Читать книгу Sperrgebiet! - Susanne Klein - Страница 22
SECHZEHN
ОглавлениеAuf meiner Fahrt zur Arbeit, am nächsten Morgen, machte ich den üblichen Stopp beim Ortsbäcker „Pepe“ und nahm mir meinen ersten Kaffee im Becher mit. Eigentlich bin ich Langschläferin und deshalb ohne Koffein um diese Uhrzeit nicht lebensfähig. Hoch lebe der Erfinder des „Coffee to go“, dem es wahrscheinlich ähnlich gegangen sein musste, als er das Getränk gangbar machte. Mein Gewissen hatte mich früh aus dem Bett getrieben, weil ich wusste, dass unser gesamtes Team wieder bis spät in die Nacht gearbeitet hatte, während ich den Abend nach einem ausgiebigen Sportprogramm mit den Folgen 1, 2 und 3 einer amerikanischen Serie auf Netflix verbracht hatte. 4 bis 8 verschlief ich komplett, sodass ich ausgeruht um kurz nach 05.30 Uhr erwachte. Auf dem Sofa – vor dem Fernseher.
„Hi Sara, Du bisse aber früh. Isse alles in de Ordnung?“ Der Inhaber und gute Geist der Backstube freute sich immer, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen und begrüßte mich überschwänglich mit seinem südländischen Dialekt und Küsschen hier und Küsschen da. Dabei war die letzte Begegnung selten mehr als 24 Stunden her. Aber das entsprach seinem Naturell und war sehr wohltuend in der zum Teil sehr ignoranten neuen Welt.
„Ja, alles ok, Pepe. Wie geht’s Dir?“
„Sehe wir uns an Freitag zu Karaoke-Abend in de Ratskeller?“
Die Antwort blieb ich im schuldig. Ich und Karaoke … ich und Ratskeller … ich und Pepe. Das ging alles nicht. Das ging gar nicht. Pepe ist ein toller Mensch und ich freute mich immer, ihn zu sehen. Aber ihm fehlten eine ganze Menge Haare und Zähne. Und das, was oben nicht mehr vorhanden war, hatte er an Bauchumfang zu viel. Durch seine liebe und immer freundliche Art, war er ein absoluter Menschenfänger und mein Herzensmensch. Eine Beziehung mit ihm konnte ich mir allerdings nicht vorstellen, auch wenn er hin und wieder Versuche startete, sich mit mir zu verabreden. So wie heute.
„Da kannste Du mire etwas von der verschwundene Bella erzählen. Der Fitnessstudio, wo sie gearbeitete, ist ganz in die Nähe von hier“, rief er mir hinterher. „Wusste Du?“
Klar wusste ich das, Lohmar ist ein Dorf. Jeder kennt jeden und jeder weiß, was der andere tut. Spätestens bei Pepe erfährt man alles.
Auch diese Frage beantwortete ich ihm nicht. Dienstgeheimnis eben. Ich hatte die Tatsache zwar in der Akte gelesen, verdrängte es aber, um mir nicht unnötig vor Augen zu führen, wie nah das Verbrechen war. Dass wir sie vermutlich gefunden hatten und sie tot war, durfte ich unter gar keinen Umständen durchblicken lassen. Dann wäre meine Karriere bei der Polizei schon zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
„Ciao Pepe. Bis morgen.“
Den Kaffee musste ich schlürfen, um mir nicht den Mund zu verbrennen. Aus den vielen schmerzlichen morgendlichen Erfahrungen wusste ich nur zu gut, dass er erst in Köln die optimale Trinktemperatur haben würde. Und so landete der Becher noch fast voll auf meinem Schreibtisch.
„Guten Morgen!“, begrüßte mich Frank, der immer der Erste aus unserem Team im Büro war. Dass er so früh hier war, sprach für eine äußerst kurze Nacht.
„Danke, für den Kaffee.“ Ohne aufzublicken nahm er einen großen Schluck. Dass er nicht für ihn sein könnte, zweifelte er keine Sekunde an. Die Welt drehte sich halt um ihn und nicht umgekehrt. Er war unrasiert heute Morgen, trug noch denselben Anzug wie gestern und sah verschlafen aus. Sein Körpergeruch aus Nikotin und Schweiß erfasste den Raum und in einer großen Welle der stinkenden Moleküle auch mich. Puuuuh! Das passte überhaupt nicht zu ihm und war einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass er die komplette Nacht im Dickicht des Verbrechens verbracht hatte.
„Wir waren die ganze Zeit hier und sind das wenige, das wir haben, wieder und wieder durchgegangen“, berichtete er von den vergangenen Stunden. „Andreas war noch einmal am Fundort und hat versucht, etwas zu finden, das wir und die Kollegen übersehen haben könnten.“ Seinen Unmut darüber konnte er kaum zügeln und die Ader auf seiner Stirn drohte vor Zorn zu platzen. „Gefunden hat er natürlich nichts!“
„Kann ich etwas für Dich tun?“, fragte ich.
„Könntest Du gleich den Befund in der Gerichtsmedizin abholen?“ Frank kramte in einem Stapel Unterlagen. „Und prüfe bitte alte Vermisstenfälle hier in der Region und einen möglichen Zusammenhang mit anderen Leichenfunden“, fügte er hinzu.
Der Ernst der Situation war ohne eine Erklärung spürbar und ließ keinen Raum für Höflichkeitsfloskeln oder ein privates Wort. Ich hörte immer wieder und überall, dass sich die Stimmung im Polizeipräsidium seit den Silvestervorfällen in Köln sehr verändert hatte und eine latente Anspannung immer und überall mitschwang. Klar war jedenfalls, dass wir uns gerade im Bezug darauf und übertragen auf die beiden Funde keinen Fehler mehr leisten durften.
Zur Abklärung weiterer Indizien machte ich mich auf den Weg, im untersten Geschoss des Präsidiums persönlich mit Carlo Seitz zu sprechen. Ich nahm an, ihn zu dieser frühen Stunde dort anzutreffen, da er die Nacht nicht in der Wahner Heide, sondern mit der Leiche in der Gerichtsmedizin verbracht hatte. Auch er war im Februar auf der Karnevalsveranstaltung dabei gewesen und wir kannten uns flüchtig. Ich stellte fest, dass er ohne seinen voluminösen Gesamtkörperkapuzenanzug, den er bei Einsätzen trug, verdammt gut aussah. Gestern und zum damaligen Zeitpunkt hatte ich nicht darauf geachtet. Auf der Weiberfastnachtsfeier hatte er seine Freundin im Schlepptau. Sie war unvergleichlich schön und trug ein sehr gewagtes Kostüm, das ihren Rücken bis zur Pofalte freilegte und die anwesenden Männer unruhig hatte werden lassen. Carlo konnte einem nur leidtun, weil er jeden der unzähligen Flirts seiner Lebensgefährtin an diesem Abend mit ansehen musste – bis hin zum finalen Kuss mit einem Kollegen von der Sitte, mit dem sie dann auf Nimmerwiedersehen verschwand.
„Hi Sara, schön Dich zu sehen.“
„Hallo Carlo. Sorry, wenn ich störe. Frank schickt mich. Er wollte wissen, ob Du schon irgendwas Verwertbares oder Ergebnisse hast.“
Seine Miene verfinsterte sich sofort und er wurde ernst: „Nein, nicht wirklich. Wir haben nur wenige Anhaltspunkte, die muss ich aber noch auswerten und zusammenfassen. Allerdings sind wir sehr sicher, dass es sich bei der Toten um Lena Grimm handelt. Die Beschreibung passt zu 99%.“
Er hatte zwar zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts Konkretes für mich, aber er lud mich ein, gelegentlich abends ein Bier mit ihm zu trinken. Vielleicht ließe sich dann über das ein oder andere reden. Er zwinkerte mir zu und lächelte dabei schelmisch. Seine Einladung überraschte mich. Und noch mehr, dass ich ihm zusagte. Einfach so.
Auch ohne den erhofften Durchbruch machte ich mich sofort an die Überprüfung der alten Vermisstenfälle und konnte dabei zumindest eine unübersehbare örtliche Verbindung zu unserem Knochenfund „Heidi“ herstellen. Das war nicht schwer und das Auffallendste an den beiden Frauen. Zunächst ließ ich das Papier auf mich wirken und starrte die wenigen Informationen an, die wir hatten. Der Fundort ihrer Knochen lag zwar genau entgegengesetzt, aber Luftlinie nur etwa 1800 Meter entfernt von dem Parkplatz, auf dem der Mini von Lena Grimm verlassen gestanden hatte. Also in etwa dort, wo man gestern die Leiche fand. Mir fehlte im Moment die Phantasie, die wenigen vorhandenen Spuren weiterbringend zu lesen und deren Schnittmenge zu ermitteln. Ich sollte auf keinen Fall anfangen zu spekulieren – nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Wahrscheinlich würden wir viele Puzzlestücke sammeln und sie mit Weitsicht und der nötigen Geduld zusammenführen müssen. Meine Gedanken sollten neutral bleiben, um Fakten und Annahmen nicht zu vermischen. Im Fall „Heidi“ hatte der Bestatter mir telefonisch bestätigt, dass er anhand der Becken- und der Größe der gefundenen Fingerknochen das Geschlecht eindeutig als weiblich hatte festlegen können. Aufgrund der vor der Verbrennung gut erhaltenen Qualität ihrer Knochen wusste man, dass der Körper der Frau komplett ausgebildet war und sie älter gewesen sein musste. Sprach das für ein sexuell geprägtes Verbrechen? Wohl eher nicht! Allerdings hatte Frank mal in einer internen Besprechung darauf hingewiesen, dass an sexuellen Phantasien nichts auszuschließen sei. Sexualstraftäter ließen keine Perversion aus, ihren Trieb auszuleben und eine Befriedigung herbeizuführen. Das Alter ihrer Opfer spielte dabei nicht selten überhaupt keine Rolle oder es war eben genau der Kick, den sie suchten.
Die wenigen, in der näheren Umgebung gefundenen Kleidungsreste, oder besser gesagt, die vergammelten Fetzen aus Wolle, die davon übriggeblieben waren, schienen von guter Qualität gewesen zu sein. Vielleicht Cashmere. Es war aber nicht sicher, ob sie zur Leiche gehörten, denn eigentlich verrotten Naturfasern relativ schnell. Der Ehering war aus Platin und hatte auf seiner Kante insgesamt 26 Diamanten – ein sehr hochwertiges Stück und äußerst kostbar. Das sah ich, ohne dass ich das beauftragte Gutachten von einem Juwelier vorliegen hatte. Sollte es sich also um ein Verbrechen handeln, konnte ein Raubmord ausgeschlossen werden. Kenner jedenfalls hätten den Ring mitgenommen und notfalls dafür den tragenden Finger geopfert. Auf den zweiten Blick gab es außer dem Fundort keine weiteren erkennbaren Parallelen zwischen dem ersten Fund und Lena Grimm. Dass man auch bei ihr keine Handtasche gefunden hatte, war wohl eher Zufall. Vielleicht ließe sich aus dem privaten Umfeld von Frau Grimm und der geplanten Befragung ihres Vorgesetzten im Fitness-Studio etwas Besseres herleiten. Dafür musste allerdings unzweifelhaft feststehen, dass es sich um Frau Grimm handelt. Meine Aufgabe würde jetzt darin bestehen, Oliver Neyer über die Notwendigkeit seiner Aussage zu informieren und ihn zu bitten, die Leiche in Köln zu identifizieren. Dadurch erhofften wir uns, seine inoffizielle Vernehmung so unauffällig wie möglich aussehen zu lassen und keinerlei Formalien eingehen zu müssen. Denn für eine formelle Befragung gab es bislang keinen ausreichenden Anfangsverdacht. Spät am Nachmittag informierte mich Andreas, dass er und Frank mit einigen Kollegen noch mal zum Schauplatz fahren würden, um mit der Hundertschaft aus Brühl eine Abschlussbesprechung zu machen, bevor alle wieder abziehen würden und das gesperrte Gebiet freigegeben werden konnte. So nahm ich mir vor, zunächst die Stellung im Präsidium zu halten und weiter zu recherchieren.
Um mir für den Abend die nötige Vitalität zu holen, ging ich nach unten und stöberte durch die Abendkarte unserer Kantine. Sabrina lächelte mich unter ihrer weißen Haube an und empfahl mir das rheinische Traditionsgericht schlechthin: Sauerbraten. Da er nicht vom Pferd war, nahm ich eine Portion und setzte mich an den Fensterplatz, der die letzten Sonnenstrahlen für heute durchscheinen ließ. Hinter der Scheibe wurde es mir wohlig warm und mein Abendessen schmeckte köstlich. Was für ein Glück wir mit unserer Firmenkantine hatten. Das Essen war immer frisch, abwechslungsreich und lecker. Und ich hatte einen guten Platz erwischt, weiter über unsere beiden Toten nachzudenken.