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3.5 Zusammenfassung

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Das poetische Theater steht in der Tradition des Surrealismus und führt das Theater der Surrealisten fort. Das surrealistische Theater war jedoch ein widersprüchliches Unterfangen. Die Widersprüche zeichnen sich bereits im Surrealismus im Großen ab: die Frage, ob die gesellschaftliche Erneuerung mit der Veränderung des Individuums oder aber der Gesellschaft beginnen musste, wurde zur Zerreißprobe für die Surrealisten. War es möglich, das Leben von der Kunst her zu revolutionieren? Oder musste man dafür in die Politik gehen? Vermochte es die Kunst, aus dem Bereich des Ästhetizismus herauszutreten, um im echten Leben Wirkung zu zeigen? Am Theater, wo die Kunst-Leben-Dichotomie aufgrund der Koexistenz von Bühne und Zuschauerraum besonders offensichtlich ist, tritt das surrealistische Dilemma ganz besonders zutage.

Zwar stand Breton dem Theater skeptisch gegenüber, da es finanziellen und materiellen Zwängen unterlag, als Zeichensystem nicht wahrhaftig war und als künstlerische Institution einen ästhetischen Selbstzweck verfolgte. Dennoch war der Surrealismus stark von Theatralität geprägt, die sich in der Theatralisierung des öffentlichen Lebens, in der surrealistischen Selbstinszenierung, im Spiel und in der Begeisterung der Surrealisten für einzelne Theaterhäuser und -stücke offenbarte.

Als Forschungsobjekt stand das surrealistische Theater vor zwei großen Herausforderungen. Aus praktischer Sicht waren viele surrealistische Stücke lange nicht zugänglich. Doch dank der in den späten 1960er Jahren einsetzenden Surrealismusforschung wurden die Theaterstücke endlich veröffentlicht, analysiert, geordnet und kontextualisiert. Aus theoretischer Sicht stellte sich die Frage, ob es ein surrealistisches Theater überhaupt geben konnte, schließlich widersprach die dem Theater inhärente Trennung von Bühne und Zuschauerraum der surrealistischen Intention einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis. Die Surrealisten sahen sich am Theater mit zwei Möglichkeiten konfrontiert:

1 Die Dramatiker des surrealistischen Theaters, Artaud und Vitrac, waren ernsthaft am Theater und seiner Weiterentwicklung von innen interessiert und nahmen Kenntnis von den bühnenspezifischen Gegebenheiten. Sie schlugen den ästhetischen Weg ein und riskierten damit den Verlust der Radikalität und der gesellschaftlichen Relevanz ihrer Kunst.

2 Die Literaten des surrealistischen Theaters um Breton sahen das Theater als ein Mittel unter vielen, um die Gesellschaft zu revolutionieren. Sie hegten kein theaterspezifisches Interesse, ihre Stücke waren hauptsächlich verbaler Natur. Nachdem sie jedoch erkannt hatten, dass sich die Grenze zwischen Kunst und Leben nicht aufheben, sondern lediglich verschieben ließ, zogen sie sich von der Institution Theater zurück.

Die Ästhetik des surrealistischen Theaters umfasst viele Aspekte, die später auch für das poetische Theater von Relevanz sein werden.

Die Poesie hat bei den Surrealisten einen hohen Stellenwert. Sie ist kein bloßes Ausdrucksmittel mehr, sondern wird praktisch und zur Aktivität des Geistes. Sie erfährt somit eine Entgrenzung aus der Literatur hinein in andere Bereiche des Lebens, wo sie den Menschen aus seinen gesellschaftlichen und moralischen Ketten befreien soll. Bei den Surrealisten demokratisiert sich die Poesie und wird für alle zugänglich.

In den literarisch geprägten surrealistischen Stücken Bretons, Aragons, Picassos etc., aber auch in den dramatischen Stücken Vitracs, ist die Sprache das zentrale Bühnenelement. Sprache, Denken und Realität waren für die Surrealisten Synonyme: die Sprache musste erneuert werden, um ein neues Denken und damit eine neue Realität hervorzubringen. Die Erforschung der verborgenen Bereiche des menschlichen Daseins geschah über die Sprache. Hierfür bot sich der poetische Dialog ganz besonders an, wo zwei oder mehrere Gesprächspartner einander als Sprungbrett ins Unbewusste dienten. Die surrealistische Technik der écriture automatique ermöglichte es jedem, das Denken von verfremdenden Filtern wie Moral, Vernunft und Konventionen zu befreien und in den bisher im Dunklen liegenden Bereich der Mythen und Träume vorzustoßen. Die Figuren in den surrealistischen Theaterstücken sind rein verbaler Natur, sie sind Subjekte und Objekte zugleich und zapfen eine übergeordnete poetische Sphäre an.

Die Surrealisten lebten nicht in einer Parallelwelt, für sie blieb die Realität immer der Ausgangspunkt, um das Wunderbare zu erforschen. Realität und Irrealität, Wirklichkeit und Traum, Luzidität und Delirium etc. waren für sie keine voneinander getrennten Sphären, sondern standen im Austausch miteinander. Die Surrealisten waren tief in der Wirklichkeit verwurzelt, knüpften aber neue Beziehungen zu ihr. Das „merveilleux“, das in den surrealistischen Theaterstücken in Form von überraschenden, ungewöhnlichen, wunderbaren Momenten stark präsent ist, war ihre Richtschnur. Es entstand aus einer Umwertung der Beziehung zur Realität und war für jeden zugänglich.

Die Surrealisten wollten binäre Kategorien zum Einsturz bringen, so auch die Dichotomie Traum-Wachzustand. Diese Bereiche standen sich nicht gegenüber, sondern kommunizierten miteinander. Zu einem besseren Verständnis des Menschen musste der Traum weiter erforscht werden, der, wie auch der Wachbereich, einer Ordnung gehorchte. Die Surrealisten nutzten Techniken, wie z.B. das Schreiben im Halbschlaf, Traumprotokolle und Trancephasen, um der Logik des Traums auf den Grund zu kommen. Der Traum spielt auch in den surrealistischen Theaterstücken eine große Rolle, wo er zur Pforte in die verborgenen Bereiche der menschlichen Existenz wird und den Figuren alternative Lebensentwürfe aufzeigt. Außerdem findet sich der Traum als Konstruktionsprinzip in manchen Stücken wieder.

Die Surrealisten wollten neue Mythen erschaffen. Mythen bieten einen alternativen Zugang zur Realität, da sie sich den wichtigen Fragen des Lebens nicht auf wissenschaftlicher, sondern auf affektiver Ebene nähern. Paris war das Zentrum dieser modernen Mythologie, die eng mit der Suche nach dem Wunderbaren verknüpft war. Die französische Hauptstadt mit ihren Reklamen, Luxusgegenständen und Flaneuren wird in den surrealistischen Theaterstücken zur Protagonistin.

Die Collage, also die Übernahme von kunstfremdem Material in die Kunst auf solche Weise, dass sein Verwendungszweck und sein Wesensunterschied zu dem vom Künstler selbst angefertigten Material erkennbar bleiben, war Anfang des 20. Jahrhunderts eine Reaktion auf eine nicht mehr zu bewältigende Wirklichkeit. Die moderne Welt war zu komplex geworden, sie konnte nicht mehr als Ganzes erfasst werden, und das, was bisher als selbstverständlich gegolten hatte, wurde nun in Frage gestellt: Realität und Identität lösten sich langsam auf. Dasselbe geschieht in der Collage, wo traditionelle Dichotomien aufweichen. Das collagierte Material wird zu Kunst aufgewertet, die Kunst wird zu Nicht-Kunst abgewertet. Der Künstler ist nicht mehr das inspirierte Genie, sondern Organisator von Material, genau wie der Theaterregisseur. Die Grenze zwischen Kunst und Leben verwischt in der Collage, wo das Alltägliche in die Kunst einbricht. Die Collage entspricht der surrealistischen Bildtheorie, nach der das Aufeinandertreffen zwei disparater Realitäten zu neuen, überraschenden Bildern führt, die eine transformative Kraft auf den Betrachter ausüben. Demnach geht es in der surrealistischen Poetik weniger um die Erfindung etwas gänzlich Neuen, sondern um die freie Kombinatorik bereits bestehender Elemente. Collage und Theater sind sich hier sehr ähnlich, denn hier wie dort geht es darum, Fragmente aus unterschiedlichen Bereichen der Realität auf einer geistigen oder konkreten Bühne zusammenzuführen. In den surrealistischen Theaterstücken wurde die Collage als Konstruktionsprinzip angewendet, und Elemente aus Kino, Zeitung und Literatur wurden in den Theatertext hineincollagiert.

Die Beziehung der Surrealisten zu ihrem Publikum war vor allem von Antagonismus geprägt. Es ging den meisten von ihnen nicht darum, ihr Publikum auf Augenhöhe zu treffen. Die Surrealisten wollten ihr Publikum vielmehr aus seiner Passivität aufrütteln, es schockieren und zur Reaktion zwingen. Einzig surrealistische Dramatiker wie Artaud wollten das Publikum zu einem gleichberechtigten Partner machen. Bei ihm sollte die Theatervorstellung für den Zuschauer zur Operation werden, aus der er nicht mehr intakt entlassen wurde. Theater sollte zu einem lebensbedrohlichen und -verändernden Ereignis werden.

Das surrealistische Theater war gescheitert, weil die Literaten unter den Surrealisten ihrer hauptsächlich verbalen Poesie nicht die nötige Schwere verleihen konnten, die sie am Theater benötigte. Außerdem hatten die Surrealisten, die in der Mehrzahl kein theaterspezifisches Interesse hegten, das Theater nach einigen Versuchen bald aufgegeben, weil sich gerade hier, in der Konfrontation von Bühne und Zuschauerraum, die Überführung von Kunst in Lebenspraxis nicht verwirklichen ließ. Die surrealistischen Dramatiker Artaud und Vitrac waren die einzigen, die in ihrer Bühnenpoesie auch die theaterspezifischen Umstände berücksichtigten, doch Artauds bahnbrechende Überlegungen zu einer neuen Theatersprache wurden bekanntlich zu seiner Zeit nicht realisiert. Es sind die Theaterpoeten, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Fäden der surrealistischen Theatermacher wieder aufgreifen.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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