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4 Das poetische Theater 4.1 Einleitung

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Der Begriff des poetischen Theaters mag auf den ersten Blick problematisch erscheinen, denn ist nicht letztlich der britischen Theaterkritikerin Lyn Gardner vom Guardian zuzustimmen, wenn sie sagt, dass „all theatre is, in one sense at least, poetry performed“1? Für André Rousseaux war das Theater schon immer das Sprachrohr der Poesie: „Le théâtre est, depuis toujours, la porte triomphale par où la poésie se présente à nous face à face.“2 Und in einem Artikel, in dem er Schehadé verteidigte, schrieb Dumur: „Il n’y a de théâtre que poétique. Tout le reste est mensonge.“3

In der vorliegenden Arbeit wird unter der Bezeichnung des poetischen Theaters, die sich mittlerweile in der Forschung – auch in Abgrenzung zum absurden Theater – etabliert hat, ein historisch klar umrissenes Theater verstanden. Der Begriff bezeichnet eine lose Gruppe französischsprachiger Dramatiker der unmittelbaren Nachkriegszeit, welche ihre Schriftstellerkarriere als Dichter begonnen hatten. Zeitlich anzusiedeln ist das poetische Theater in der Zeit zwischen den späten 1940er und den 1960er Jahren, zu ihm zählen Dramatiker wie Audiberti, Dubillard, Obaldia, Pichette, Schehadé, Tardieu, Vauthier und Weingarten.

Wie das absurde Theater ist das poetische Theater im Kontext der Nachwehen des Zweiten Weltkriegs und der Popularisierung der französischen Existenzphilosophie Sartres und Camus‘ zu begreifen: Absurdität der menschlichen Existenz, Sinnlosigkeit und Hostilität des Universums, Entfremdung des Einzelnen von sich selbst und seinen Mitmenschen. Doch die Konsequenzen, die beide aus dieser condition humaine ziehen, sind grundverschieden. Bei den absurden Dramatikern herrscht eine nihilistisch-destruktive Weltanschauung, die sich vor allem in der Erosion der Sprache ausdrückt, welche nicht mehr in der Lage ist, ihre grundlegenden Funktionen (Darstellung der Wirklichkeit, Kommunikations- und Ausdrucksmittel, Vermittlung von Informationen etc.) wahrzunehmen. Im Gegensatz dazu stehen die Theaterpoeten, die an eine surrealistische Tradition anknüpfen: sie sind mit dem Bereich des Wunderbaren und Traumhaften in Kontakt und rücken die Sprache in den Mittelpunkt ihres Schaffens. Anstatt die Sprache zu zerstören, haben die Theaterpoeten Vertrauen in das Wort und seine schöpferisch-performative Kraft und zeigen darüber eine alternative Realität auf, die bei den absurden Dramatikern nicht mehr möglich scheint. Man kann also mit Tonnet-Lacroix4 von einem surrealistischen Theater nach 1945 sprechen.

Die Theaterpoeten führten die surrealistischen Theaterversuche jedoch nicht einfach fort. Die Surrealisten, das wurde im dritten Kapitel gezeigt, waren hauptsächlich Literaten und ignorierten die Unterschiede zwischen Poesie und Bühne. Sie hegten – bis auf einige Ausnahmen – kein ernsthaftes Interesse für die Bühne. Die Kunst war für sie ein Mittel zum Zweck, womit eine Gattungstrennung, die unterschiedlichen Genres unterschiedliche Regeln auferlegt, obsolet geworden war. Die Surrealisten hatten verkannt, dass Poesie auf der Bühne die Regeln des Theaters respektieren muss. Ionesco hat den literarischen Charakter des surrealistischen Theaters zu Recht kritisiert:

J’avais connu, bien sûr, plus ou moins, quelques tentatives Dadaïstes ou Surréalistes de théâtre, et Roussel et Vitrac. Cependant, à part Vitrac, aucune de ces tentatives antérieures n’avait le dynamisme, le mouvement, les ruptures, la vie, le côté 'événements surprenants' qui font qu’une œuvre soit dramatique, car les pièces Surreálistes n’étaient que de la littérature, mais pas du théâtre. […] Le théâtre n’est pas le dialogue, le théâtre ne fait qu’utiliser le dialogue. Combien d’auteurs n’ont pas compris cette vérité théâtrale fondamentale: le théâtre n’est pas dialogue, si subtil celui-ci puisse être.5

Im Gegensatz dazu waren die Theaterpoeten ernsthaft am Theater und an den bühnenspezifischen Mitteln interessiert. Sie haben erkannt, dass Poesie nicht direkt auf die Bühne übertragen werden konnte und strebten – intuitiv oder bewusst – an, was die Surrealisten nicht geschafft hatten: die Zusammenkunft von Poesie und Bühne, Immaterialität und Materialität, Unmittelbarkeit und Konkretizität, Literarizität und Dramatizität. Kurz: sie wollten das erreichen, was Cocteau im Vorwort zu Les mariés de la Tour Eiffel als „poésie de théâtre“ (anstelle einer „poésie au théâtre“6) bezeichnet hat. Wie und inwiefern den Theaterpoeten dies gelungen ist, soll im Folgenden betrachtet werden.

Das poetische Theater Frankreichs im Zeichen des Surrealismus

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