst zu realisieren.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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