Читать книгу Sperrgebiet! - Susanne Klein - Страница 24
ACHTZEHN
ОглавлениеDie Sonne weckte mich am nächsten Morgen, als sich ihre Strahlen durch die kleinen Löcher der Rollläden quetschten und kitzelnd in meine Nase eindrangen. Der folgende Niesanfall kam einem Wecker gleich und ließ mich innerhalb von Sekunden senkrecht im Bett sitzen. 07.13 Uhr leuchteten mich die roten Ziffern vorwurfsvoll an und mahnten mich, nicht wieder einzuschlafen. Auf dem Bett verteilt lagen mein Handy, mein iPad und verschiedene Unterlagen aus unseren Akten, die ich mir kopiert und mit nach Hause genommen hatte. Mittendrin ich – genauso zerknittert, wie ein Teil der Dokumente. Da gestern Abend alle meine Kollegen im Einsatz waren, hatte ich mich in meinem Büro schnell einsam gefühlt. Und nachdem die Dämmerung eingesetzt hatte, hielt mich dort nichts mehr. Ich hatte eingepackt und mich zu Hause meiner Arbeit gewidmet. Darüber war ich im Laufe der Nacht offensichtlich eingeschlafen. Nicht nur ich, sondern auch die Unterlagen, auf denen ich mich zum Teil breitgemacht hatte, sahen ziemlich mitgenommen aus. Ihre Falten hatten sich in mein Gesicht gezeichnet, und umgekehrt. Bis ich los musste, war noch genügend Zeit, meine mit ein wenig Hyaluron aus der Tube zu glätten und mittels Frühsport sämtliche Lebensgeister zu aktivieren. Ich entschied mich zu einer spontanen Joggingrunde und sprang, so wie ich war, in meine Sportsachen. Auf dem Weg in die Küche schlüpfte ich in meine fast neuen Laufschuhe und holte mir eine kleine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Mein Smartphone nahm ich mit, um mich mit Musik von der sportlichen Anstrengung auf nüchternen Magen abzulenken und die Uhrzeit im Auge zu behalten. Unterwegs machte ich einen Stopp am Sportstudio, um zu schauen, wann es heute öffnen würde. Wie sich herausstellte, um 10.00 Uhr. Also würde ich erst ins Büro fahren und von dort aus anrufen, um einen Termin mit Herrn Neyer zu vereinbaren. Ich erreichte ihn erst am späten Vormittag und machte mich gegen 11.30 Uhr wieder auf den Weg, um ihn um 12.00 Uhr in seinem Sportclub zu treffen. Dann sei dort in der Regel am wenigsten los und er könnte sich etwas Zeit für mich nehmen, meinte er. Wie schön.
„Halloooo, Frau Lange. Holla, so hatte ich Sie mir gar nicht vorgestellt!!“, begrüßte er mich.
Seine Bemerkung war so plakativ, dass ich innerlich meine Augen verdrehte und nach außen so tat, als hätte er nichts gesagt.
„Guten Tag, Herr Neyer. Ich komme von der Kriminalpolizei Köln und arbeite für das Dezernat XI. Ich bin hier, weil wir Ihre Hilfe benötigen. Wir haben die sterblichen Überreste einer weiblichen Person in der Wahner Heide gefunden.“
Genau genommen waren es ja zwei – aber das verschwieg ich ihm noch. Hierbei könnte das Täterwissen in weiteren Vernehmungen eine wesentliche Rolle spielen, hatte mir Andreas eingebläut. Jetzt bloß nichts vermasseln.
„Sie entspricht im Wesentlichen der Beschreibung von Lena Grimm und ist vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen“, klärte ich ihn auf und fuhr fort: „Wir möchten Sie bitten, noch heute aufs Präsidium zu kommen, um eine Identifizierung vorzunehmen oder im Umkehrschluss eben auszuschließen, dass es Frau Grimm ist.“
Er grinste unverschämt und der Situation in keiner Weise angemessen.
„Das mache ich gerne, Frau Lange, wenn Sie mir auch einen Gefallen tun und mit mir danach zum Essen ausgehen, damit sich die Fahrt nach Köln für mich auch lohnt.“
Jetzt verdrehte ich sichtbar die Augen in alle Richtungen und strengte mich nicht mehr an, meine angewiderte Haltung ihm gegenüber einigermaßen zu verbergen.
„Das tue ich ganz sicher nicht. Also lassen Sie das bitte, Herr Neyer.“ Ich war erstaunt über meine autoritäre Haltung und legte eine Pause ein, damit die Peinlichkeit auf ihn wirken konnte. „Hier ist unsere Adresse. Ich gehe davon aus, dass Sie um 17.00 Uhr dort sein werden – ansonsten müssten wir Sie vorladen.“ Oh Gott, stimmte das überhaupt? Ich sollte mich mit meinen Äußerungen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, sonst musste ich nachher doch noch mit ihm ausgehen – als eine Art Schweigegeld seinerseits. Bitte nein!
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und verließ das Studio. Dieser aufgeblasene Widerling. Mir war jetzt schon klar, dass ich auf ein Wiedersehen mit dem Typen gut verzichten konnte und hoffte, dass einer meiner beiden Chefs mit Herrn Neyer in die Kühlkammer gehen würde, wo Lena Grimm bei zwei Grad bis zur Freigabe der Leiche gekühlt gehalten wurde.
Als ich in Köln ankam, lief bereits die erste Pressekonferenz zu dem aktuellen Fall und unser diensthabender Pressesprecher informierte die vier anwesenden Journalisten der lokalen Zeitungen über den Fund der Leiche. Ich blieb im Eingang stehen und hörte zu:
„Wir stehen erst am Anfang unserer Arbeit und hoffen, dass wir in den nächsten Tagen mehr Informationen liefern können, als aktuell. Die Tote konnte noch nicht eindeutig identifiziert werden. Wir versuchen diese aber schnellstmöglich herbeizuführen und gehen davon aus, dass uns eine Person aus ihrem Umfeld hierbei unterstützen kann. Ich bin zuversichtlich, dass wir noch heute einen Namen veröffentlichen können.“
„Handelt es sich bei dieser Person um einen Tatverdächtigen?“, wollte einer der Journalisten wissen.
Der Pressesprecher schaute um Rat suchend zu Andreas, der sein Mikrofon nervös richtete und meinte: „Nein, wohl eher nicht.“
Ich wandte mich für einen Moment vom Geschehen ab, weil mein Handy brummte und ich den vernichtenden Blick unseres Pressesprechers erntete, bevor ich die Stummtaste drücken konnte. Die Mailbox würde ich später abhören. Die Versammlung dauerte alles in allem nicht länger als sechs Minuten, weil niemand weitere Fragen hatte und nur ein vorgefertigter Text verlesen wurde, der den Teilnehmern offensichtlich für ihre eigene Berichterstattung genügte. Der Einfachheit halber und um Offenheit zu dokumentieren, stellte unsere Presseabteilung den Kurzbericht als PDF-Datei auch auf unsere Internetseite. Seit der besagten Silvesternacht im vergangenen Jahr gaben wir ständig und beinahe unaufgefordert Informationen heraus. Ich hatte den Rest der Pressekonferenz stehend vom Türeingang aus weiterverfolgt und wartete auf meine Kollegen, um sie über meinen Besuch im Fitnessstudio und den seltsamen Herrn Neyer zu informieren.
„Sara, wenn er hier ist, bringst Du ihn bitte in unseren kleinen Verhörraum und unterhältst Dich ein paar Minuten belanglos mit ihm. Danach gehst Du raus und lässt ihn alleine. Wir beobachten ihn währenddessen von hier aus.“
Was wollten die beiden damit bezwecken?, dachte ich kurz, aber bevor ich die Frage aussprechen konnte, waren sie schon wieder aus dem Pressesaal verschwunden. Ich eilte hinterher, um im Aufzug noch ein paar Informationen zu erhaschen.
„Wir rufen gleich die Kollegen zusammen und gehen alles gemeinsam durch. Anschließend müsste der Einsatzplan fürs Wochenende erstellt werden“, sagte Andreas. „Sara, machst Du bitte eine Übersicht, wer wann Dienst hat und wen wir wie einteilen können? Wir brauchen jede Kraft. Jede!“ Gerade als ich die beiden fragen wollte, ob wir zusammen essen gehen, öffnete sich die Fahrstuhltür und sie ging im nächsten Augenblick auch schon wieder zu. Ich blieb allein und mit meinen Fragen zurück. Also machte ich mich ohne meine Kollegen auf den Weg in die Kantine und aß einen üppigen grünen Salat mit Thunfisch. Auf dem Rückweg hörte ich meine Mailbox ab. Den Anruf von eben hatte ich beinahe schon wieder vergessen. Es sprach Herr Neyer, der sich für sein Verhalten am Vormittag entschuldigte und mir mitteilte, dass er pünktlich zum Termin in Köln sein würde. Gut so.
Erleichtert schaute ich in der Pathologie vorbei, in der Hoffnung, Carlo zu treffen und vielleicht sogar schon den vorläufigen Obduktionsbericht mitzunehmen. Carlo war nicht zu sehen, aber sein Kollege, Stefan Oberste, überließ mir zunächst das elf Seiten umfassende Statement über den aktuellen Fund in einem nicht verschlossenen Umschlag, auf dem „Streng vertraulich“ vermerkt war. Wie paradox. Er bat mich, einen Augenblick zu warten, weil ich ihm die Entgegennahme noch quittieren müsse. Während er die dafür notwendige Bescheinigung holte, konnte ich nicht widerstehen und warf noch vor Ort einen heimlichen Blick ins Innere der Akte. Das Wichtigste versuchte ich mir einzuprägen. Aber gerade als ich die Hinweise auf die Todesursache gefunden hatte, kam Stefan Oberste wieder und erbat den Umschlag von mir zurück.
„Es tut mir leid. Ich darf Ihnen den Bericht nicht aushändigen. Der Chef meint, der Empfänger des Dokumentes muss einen polizeilichen Dienstgrad nachweisen können oder sich wenigstens in einer Ausbildung zum Polizeibeamten befinden.“
Wollte er mich verarschen? Das war ja kaum zu glauben! So viel Sturheit hatte ich Carlo gar nicht zugetraut. Oder war das tatsächlich eine Vorschrift? Ehrlich gesagt, kannte ich die Regel nicht. Da ich es nicht besser wusste, reichte ich ihm den Umschlag zurück. Ich ärgerte mich mehr, dass Carlo sich nicht einmal bemüht hatte, für diese Information persönlich aus seinem Büro zu kommen. Es kränkte mich und ließ mich an meiner Gefühlslage leise zweifeln. Ich wollte mich auf keinen Fall wieder in solch einen Macho verlieben, der seine Macht über mich und meine Gefühle ausüben wollte. Lieber würde ich das Ganze im Keim ersticken und im Zweifel für den Rest meines Lebens Single bleiben. Ich schüttelte mich und die Gedanken ab. Sollte er wirklich Spielchen mit mir spielen wollen, sollte er gar nicht so viel Raum dafür bekommen. Also Blick nach vorne und das Augenmerk auf das Wesentliche richten, nämlich die beiden toten Frauen.
Ein paar Fakten des Berichts hatte ich versucht, mir zu merken. Geschrieben stand, dass die jetzt gefundene Leiche zwar minimale Missbrauchsspuren aufwies, das Opfer aber weder vor, noch nach seinem Versterben vergewaltigt worden war. Vom Rest verstand ich nicht viel, geschweige denn, konnte ich mit den lateinischen Begriffen etwas anfangen. Fachchinesisch halt. Manchmal fragte ich mich, wie man mich mit so wenigen kriminalistischen Grundlagen eingestellt haben konnte. Der einzige Bezug, den ich zu Recht und Gesetz herleiten konnte, war meine Ausbildung zur Anwaltsgehilfin, die ich vor fast 25 Jahren absolviert hatte. Einiges, wenn nicht sogar das meiste von dem, was ich mal mühsam gelernt hatte, dürfte demnach überholt sein oder ich es ohnehin vergessen haben. Aber meine Neugierde für diesen Berufszweig hatte meinen Ehrgeiz entwickelt und vorangetrieben, sodass ich heute hier saß. Und zumindest ich war mir sicher, meinen Weg zu machen. Ständig gingen mir Szenarien durch den Kopf, wie ich in meiner imaginären Welt zur Aufklärung beitragen würde. Ein wenig naiver Größenwahn schwang wohl immer mit und trieb mich an.