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EINS

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Erika Walter hatte, wie sich im Laufe der polizeilichen Ermittlungen herausstellen sollte, ziemlich genau ihr siebenundsechzigstes Lebensjahr vollendet, als sie verschwand und in einem Bett aus Moos, Sand und Heidekraut für lange Zeit ihre vorletzte Ruhe fand. Leicht bedeckt und umgeben vom vertrockneten Laub der vielen zurückliegenden Jahre. Eingebettet in einen sogenannten Bombentrichter, einer mahnenden Hinterlassenschaft aus früheren Zeiten.

Sie war zu Lebzeiten sage und schreibe fünfmal verheiratet gewesen und hatte, so informierte jedenfalls das Stammbuch der Stadt Rösrath, einen heute 46-jährigen Sohn, dessen Vater unbekannt bleiben sollte. Der Junge hatte in seiner Kindheit, aus Gründen des Lebenswandels seiner Mutter, unterschiedliche Einrichtungen, aber auch Pflegefamilien durchlaufen und wurde zur Adoption freigegeben, konnte jedoch trotz aller Bemühungen nie erfolgreich vermittelt werden. Beider Lebensumstände ließen sich erst nach und nach, durch die Verkettung der Ereignisse, in einem fortgeschrittenen Stadium der Recherche erahnen. Nämlich, als es schließlich und endlich gelang, Frau Walter zu identifizieren und ihren Tod zu rekonstruieren.

Dabei stellte sich heraus, dass Erika Walter nach dem Ableben ihres letzten Ehegatten zwar sehr reich, dann aber äußerst unauffällig, zurückgezogen, mit wenig Kontakt zur Außenwelt und ohne Verbindung zu ihrer Familie gelebt hatte, sodass sie nach ihrem Abgang nicht vermisst worden war. Niemand bekam mit, dass sie ihr Haus verlassen hatte und nicht wieder dorthin zurückgekehrt war. Das Leben hatte sie eingeholt, ihr die Jahre der Missachtung seiner Güte vorgeworfen und schließlich Gerechtigkeit gefordert.

Entdeckt hatte ihre Überreste ein unbeteiligter Fahrradtourist, beziehungsweise war sein Hund beim Stöbern und Markieren seines neuen Reviers auf das, was von Frau Walter übrig geblieben war, gestoßen. Der Rüde schnüffelte mit aufrechtstehender Rute am Boden des großen Kraters, der mitten im Gelände durch einen Bombeneinschlag bei einer Truppenübung vor vielen Jahren entstanden war. Dort, wo das Laub nicht mehr hoch genug lag, hatte der Vierbeiner die Einzelteile gefunden und sie aufgewühlt. Die Knochen waren stark verwittert, an einigen Stellen deutlich nachgedunkelt und auf Distanz – zumindest für einen Laien – nicht mehr auf Anhieb als menschliches Skelett erkennbar. Deshalb war Josef Gruber, so hieß der Mann aus Bayern, der auf seiner Fahrradtour das Areal der Wahner Heide erkundete, bei seinem Fund fast geneigt, einfach weiterzuradeln. Aber eben sein Hund, ein Bayerischer Gebirgsschweißhund mit ausgeprägtem Jagdinstinkt, wollte nicht mehr von seiner appetitlichen Beute lassen und knabberte euphorisiert am Wadenbein der Frau Walter. Zwar verzichtete der Rüde auf das sonst übliche Apportieren, knurrte aber besitzanzeigend, als sein Herrchen zu ihm herunterstieg und ihn am Halsband wegzuzerren versuchte. Nicht nur, weil sich der Hund zu einem unberechenbaren Hüter des für ihn äußerst reizvollen Fundes entwickelte und genüsslich weiternagte, sondern auch, weil die Anordnung des Knochengebildes, das vor ihm lag, auf den zweiten Blick, und wenn man es wieder zusammenlegen würde, durchaus dem eines Menschen ähnelte, wählte Josef Gruber schließlich die 110 und informierte die Polizei über seine Entdeckung.

„Wo in etwa befinden Sie sich denn, Herr Gruber?“

„Jo mei, des woass i doch ned“, bayerte er.

Da sich sein Standort so ohne weiteres am Telefon geografisch nicht zuordnen ließ, rückten Streifenwagen aus unterschiedlichen Wachen an und suchten erst einmal nach ihm und seiner Entdeckung. Immerhin erstreckt sich die Wahner Heide östlich der Stadt Köln über 28 Kilometer in nordnordwestliche Richtung und nimmt eine Gesamtfläche von unüberschaubaren etwa 177 Quadratkilometern ein. Erst nach Ortung seines Handys fanden sie ihn schließlich – fernab seiner mehr als vagen Angaben.

„Herr Gruber?“, fragte einer der Polizisten.

„Joa, wer bitt schee soanst?“, gab dieser die Frage genervt zurück.

„Danke, dass Sie uns verständigt und hier gewartet haben, Herr Gruber.“

„Bassd scho!“

Die Beamten stiegen in den Trichter hinab, zogen Herrn Gruber hoch an den Rand und baten ihn an Ort und Stelle zu bleiben, um keine weiteren Spuren zu verursachen.

„Und leinen Sie Ihren Hund bitte an!“ Verständlich, denn der befand sich immer noch mittendrin in dem Knochengebilde und verwechselte es offenbar mit der Feinkostabteilung von Fressnapf. Als die Rufe und Pfiffe von Herrn Gruber den Hund nicht bewegten, sein Revier zu verlassen, half nur ein Schuss in die Luft aus der polizeilichen Dienstwaffe. Und schon verschwand er wie vom Blitz getroffen.

„Kruzifix, Herrschaften!“, hörte man Herrn Gruber in die ansonsten stille Natur rufen, bevor er das Fahrrad fallen ließ und seinem „Pauli“ nachrannte.

Die vier anwesenden Polizisten konnten sich jetzt ohne das Verteidigungsgehabe des Tieres ungefährdet der Fundstelle nähern und einen ersten Status erheben. Man kam schnell zu der Erkenntnis, dass es sich um die Überreste eines Homo sapiens handelte. Soweit so gut. Ihre mitgeführten Utensilien reichten aber nur zu einer oberflächlichen Untersuchung am Fundort und konnten keine konkreten Hinweise auf Identität oder Todesursache liefern. Da half es auch nicht, mit der Dienstwaffe im Laub zu stochern und die Gebeine freizulegen. Die sterblichen Überbleibsel bestanden definitiv nur noch aus blanken Knochen, die unversehrt schienen, aber keinen Hinweis auf die Person oder eine mögliche Todesursache würden geben können. Körpersekrete Fehlanzeige. DNA-trächtige Haare waren ebenfalls nicht vorhanden, da die Schädeldecke komplett fehlte. Wahrscheinlich war sie im Rahmen der Nahrungskette von den heimischen Tieren verschleppt und entweder verscharrt oder komplett abgenagt worden. Vielleicht aber hielt sich jemand den Skalp als Trophäe und er würde nie wieder auftauchen, weil er hauchdünn und transparent auf einen Rahmen gespannt wurde und an einer finsteren Kellerwand neben anderen Erinnerungstücken eines Massenmörders hing. Wer wusste das schon? Aber dieses Szenario stimmte bei weitem nicht mit der Schönheit der Natur und der trotz der Nähe zur Großstadt Köln eher dörfliche Umgebung überein. Man mochte es sich gar nicht erst vorstellen und machte kurzerhand einen Haken dran.

Für weitere Untersuchungen verwertbar schienen nur der noch am Knochen des Ringfingers der rechten Hand steckende Ehering, mit einem eingravierten Datum, und die Zahnprothese, die durch den geschlossenen Biss noch dort steckte, wo einmal Mund und Zahnfleisch den Kiefer umgeben hatten. Die entdeckten Stoffteile eines karierten Wollgemischs in unmittelbarer Nähe konnten zu den übrigen Fundstücken gehören, mussten sie aber nicht. Man ging nach den Untersuchungen vor Ort davon aus, dass die Person vermutlich weiblich war und durchaus eines natürlichen Todes gestorben sein konnte. Hier musste nicht zwingend ein Tötungsdelikt vorliegen. Wie gesagt, die Knochen waren unbeschädigt und wiesen keine Verletzungsmerkmale auf. Die Polizisten einigten sich auf Porz als Leichenfundort und einer der beiden Streifenwagen rückte über das holprige Gelände wieder Richtung Troisdorf in seine Heimatwache ab. Die Besatzung des anderen erklärte sich gegenüber dem Präsidium in Köln als zuständig und prüfte über das polizeiinterne Portal in einem mitgeführten iPad die Vermisstenfälle der vergangenen zehn Jahre.

Das System spuckte nichts Passendes aus. Alle abgängigen Personen aus der letzten Zeit waren längst gefunden worden, tot oder lebendig. Es war keine Vermisstenmeldung offen, sah man von einer 14-Jährigen aus Köln ab, die aus einem Heim verschwunden und seit einigen Tagen in der Einrichtung nicht mehr aufgetaucht war. Da sie das aber nicht zum ersten Mal getan hatte, wertete man das Fernbleiben mehr oder weniger als Ausflug und investierte nicht in ihre Suche, sondern hoffte auf die Mithilfe der Bevölkerung, die in solchen Fällen nicht untätig blieb und sehr aufmerksam war. Die Knochen vor ihnen lagen eindeutig länger hier, als das Mädchen vermisst wurde. Sehr viel länger. Und so verzichtete man darauf, die Spurensicherung zu verständigen, skypte aber immerhin mit den Kollegen in Köln, um ihnen ein paar Livebilder zu übermitteln und sich dann kopfnickend gegenseitig darin zu bestärken, nicht zu viel Gedöns um die Sache zu machen. Schließlich sei Freitagnachmittag kurz vor Schichtwechsel und die meisten Verantwortlichen schon fast im Wochenende. Im Übrigen gäben die Knochen ohnehin kaum bis keine Analysemöglichkeiten mehr her. Erst recht nicht ließe sich der Todeszeitpunkt erheben. Nach kurzer Rücksprache bestellte man ganz einfach einen, den Tod bescheinigenden, Notarzt und dazu den nächstgelegenen Bestatter. Im Ergebnis attestierten alle Anwesenden lapidar einen natürlichen Tod. Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte.

Herr Gruber tauchte mit Pauli erst wieder auf, als die übrigen Anwesenden die Fundstücke und das Skelett in einen grauen, viel zu großen Leichensack mit Reißverschluss verfrachteten und diesem das Namensetikett „Heidi“ anhefteten. Er hinterließ wunschgemäß seine Daten und verabschiedete sich mit einem gut gemeinten „Grüß Gott“. Die beiden hatten die Tote längst verkraftet und verschwanden hinter der nächsten Abzweigung im Großen und Ganzen des Geländes, wo nach einem kurzen Augenblick der Leichenwagen um die Ecke bog. Der schwarze Kombi des Bestatters fuhr vor und ein dunkel gekleideter Fahrer lud den Sack um in einen Zinksarg und schob beides ins finstere Wageninnere. Die Scheiben der gediegenen Limousine waren mit weinrotem Samt verhangen und ließen keinen letzten Blick zu. Der Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts verlieh der ansonsten anonymen Zeremonie eine gewisse Ehre und er stieg mit Würde und großem Respekt vor dem Tod in den Wagen. Das war schließlich das Mindeste, was er einem verstorbenen Menschen auf seiner finalen Reise mitgeben konnte. Erst recht auf seinem direktem Weg in die Arme des Teufels. In den Glutofen, der in diesem Fall schon am Folgetag auf das, was vom Leben übrig geblieben war, wartete.

Die gefliesten Räume beim Bestatter waren eine eigentlich überflüssige Zwischenstation, wo üblicherweise Leichen umgebettet und nett zurechtgemacht in einen Holzsarg verfrachtet wurden. Im Fall von „Heidi“ brauchte man das nicht, denn Aufhübschen war weder nötig, geschweige denn möglich. Wo sie aber nun so vor ihm lag, führte der erfahrene Leichenbeschauer des Bestattungshauses einige standardisierte Untersuchungen durch und stellte ebenfalls keine Schädigungen an den Knochen fest. Da sie komplett frei von menschlichen Rückständen waren, nahm er an, dass das Skelett seit einigen Jahren dort gelegen haben musste. Unterschiedliche Laubrückstände sprachen ebenfalls dafür. Über die Fleisch- und Fettreste sowie die Muskelfasern hatten sich, seinen Angaben zur Folge, im Laufe der Zeit heimische Tiere – höchstwahrscheinlich Wildschweine, die als Allesfresser und ihrem Überlebenstrieb folgend auch gerne Aas verspeisten – vor deren endgültiger Verwesung hergemacht. Der Rest war in der biologischen Kette einfach nur verwest. Hinweise auf die Todesursache waren naturgemäß wegen der vermutlich langen Liegedauer und ohne vorhandene Gewebeteile nicht mehr zu finden. Die Beckenknochen und die Hände ließen auf das Skelett einer Frau schließen, der Zustand und die Beschaffenheit der verbliebenen Zähne, auf ein Alter jenseits der 55. Etwas konkreter würde man es zwar anhand einer Analyse der Handwurzelknochen feststellen können, aber so genau wollte es ja offensichtlich niemand wissen. Für ihn war schließlich ebenfalls Freitagnachmittag und solange niemand mehr in seinem Einzugsgebiet beabsichtigte zu sterben, stand auch sein Wochenende unmittelbar bevor. Also sah er von weiteren Untersuchungen ab und erhob nur die Fakten. Neben der Schädeldecke und deren Rückseite fehlten ein paar Rippen und die linke Schulter. Abschließend, und weil er es glauben wollte, trug er in sein vor ihm liegendes Formular „natürlicher Tod“ ein und unterstrich damit die Fehleinschätzung der Polizei und die des Notarztes. Eine fatale Kettenreaktion.

So geschah, was geschehen musste. Der Fund landete am Samstag im Krematorium in Mechernich, wurde verbrannt und anonym auf Kosten der Stadt Köln auf Melaten bestattet. Mangels brauchbarer Daten und ohne Vorlage einer Vermisstenmeldung, würde es für das Ordnungsamt auch im Nachhinein schwierig werden, nach Hinterbliebenen zu suchen, um sich die entstandenen, nicht unerheblichen Kosten zurückzuholen und der Toten einen Namen zu geben. Immerhin waren Gebühren in Höhe von 4.700 Euro inklusive Sarg entstanden, die sich unter Umständen nach Ablauf einer Frist mit ihrem teuren Ehering verrechnen lassen würden. Der Ring, ihre Zahnprothese, sowie die nicht definitiv ihr zugeordneten Kleiderfetzen, landeten in einem kleinen Plastikbeutel in den Asservaten des Beerdigungsinstituts. Der Bestatter würde sie mit der Rechnung seiner Auslagen der Stadt Köln zur Verfügung stellen. Was auch immer sie damit anstellen würden – für ihn war der Fall damit abgeschlossen.

Als man wenige Tage danach Teile des Schädels und den kläglichen Rest einer struppigen Frisur in der Wahner Heide fand, kam Dynamik in den Fall und die Kripo wurde informiert. Die Meldung landete im Polizeipräsidium Köln und dort auf dem Schreibtisch von Sara Lange. Sie war seit zwei Monaten als Assistentin im Dezernat XI beschäftigt, das unter anderem in Fällen mit ungeklärten Todesumständen ermittelte.

Sperrgebiet!

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