Читать книгу Heile die Wunden deiner Kindheit - Susanne Huhn - Страница 43
JAN
Оглавление»Mist!«, flucht Jan. Er muss noch mindestens zehn Patientenberichte für die Krankenkasse schreiben und einige Gutachten stehen aus. Wie immer lässt er sich zu viel Arbeit aufhalsen, denkt er, während er sich im leeren Büro umschaut. Natürlich ist es wieder spät geworden, schon nach acht. Und jetzt das – der Computer lässt ihn im Stich. Als reflektierter Mensch weiß Jan, warum er so im Verzug ist. Seine Mutter, wie immer. Wenn sie ihn nicht mindestens fünfmal am Tag anrufen würde, um sich von ihm emotional aufbauen zu lassen, käme er viel besser voran. Er ist unter Druck, das ist ihm bewusst. Doch gleichzeitig weiß er, dass er sie auf keinen Fall hängen lassen könnte. »Der Vater versteht das nicht«, sagt sie immer, und obwohl er weiß, dass er sich in einer schwierigen Abhängigkeit befindet, packen ihn sofort heftige Schuldgefühle, wenn er nicht innerhalb von fünf Minuten auf ihre Anrufe antwortet. Jan seufzt. Er schafft sein Arbeitspensum nicht. Dass er genau weiß, wie negativ sich das Gefühl des Versagens auf ihn auswirkt, bereitet ihm zusätzlichen Stress.
Sein Kollege Dominik tritt unaufgefordert in das Zimmer. Er strahlt und hält eine Flasche in der Hand. »Feiern?«, fragt er nur und zeigt Jan das Etikett. Es ist teurer Champagner. Jan fühlt, wie Groll in ihm aufsteigt. Kann man ihn nicht einmal in Ruhe lassen, einmal nur?, knurrt es in ihm und er ballt innerlich die Fäuste. »Was feiern wir?«, fragt er freundlich und zwingt sich zu einem Lächeln. Er fühlt förmlich, wie Dominiks Laune sinkt. »Zehn Jahre Praxis, zehn Jahre Zusammenarbeit … hast du es vergessen?« Dominik stellt die Flasche auf Jans Schreibtisch. Sofort fühlt Jan sich schlecht, doch gleichzeitig ist er wütend. Er hat wirklich keine Zeit, das sieht Dominik doch! Würde er sonst noch am Schreibtisch sitzen? Und jetzt macht er ihm auch noch Vorwürfe, das geht zu weit. Männer sind das Letzte, denkt Jan, sie sind unsensibel und nur auf ihr Vergnügen aus. Erschrocken hält er inne. Woher kam denn dieser Gedanke?
»Ja«, sagt Jan, »ich habe es vergessen. Ich habe jetzt auch keine Zeit, ich bin völlig hinterher mit allem. Und ich denke, ich brauche Hilfe.« Dominik setzt sich auf den Stuhl, der vor Jans Schreibtisch steht, und schaut ihn ernst an. »Ja, das glaube ich auch. Ich bin gern für dich da«, sagt er, und Jan ärgert sich schon wieder. Ist es so offensichtlich, dass er nicht klarkommt? »Danke«, sagt er dennoch und schiebt ihm zwei der fünf Akten zu, die sich auf seinem Tisch stapeln. »Kannst du diese Gutachten für mich ausarbeiten? Danke.« – »Ach so«, sagt Dominik tonlos, und Jan schaut ihn verwirrt an. Was hat er denn nun schon wieder falsch gemacht? Lange geht das nicht mehr gut mit ihnen, denkt er, Dominik ist viel zu empfindlich. Er hatte doch Hilfe angeboten, oder? Eines Tages, denkt er, und zwar bald, wird er die gemeinsam aufgebaute Praxis verlassen …
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