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Die Erkenntnisse aus dem NSU-Prozess
ОглавлениеJe nachdem, wie man den Scheinwerfer in diesem Prozess ausrichtete, konnte man sehen, wie der Staat, der behauptet, für die Sicherheit seiner Bürger sorgen zu können, blind war gegenüber dem Terror von rechts. Tino Brandt, ein V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes, hatte die rechte Szene finanziert und ermuntert, viele andere V-Leute hatten in der Szene mitgemischt. Doch Verfassungsschutz, Polizei und Justiz erkannten trotz ihrer Quellen nicht, was sich da zusammenbraute.
Der Prozess hat gezeigt, dass sich viele Vertreter aus Polizei und Verfassungsschutz bis heute damit schwertun, sich und anderen ihr Versagen einzugestehen. Ein Polizist lobte sich, wie freundlich er mit einer Opferfamilie Tee getrunken hatte und erzählte erst auf Nachfrage, dass diese Familie gleichzeitig abgehört wurde. Ein Ermittler erklärte zur Frage, warum die Polizei so lange gegen die Familien der Opfer ermittelt und alle Hinweise auf einen rechtsextremistischen Ursprung der Taten ignoriert hatte, ungerührt: Man solle doch nicht so tun, als wenn es keine türkische Mafia gäbe. Polizeizeugen sagten vor Gericht immer wieder, sie selbst hätten alles richtig gemacht, als sie allein die Angehörigen der türkischstämmigen Opfer für verdächtig hielten.
Der Prozess hat vorgeführt, wie Rechtsradikale immer noch verniedlicht werden – wie schon seit den 1990er Jahren, als der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf sagte, die Menschen in Sachsen seien »immun gegen Rechtsextremismus«. In einer paternalistischen Geste taten viele West-Politiker damals das offen zur Schau getragene rechtsradikale Gedankengut in den neuen Ländern als Kinderei ab, die sich schon auswachsen werde. Bis heute verharmlost die Gesellschaft rechte Übergriffe als Dumme-Jungs-Streiche und redet rassistische Morde als Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten klein. Erst wenn, wie in Dresden, der Rassismus die Touristenzahlen dezimiert, wird die antidemokratische Haltung weiter Kreise der Bevölkerung als Problem wahrgenommen.
Im Prozess konnte man sehen, wie die Helfer und Sympathisanten des NSU noch immer eine verschworene Gemeinschaft bilden. Es traten alte Freunde von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vor Gericht auf, die mit den dreien über Gewalt geredet, fremdenfeindliche Straftaten vorbereitet und begangen, ihnen beim Untertauchen geholfen hatten. Doch vor Gericht konnten sie sich angeblich an nichts mehr erinnern.
Im Prozess wurde klar, dass all die Menschen im Umfeld des NSU – die Nachbarn, die Freundinnen, der Hausmeister – nichts bemerkt haben wollten vom Treiben der Bande, aber auch von all dem rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Gedankengut, das in Ostdeutschland nach der Wende verbreitet und offen zur Schau gestellt wurde. Alles sei ganz normal gewesen, berichteten die Zeugen vor Gericht. Es war für sie normal, dass der Ehemann auf seinem Bauch »Skinhead« tätowiert hat. Es war für sie normal, dass der Mann der Nachbarin auf seinem Facebook-Account das Gedicht stehen hatte: »Der Ali hat Kohle, der Hassan hat Drogen, wir Deutschen zahlen und werden betrogen.« Nein, deswegen seien sie doch nicht rechtsradikal, sagte die Nachbarin. Auch Beate Zschäpe sei »ganz normal« gewesen. »So wie alle.« Die vietnamesische Schwägerin eines Bewohners traute sich dann irgendwann nicht mehr ins Treppenhaus, das an der Wohnung von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos vorbeiführte.
Vor Gericht wurde nicht nur der Werdegang der Angeklagten seziert, da wurden die Biographien von Unternehmern aus Chemnitz, von Personalsachbearbeitern aus München, Baggerführern aus Jena, Handwerkern aus Zwickau erhellt, vermeintlich unbescholtene Bürger – bis hinter der wohlanständigen Fassade ihre braune Vergangenheit und ihre Gegenwart als Demokratie-Verächter hervorblickten. Man sah, aus welchem Reservoir sich Gruppen wie Pegida und Parteien wie die rechte AfD ihre Anhänger schöpfen.
Man konnte aber auch erkennen, dass es Menschen gibt, die sich trotz ihrer Verstrickung aus der Szene lösten wie der Angeklagte Carsten Schultze, der gestanden hat, dem NSU die Tatwaffe für neun Morde überbracht zu haben, aber dann mit der rechten Szene brach, sein Coming-Out hatte und ein neues Leben anfing: Er studierte Sozialpädagogik und arbeitete in Düsseldorf bei der Aidshilfe. Vor Gericht würgte er Stück für Stück seiner Erinnerungen heraus und belastete sich selbst schwer. Als ihm die Familie eines Getöteten im Gerichtssaal vergab, brach er in Tränen aus.
In diesem Prozess schieben sich verschiedene Schichten übereinander – all die Fehler, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung gemacht worden sind. Die Einsamkeit der Jugendlichen, deren Eltern mit der Wende so viel zu tun hatten, dass sie keine Zeit mehr hatten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die Kinder, die dann gegen die Eltern revoltierten – mit der größtmöglichen Provokation, dem Bekenntnis zum Rechtsradikalismus. Vieles kam zusammen: die bröckelnden Autoritäten der DDR, deren frühere Volkspolizisten von den Jungen nur noch mit Spott bedacht wurden. Die West-Importe, die die Behörden in den neuen Bundesländern aufbauen sollten und doch oft nur in den Osten weggelobt worden waren. Die Verunsicherung in den Behörden, was denn nun noch galt und was nicht mehr. Die Nachsicht der Justiz gegenüber den jungen Leuten, die sich doch erst finden mussten in der neuen Welt und die doch klare Ansagen gebraucht hätten. Und all jene Lokalpolitiker, die Rechtsradikale nie bei sich im Ort entdeckten, sondern höchstens im Nachbardorf. Aber dort ging es sie ja nichts an.